Was für Menschen stecken hinter dem Label “Flüchtling”? Wer will es wissen? Kritik am Orientalismus

Gesellschaft

19. September 2016

Kaum ein Tag vergeht, an dem ein “Flüchtling” nicht den Titel in irgendeiner Zeitung schmückt. Doch wer oder was ist eigentlich ein Flüchtling? Und ist die ganze Idee des Flüchtlings nicht ein Produkt des Orientalismus? Autorin Kim Ly Lam übt Kritik.

Flüchtlinge in Slowenien im Herbst 2015.
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Flüchtlinge in Slowenien im Herbst 2015. Foto: Robert Cotič (CC BY 3.0 unported - cropped)

19. September 2016
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Was ist ein Flüchtling? Oder lassen Sie mich die Frage anders formulieren: Wer ist ein Flüchtling? Über die vergangenen Jahre ist der Begriff des Flüchtlings zu einem zentralen Schlagwort der Medien gewachsen. Und dennoch wirkt die Thematik komplex, zu komplex, um sie zu vereinfachen und zu beurteilen.

Fast betäubt fühlt man sich inmitten der zahlreichen Informationsströme; sie überfluten die Reize, überfordern einige Bürger. Und obwohl wir uns ständig mit dem Thema „Flüchtling“ beschäftigen, begegnen wir trotzdem nicht jenem Flüchtling, der wahren Person, die sich hinter dem Begriff verbirgt.

Stattdessen reduziert man die im Heimatland diskriminierte Familienmutter Mihaela zu einer Abstraktion, oder den jungen Gabriel, der die Bürde zu tragen hat, alleine aufzubrechen, um die ganze Familie in Nigeria durchzubringen. Und was ist mit der syrischen Fida, die ihr ungeborenes Kind während der gefährlichen Flucht über das Mittelmeer verloren hat?

Die „Krise“

Gehen wir erst einmal von der allgemeinen Problematik der Flüchtlingsdebatte aus, bevor wir uns dem Detailproblem des verallgemeinernden Flüchtlingsbegriffs nähern. Regelmässig durchstreifen unsere Augen die zahlreichen Artikel zu diesem Thema und generell ist man der Debatte dauerhaft ausgesetzt, wirkt sie nahezu omnipräsent. Mit einer konkreten Haltung zur Flüchtlingspolitik wird Wahlkampf betrieben, Parteien entwickeln unterschiedliche Strategien, um Vertrauen zu wecken. Letzteres ist fundamental, denn in einer Zeit der neuen Herausforderungen, die nicht selten dramatisch als „Krise“ betitelt wird, wächst Unsicherheit, Angst und damit auch Misstrauen.

Ein Misstrauen, das den Populisten in die Hände spielt: Seit langem hatte es nicht so viele Protestwahlen gegeben und der Aufstieg rechtsnaher Parteien ist beängstigend und mahnend. Dass traditionelle Parteien wie die Union und die SPD zunehmend in die politische Mitte rücken, verstärkt die Situation. Und so lockt die AfD mit ihrer propagierten Alternative als einzige Zweitoption, ein demokratisches Debakel, vor dem die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe im Jahr 2000 bereits warnte.

Gefährlich: Nicht selten definiert die Partei die hilfesuchenden Menschen aus dem Ausland als Kern der Krise. Schlägt man den Krisenbegriff im Politiklexikon der Bundeszentrale für politische Bildung auf, wird er wie folgt beschrieben: “[griech.] Krise bezeichnet eine über einen gewissen (längeren) Zeitraum anhaltende massive Störung des gesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen Systems. Krisen bergen gleichzeitig auch die Chance zur (aktiv zu suchenden qualitativen) Verbesserung.”

Nun ist zu untersuchen, ob es die Menschen sind, die das deutsche System stören, oder die eigentliche Störung vielmehr unsere Reaktion auf diese Menschen ist. Wenn eine Krise als Chance wahrgenommen werden kann, ist der erste Schritt die Selbstkritik des Systems. Welche Ressourcen fehlen? Welche Kompetenzen sind nicht genügend ausgebaut? Wie gelingt Integration? Selbstverständlich besitzt die Belastbarkeit des Systems eine Obergrenze und Schwierigkeiten sollte nicht naiv-dickköpfig verschwiegen werden.

