Medien-Kritik Fernweh - Über die neue Münchner Anarchozeitung

Gesellschaft

3. April 2013

Es gibt gute Nachrichten. Die anarchistische Medienlandschaft ist um „Fernweh – anarchistische Strassenzeitung“ aus München reicher geworden. Und der Fundus der anarchistischen Theorie wurde um den redaktionellen Artikel „Bist du frei“ bereichert.

Fernweh - Über die neue Münchner Anarchozeitung.
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Fernweh - Über die neue Münchner Anarchozeitung. Foto: Michael Bueker (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

3. April 2013
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Korrektur
Soweit zu den guten Nachrichten. In die Sparte „nicht so gute Nachrichten“ muss leider der Inhalt des Textes verzeichnet werden. [1]

Dort steht: "Wenn ich die Grundlagen meines Alltags und unseres Zusammenlebens umkrempeln und selbst lenken will, kann das niemand durch irgendeine Art von Politik übernehmen und kein_e Politiker_in kann mir bei dieser Änderung helfen. Abgesehen davon, dass ich diesen Kampf also sowieso selbst führen muss, ist Politik an sich eine entfremdete und langweilige Sache. Politik heisst meiner Meinung nach, dass irgendwelche Menschen die nichts mit mir zu tun haben, die ich meistens noch nicht ein einziges Mal in meinem Leben persönlich gesehen habe, geschweige denn mit ihnen geredet habe, über die Dinge die mein und unser Leben betreffen in irgendwelchen Treffen oder Parlamenten entscheiden. Da wir dann gezwungen sind diese Entscheidungen auch zu befolgen und unsere persönlichen Konflikte, gemeinsamen Entscheidungen oder Abmachungen zu übergehen oder in den Hintergrund zu drängen, spielt sich Politik immer getrennt von unserem täglichen Leben ab und nimmt uns so die Möglichkeit selbst über unsere Leben zu entscheiden.

Politik heisst uns zu kontrollieren, damit sich unsere Aktivitäten nicht von den Fesseln der Arbeit und Pflicht befreien. Für eine andere Welt zu kämpfen hat für mich also nichts mit Politik zu tun, es geht mir eher darum, alle Sachen, die mich daran hindern zu zerstören und nicht zu verändern oder abzuschaffen, denn das würde wieder heissen Politik zu machen. Die Verhältnisse die uns unterdrücken, durchdringen unser ganzes Dasein..."


Ab dem zweiten hier zitierten Satz wird es schräg. Man kann herrschende Politik für vieles kritisieren, aber „Langeweile“ ist ein seltsames Kriterium. Man kann durch Analyse der Verhältnisse zum Schluss gelangen, dass einige, sehr grundsätzliche Dinge sich nicht auf parlamentarischem Wege ändern lassen, aber es ist was ganz anderes, wenn man für Revolution ist, einfach weil man brennende Barrikaden (und eventuell damit verbundenes Blutvergiessen) lustiger findet als ewiges Verhandeln bei irgendwelchen Gremientagungen. Es gibt Radikalität, die nach dem Prinzip „so radikal wie die Wirklichkeit“ entsteht. Dies impliziert die analytische Auseinandersetzung mit eben dieser Wirklichkeit, also auch mit „langweiligen“ Strukturen. Und es gibt die revolutionäre Romantik. Beides sollte nicht durcheinander geworfen werden.

Es stimmt, dass in der parlamentarischen Demokratie Vertreter und Vertretene einander oft nicht kennen. Aber ist es ausgerechnet das, was daran zu kritisieren wäre? Denn dieses Problem lässt sich leicht beheben. Jeder Abgeordnete hat ein Büro in seinem Wahlkreis, da kann man hingehen und den Vertreter kennenlernen. Bloss was wird dadurch besser? Wenn ein Gesetz zu Ungunsten einzelner Bürger ausfällt, liegt es nicht daran, dass die zum Gesetze erlassen ermächtigten Abgeordneten die Betroffenen nicht kennen.

