Suffizienz und das «Terroir-Prinzip» Die subversive Mafia des Genusses

Gesellschaft

27. Oktober 2014

Wenn das Örtliche global wird oder wie es die «Terroiristen» mit der Suffizienz halten: ein Spiel zwischen Sinn, Masse und Macht.

Das «Terroir-Prinzip» - Lokale Produkte aus der Region Saint-Jean-sur-Richelieu.
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Das «Terroir-Prinzip» - Lokale Produkte aus der Region Saint-Jean-sur-Richelieu. Foto: RSJR (PD)

27. Oktober 2014
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Was ist der Kern der Suffizienz? Nicht primär Entbehrung und Enthaltsamkeit! Vielmehr ist es die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Tuns. Dem eher Technischen von «Effizienz» und «Konsistenz» steht die Suffizienz unabdingbar als menschliche Dimension bzw. als gesellschaftlicher Such-, Lern- und Gestaltungsprozess zur Seite. Es geht darum, über das Ausmass – «Wieviel ist genug?» (DURNING 1992) – und über die Qualität des Handelns im Kontext von Wohlstand, Werten und Lebenssinn nachzudenken. «Das, was richtig, was angemessen ist; das, was gut tut» (Wuppertal Institut, LINZ 2004). Angesprochen sind nicht nur die Individuen auf der Ebene von persönlichem Verhalten, noch mehr die Wirtschaft sowie der Staat bzw. die Staatengemeinschaft.

«Suffizienz beginnt mit korrigierten Gewohnheiten, setzt sich fort in verändertem Nutzungsverhalten und reicht bis zu gewandelten Lebensstilen und Wirtschaftsweisen» (LINZ 2004). Soll sie als Strategie in die Breite wachsen, als vielfältiger Prozess, so kann sie nicht «von oben» verfügt werden. Sie muss sich aus «der Mitte der Gesellschaft entwickeln, als soziales Mehrheits-Lernen». In verschiedenen Milieus muss sie einsichtig werden. Wo könnte also das Epizentrum dieser Einsicht sein? Vielleicht liegt es in der Erkenntnis des Philosophen, dass Glück nicht das Wichtigste im Leben sei; man könne auch ohne leben, nicht aber ohne Sinn (Sloterdijk 2008). Sinn stelle sich ein, wenn wir einen Zusammenhang sehen. Diesen Zusammenhang zu erkennen, gebe einem Ziel die nötige Kraft, löse die Energie hin zum Handeln aus. Die These: Suffizentes Leben gründet also stark auf sinnstiftenden Zusammenhängen und auf Initiativen, die diese anschaulich darlegen. In der Folge werden stellvertretende empirische Beispiele vorgestellt.

Ein Weg: das «Terroir-Prinzip»

Enträumlicht sei sie, enthemmt agiere sie, sinnentleert wirke sie, die Globalisierung. Nicht nur. Es gibt beispielsweise Akteure – Winzer, Architekten, Käseveredler, Kreativwirtschafter oder Regionalentwickler –, die trotz oder gerade wegen der Globalisierung ihren Fokus auf die Talente, die eigentliche Essenz eines Ortes und seiner Menschen – das örtliche «Terroir» – richten. Mit dem Ziel, diese Talente nachhaltig in Wert zu setzen, sodass sich das Charakteristische und Einzigartige des Lokalen auch bei offenen Grenzen behaupten kann. Ich nenne diese Vorgehensart das «Terroir-Prinzip», sie, die Akteure, «Terroiristen». Ihrem Handeln füge ich das Bild «Berührt vom Ort die Welt erobern» hinzu (HELD 2006). Masse und Macht durch die «subversive Mafia des Genusses»

Die Orientierung an der Suffizienz muss wie gesagt im Alltag gelernt werden: vereinbar mit der «Ökonomie des täglichen Haushaltens» (auf den Ebenen Individuum, Wirtschaft, Staat), als gangbarer und aussichtsreicher Weg. Warum also den Lernprozess nicht dort ansetzen, wo's ums Geniessen des Lebens geht? Zum Beispiel beim Essen und Trinken, beim Kreislauf von der Produktion bis zum Konsum und zurück zur Produktion. Einer jener «Terroiristen» ist Christoph Künzli, Esswaren- und Weinhändler im Berner Oberland sowie Winzer in Boca im Nord-Piemont. Boca, ein «Terroir» für grossen Wein, das für immer verloren zu gehen schien. Künzli und seine Partner stemmten sich gegen die definitive Verbrachung dieser ökonomischen und kulturellen Ressource. Das Resultat: der örtlichen Kultur verpflichtete «Boca»-Weine, mit «gloKaler» Ausrichtung und mit subversivem Gehalt.

Dank dieser Reanimation eines grossen «Terroirs» gewinnt in der Region wieder Aufbruchstimmung Überhand über die Resignation. Denn die Wertschöpfung bleibt dank der Veredelung lokaler Ressourcen (Trauben, Weinkultur) vor Ort, und weil der regionale Markt zu klein für Qualitätsprodukte wie diese ist, wagte man sich mit dem «Boca-Terroir»-Produkt hinaus in den globalen Markt. «Act global, think local», bezeichnet diese «gloKale» Strategie Jeremy Rifkin (2004). Künzli erklärt: «Globalisierung hilft auch kleinen Nischen, gross zu sein.» Neben jener industriellen Globalisierung, die Qualitäten, Kulturen und lokale Ökonomien zum Verschwinden bringe, gebe es auch eine «Underground-Globalisierung». Weltweit finde man Gleichgesinnte – Produzenten, Händler, Kunden, Journalisten.