Dennoch ist es problematisch, einen Menschen und sein einfaches Dasein, seine Existenz, mit einer Störung gleichzusetzen. Viel zu oft wurde dies in der Vergangenheit getan, und viel zu oft erwies sich dieser Schritt als fatal, man schaue allein auf das Ausmass rassistisch-faschistischer Kampagnen. Sollte man den Anstieg an Asylanträgen trotzdem problematisieren wollen, gilt: Ein Symptom kann nicht bekämpft werden, solange die Wurzel dabei ausser Acht gelassen wird. Und so wirkt der Kommentar, der Flüchtling solle einfach in seinem Land bleiben, ignorant im Angesicht der Ursachen und politisch-strukturellen Probleme, die ihn zu einer solch gefährlichen Flucht veranlassen.

Wer hat zu richten?

Was besonders an meinem Seelenfrieden zwickt, ist die vereinfachte Strategie, mit der Populisten und Rechtsradikale ihre angeblichen Lösungsansätze bewerben. Als Sündenbock hält nämlich der Fremde hin, der Aussenstehende, der die geschlossene Gemeinschaft gefährde. Ob sie in einer globalisierten Welt tatsächlich so geschlossen ist, kann in Frage gestellt werden, ebenso wie die Tatsache, dass wir uns doch ebenfalls das Recht nehmen, in fremde Kulturen und Länder einzudringen.

Sei es in Form von Urlaub, Arbeit, Auslandssemestern oder Freiwilligendiensten; der westliche Bürger besteht auf seinen Anspruch auf Austausch und Integration, und so lässt das Verwehren eben dieser Erfahrung für Menschen aus dem Osten und Süden Parallelen zum ehemaligen Kolonialismus anmuten. Dazu kommt, dass dieses Argument immer noch unberücksichtigt lässt, was eine Flucht von einem Arbeitsaufenthalt unterscheidet: die zwingende Notwendigkeit, all das, was man Heim und Kultur nennt, hinter sich zu lassen, um zu überleben. Dies ist von einer freien Entscheidung zu differenzieren, verliert der flüchtende Mensch schliesslich jegliche Entscheidungsgewalt, wenn ihn äussere Umstände zu der Flucht zwingen und die Wahloptionen beschränken.

Dazu zählen nicht nur Krieg und Verfolgung, sondern auch Arbeitslosigkeit und Hunger, insofern sie die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse gefährden. Die rechtliche Situation von Wirtschaftsflüchtlingen ist daher besonders schwer zu beurteilen, sowie die Tatsache, dass wir als Profiteur vom Elend anderer – Schlagwörter sind u.a. Waffenexport, Cobalt, Altfleisch-Dumping – nicht in der eigentlichen Position zum Urteilen stehen.

Dennoch: Der Sündenbock-Ansatz ist eine simple und vor allem bequeme Erklärung, um Veränderung und mitmenschliche Verantwortung zu umgehen. Mit nacktem Zeigefinger und anderen Schuldigen lässt sich die eigene Schuld nun mal besser verdrängen. Und diese besitzen wir; man werfe allein einen Blick auf die zahlreichen deutschen Flüchtlinge, die im Zuge des zweiten Weltkrieges Obdacht und Zuflucht im Ausland erhalten haben.

Wenn ein simpler Begriff degradiert und dehumanisiert…

Alles in einem ist es eine prekäre Situation, die sich besonders dadurch auszeichnet, dass extreme Tendenzen zu Feindbildern führen. Und hier sind wir bei dem Detailproblem des Flüchtlingsbegriffs. Denn er ähnelt einer grossen Schublade, einem Käfig, in den man Millionen von Menschen hineinzwängt, um sie mit einem einzigen Stempel zu brandmarken.

Der Begriff des Flüchtlings entwickelt sich zunehmend zu einem Erweiterungsglied des Orientalismus; er verschleiert die Gesichter von Individuen, stülpt ihnen die leere Hülle unserer eigenen Vorannahmen über und stereotypisiert eine Vielfalt an Kulturen.