Wenn man nicht sein Leben in einer abgeschotteten Dorfgemeinschaft verbringen möchte (was für sehr viele Menschen keine attraktive Option ist), wird man in jeder Gesellschaftsform auf Menschen, die man nicht persönlich kennt angewiesen sein. Was das Problem an dieser „Entfremdung“ (was auch immer das für ein Ding das sein soll) sein mag, ist nicht klar. Arbeiter in riesigen Betrieben oder gar in ganzen Branchen beschliessen zu streiken - nicht weil die sich alle persönlich kennen und sympathisch finden, sondern weil sie ein gemeinsames Interesse sehen und es für so wichtig halten, dass sie unter Abstraktion von allen sonstigen Unterschieden in gemeinsame Aktion treten. Ein Protest gegen Abschiebung findet hoffentlich nicht nur dann statt, wenn die davon Bedrohten allen wohlbekannt und ursympathisch sind.

Politik kann es Freunden der revolutionären Unmittelbarkeit nie Recht machen, weil sie immer einer Vermittlung bedarf. Wenn man das ganze gesellschaftliche System umkrempeln will – und das eben nicht als Putschaktion von einigen ganz doll Entschlossenen und Unangepassten, sondern zusammen mit der Mehrheit, muss diese Mehrheit ja irgendwie überzeugt werden. Dabei können nicht alle sich gegenseitig kennen, jeder mit jedem befreundet sein. Es kann dabei auch schwer vermieden werden, dass man „persönliche Konflikte“ nicht in den Hintergrund drängt. Persönliche Zu- und Abneigungen sind keine gute Grundlage für das gesellschaftliche Zusammenleben. Was wäre besser, wenn ein Bäcker darauf achten wurde, dass seine Brötchen ja nicht von Leuten verzehrt werden, die er nicht mag? Oder wenn mitten in so formell-entfremdeten und angeblich vor allem deswegen bösen, bürgerlichen Rechtstaat ein Sachbearbeiter Sozialhilfe nach dem Prinzip verteilen wurde „wenn mag ich“? Oder will man eine Produktionsweise haben, bei der erst geschaut wird, ob ein Mensch sich durch persönliche Eigenschaften als würdig erwiesen hat, auch für seine Bedürfnisse etwas zu produzieren?

Arbeitsteilung, Planung und Organisation von komplizierten Produktionsabläufen kann sicherlich nicht komplett nach dem Lustprinzip geschehen, aber ohne all das wäre man die ganze Zeit der Natur und damit dem Mangel an allem möglichen ausgeliefert.

Ein anderer Punkt ist: wenn man eine Programm der Weltveränderung fährt, die z.B. Privateigentum abschaffen will, dann kollidieren die eigenen Interessen mit den Interessen derjenigen, die wollen, dass alles so bleibt, wie es ist. Sich gegen deren Interessen durchzusetzen impliziert auch solche (den Autoren des „Fernweh“-Textes verhasste) Dinge wie Kontrolle über deren Aktivitäten oder Entscheidungen über ihr alltägliches Leben, die ihnen eventuell nicht passen. Will beispielsweise Jemand weiterhin Immobilienbesitzer sein und irgendwelche Leute (die er bis dahin nicht mal gesehen hat) hindern ihn daran, dann ist das Zwang. Man kann nicht so tun, als wäre es das nicht – sonst ist es eine Mogelpackung: Freiheit ist unsere Freiheit den anderen unsere politische (jawohl, das ist dann politisch) Vorstellungen aufzudrücken, aber in der umgekehrten Variante ist es dann keine Freiheit. Die politischen Fragen werden unter tiefsinnigen“ Begriffen wie „Dasein“ und „Leben“ versteckt.

Hyman Roth

[1] http://fernweh.noblogs.org/texte/1-ausgabe/bist-du-frei