Ein globales Netzwerk von Leuten mit gleicher Haltung. Das Erstaunliche an dieser Strategie: Die globale Vernetzung fördert die Identifizierung mit dem eigentlichen Handeln in und mit dem eigenen «Terroir». Und sie stärkt das Vertrauen, mit etwas Originärem selbstbewusst und kraftvoll ins globale Wirken einzugreifen. Denn um nicht von Grossverteilern und internationalen Konzernen überrannt und verdrängt zu werden, brauche es dieses globale Netz der «subversiven Mafia des Genusses», die zu einer ökologischen, sozialen und kulturorientierten Produktion stehe. Wer nun solche Weine kauft und trinkt, und dabei um diese «gloKale» Strategie dahinter weiss, wird zum lernenden Mitwisser und beim wiederholten Konsum zum Komplizen dieser «Genuss-Mafia». So entstehen sich rückkoppelnde «Motiv-Koalitionen» (LINZ 2004).

Slow Food als weiteres Beispiel

Zu dieser «Terroir»-bezogenen «Mafia des Genusses» zählt auch Slow Food. Aus einem Verein, der sich anfangs um die piemontesische Ess- und Trinkkultur sorgte, ist eine Organisation mit heute 83'000 Mitgliedern in 122 Ländern und nationalen bzw. regionalen Basen geworden. Das Motto «buono» (gut), «pulito» (sauber, ökologisch verträglich) und «giusto» (fair, gerecht produziert) zeigt, wie über Jahre eine neue und systemische Motiv-Koalition wachsen konnte – mit impliziter Suffizienzorientierung. Was wäre wohl vor 20 Jahren im ökologisch wenig sensiblen Piemont geschehen, wenn man dort statt vom Essen und Trinken von der «strategìa di sufficienza» gesprochen hätte? Heute mischt sich Slow Food in die Bildungs-, Forschungs- und Handelspolitik ein. Schulprogramme sollen bei den Jüngsten, den künftigen Entscheidungsträgern, ansetzen, Geschmackserziehungs-Kurse die Erwachsenen sensibilisieren.

Die neu gegründete «Università delle Scienze Gastronomiche» soll der angestammten, gegenüber der Lebensmittelindustrie zu willfährigen und zu sektoriell denkenden Forschung im Ernährungsbereich einen ganzheitlichen Gegenentwurf entgegensetzen. Es gehe um ein neues Verhältnis zwischen Wissen und Genuss – «rapporto tra saperi e sapori» –, um die Idee, einen ganzen Kultur- und Umweltbestand in Verbindung mit der Gastronomie zu schützen, indem die lokalen Mikroökonomien neu belebt werden. Man spricht von «Ricreare l'economia» und dem Verbund von Essen und Freiheit, und lässt entsprechend politisches Handeln folgen: durch Einflussnahme auf die Welthandelspolitik oder durch «Terra Madre», wo alle zwei Jahre tausende von Vertretern von Lebensmittelgemeinschaften aus aller Welt ein gegenüber den dominanten Marktplayern subversives Austausch- und Aktions-Netzwerk formen.

Lifestyle of Health and Sustainability (LOHAS) als Empfänger und Treiber

Doch der Kreislauf aus Wissen, Produktion, Handel, Vertrieb benötigt auch den offenen Zugang zum Endkonsumenten und den Schutz dessen Selbstbestimmungsrecht auf (suffiziente) Produkte seiner Wahl. Ist dies sichergestellt – Vielfalt, Gesundheit und Gerechtigkeit im Lebensmittelbereich sind massiv in Gefahr –, so darf man auch optimistisch sein. Die «Geiz ist geil!»-Periode wird mittelfristig vom «Lifestyle of Health and Sustainability» (LOHAS) arg bedrängt. Man spricht vom schleichenden «Mental Shift» hin zu einem «substanziellen Wertewandel» (Zukunftsinstitut 2007).

In den USA und in Europa steigt der Anteil jener Leute, die das Leben geniessen und dennoch ihren Teil dazu beitragen wollen, dass die Lebensgrundlagen für alle erhalten bleiben. Die Integration von ökologischem und sozialem Bewusstsein in den individuellen Lebensablauf bzw. in die wirtschaftlichen und politischen Kreisläufe – Suffizienz! – wird kommen. Dieser Megatrend der «Neuen Ökologie» wird sich dank Megaproblemen wie dem Klimawandel erst noch richtig entwickeln. Aber auch dank Initiativen und kraftvollen Tuns aus der Mitte der Gesellschaft, wie die globalen, subversiven Netzwerke des Genusses. Trotz all der erkennbaren Oberflächlichkeit der aus dem Boden schiessenden «Öko-Chic»-Szene zeigt sich, dass der strategische Auftrag für «institutionelle Reformen für eine Politik der Nachhaltigkeit» (Minsch et al. 1998) immer offenkundiger und tragfähiger wird.

Thom Held

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.