Folglich verlieren diese ihre Diversität und Einzigartigkeit, während der Beobachter und Nutzer dieses Begriffs, der westliche Bürger, eine eigene Überlegenheit schafft und geniesst. Denn er selbst hält sich für vielfältig und einzigartig, Werte, die er dem Flüchtling abgeschrieben hat. Diese Degradierung und Dehumanisierung der ihm fremden Menschen erhebt ihn in eine superiore Position, von der er auf die vereinheitlichte Masse hinabschaut. Bereits 1944 stellte der Kulturkritiker Theodor Adorno fest, dass Gleichheit und Vereinheitlichung als Methode genutzt werden könnten, um die Kontrolle über eine Masse individueller Menschen zu erlangen.

Rote Pille oder blaue Pille?

Nun kann man diese Problematik ignorieren, oder die rote Pille schlucken und sich der Wahrheit nähern. Ich habe meine Pille vergangenes Frühjahr erhalten, als ich zum ersten Mal ein vertieftes Gespräch mit einem Roma Pärchen aus Serbien geführt habe. Die Begegnung war lehrreich, vor allem aber real und wirklich, wie es kein gelesenes Wort und kein Zeitungsartikel hätten sein können.

Mitja und Suzanna sind Eltern, die ihre Heimat verlassen haben, um ihre Kinder vor Gewalt und Ausgrenzung zu beschützen, und sie haben mir von ihrem Leben erzählt. Denn in Serbien werden sie systematisch diskriminiert, als Zigeuner beschimpft und misshandelt. So war Mitjas Sohn bereits im jungen Alter schwer krank. Doch eine Krankenversicherung besitzt die Familie nicht und auch Ärzte und Schwestern verweigern die Behandlung.

Es kam schliesslich zu einem Vorfall, der ausschlaggebend war, all das hinter sich zu lassen; ein fremder Serbe, der Suzanna vor ihrem Heim überfällt und sie würgt, während er hassvoll droht, sie zu vergewaltigen. Als Mitja versucht seine Frau zu beschützen und auf den Eindringling einschlägt, wird die Polizei aufmerksam. Mitja wird in die Zelle gesperrt, der Serbe kommt frei, man glaube ihm schliesslich mehr als einem Roma. Und so entschliessen sich Mitja und Suzanna das Land zu verlassen, eine Heimat, die sie lieben, und eine, die sie nicht zurückliebt.

Roma und Sinti ziehen umher, das ist bekannt. Doch wenn Mitja von seinen Umzügen spricht, werden seine Augen dunkel und die Stimme schwer. Er wünscht sich ein zu Hause für die Familie, sagt er. Einen Ort, wo sie sicher sind und menschenwürdig behandelt werden. Schliesslich führten einige Roma und Sinti das nomadenähnliche Leben nicht freiwillig; sie würden gezwungen werden, mit jedem einzelnen Finger, der auf sie zeigt, jedem Schimpfwort, das ihren Kindern die Tränen in die Augen treibt und jedem einzelnen Stein, der ihnen gegen das Haus schlägt.

Wer bin ich nun, dass ich Mitja und Suzanna in eine Kategorie sperren könnte, um über sie zu urteilen? Wer ist ein Wirtschaftsflüchtling, dass ich ihn einen Wirtschaftsflüchtling nennen kann? Auf ihrem Papier begründet die Familie ihre Flucht unter anderem als ökonomisch, da in Serbien Roma und Sinti nicht als Verfolgte anerkannt werden. Doch hinter dem Zettel steckt mehr als ein „Wirtschaftsflüchtling“. Es ist eine Geschichte, ein Leben und eine Familie. Ihre Hoffnungen und Wünsche sind nicht so viel anders als unsere; und der Flüchtlingsbegriff kann und sollte nichts an dieser Tatsache ändern. Wem die Träume jedoch erfüllt werden, ist ein Privileg, das wir lernen sollten, zu teilen.

Kim Ly Lam
berlinergazette.de

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