Die Diskriminierung von Behinderten durch die Anwendung selektiver Reproduktionstechnologien Unerwünscht

Gesellschaft

17. September 2013

Die Bewegung gegen die Entwicklung neuer selektiver Fortpflanzungstechnologien hat in den 1990er Jahren eine breite öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Heute stellt sich die Situation anders dar: Die Bewegung ist weitestgehend aus dem allgemeinen Bewusstsein verschwunden und hat stark an Widerstandskraft eingebüsst.

Unerwünscht - die Anwendung selektiver Reproduktionstechnologien.
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Unerwünscht - die Anwendung selektiver Reproduktionstechnologien. Foto: Luis Argerich (CC BY 2.0 cropped)

17. September 2013
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Da aber ihre Kritik nicht an Aktualität und Relevanz verloren hat, lohnt es sich weiterhin, die Thematik über etablierte Argumentationen hinaus zu betrachten. In der öffentlichen Debatte sind derzeit insbesondere zwei entgegengesetzte Positionen zu erkennen. Während Befürworter_innen von Fortpflanzungstechnologien das Leid und das Recht der Eltern mit einer genetischen Veranlagung zur Vererbung bestimmter Behinderungen und Krankheiten in den Vordergrund stellen, argumentieren insbesondere im Christentum verortete Gegner_innen mit dem Status des Embryonen und seiner zu schützenden Menschenwürde.

Treffen diese weltanschaulich und ideologisch unterschiedlich geprägten Sichtweisen in der Diskussion aufeinander, ist, so zeigt es die Vergangenheit, kaum eine Einigung zu erwarten. In den Hintergrund tritt dabei oft eine Auseinandersetzung mit den Fragen, welche Vorstellungen von Gesellschaft, Gesundheit und Krankheit mit der vorgeburtlichen Diagnostik verknüpft sind und inwiefern die Anwendung dieser Diagnostik als bevölkerungspolitisches Instrument die Gleichberechtigung von Behinderten Ich habe mich bewusst für die Bezeichnung der_die Behinderte entschieden.

Die Absicht, mit der inzwischen geläufigen Bezeichnung „Menschen mit Behinderung“ nicht eine körperliche Zuschreibung, sondern die Eigenschaft des Mensch-Seins in den Vordergrund zu stellen, kann ich nachvollziehen. Dennoch betrachte ich die Betonung dieses Mensch-Seins zwiespältig, da sie die Selbstverständlichkeit eben dieser Eigenschaft anzuzweifeln scheint. Die Beschreibung „mit Behinderung“ oder auch „mit Beeinträchtigung“, welche Behinderung sprachlich als persönliche Eigenschaft darstellt, individualisiert das Phänomen Behinderung und blendet die gesellschaftliche Komponente aus. Die Bezeichnung der_die Behinderte hingegen kann zweideutig verstanden werden. So kann sie als Bezeichnung von Eigenschaften einer Person gelesen werden, aber auch als Beschreibung der gesellschaftlichen Zustände, in der sich die Person befindet. Ich benutze diese Bezeichnung als im Sinne von „der_die behindert wird“ (an Gleichberechtigung, Teilhabe etc.).

Darüber hinaus nutze ich, die aus einer behinderten Position spricht, diese Bezeichnung – analog zur Verwendung des Begriffs Krüppel innerhalb der Krüppelbewegung – als (Rück-)Aneignung eines als negativ konnotierte Zuschreibung benutzten Begriffes, die gesellschaftliche Missstände sprachlich aufdeckt und zudem eine positive Identifikation ermöglicht. Wird dem Thema in der öffentlichen Debatte Aufmerksamkeit geschenkt, so ist häufig von Kränkung und individueller Betroffenheit die Rede. Die Gefahr der Diskriminierung auf struktureller Ebene wird selten gesehen und noch seltener benannt.

Die Überwachung und Beeinflussung menschlicher Reproduktion stellt in Deutschland eine weit verbreitete Praxis dar. Vom Moment der Befruchtung bis hin zur Geburt erfolgt eine umfassende medizinische und diagnostische Begleitung der Schwangerschaft. Neben der tatsächlichen Verringerung gesundheitlicher Risiken der Schwangeren* wird das psychische Wohl der Frau* zum strategischen Argument für die Verhinderung von Behinderungen und Krankheiten beim Nachwuchs.

Hierzu stehen einerseits staatliche Instrumente zur Verfügung, wie beispielsweise die gesetzlich zugelassene Spätabtreibung aufgrund der sogenannten medizinischen Indikation oder auch die rechtlichen Regelungen, die die Anwendung vorgeburtlicher Diagnostik insbesondere bei Verdacht auf Behinderungen erleichtern. Andererseits gibt es zunehmend technische Möglichkeiten zur Verhinderung von Behinderungen. So kann bereits vor einer Schwangerschaft nach genetischen Prädispositionen gesucht oder Folsäure zur Vermeidung von Spina Bifida[1] eingenommen werden.

Die inzwischen einsetzbare In-Vitro-Fertilisation (Befruchtung der Eizelle ausserhalb des Körpers) verstärkt, neben den individuellen Vorteilen für kinderlose Menschen, mit jeder Anwendung zugleich Machttechniken, die das Ideal eines perfekten Lebens (re-)produzieren. So wird mit anschliessender Präimplantationsdiagnostik (PID) versucht, die Schwangerschaft der Kontrollier- und Beherrschbarkeit zuzuführen. Diese wird bei Verdacht auf genetisch bedingte Behinderungen an Embryonen in den ersten Tagen ihrer Entwicklung durchgeführt. Werden im Rahmen der Untersuchung genetische Veranlagungen für bestimmte Behinderungen oder Krankheiten entdeckt, sind die entsprechenden Embryonen vom Einsetzen in die Gebärmutter ausgeschlossen und werden in der Folge entsorgt. Die diagnostischen Ergebnisse in diesem Stadium stellen jedoch zumeist nur genetische Wahrscheinlichkeiten dar.

Die Überwachung der entstandenen Schwangerschaft erfolgt nun über Ultraschalluntersuchungen sowie bedarfsweise (ein Bedarf, welcher mit zunehmenden technischen Möglichkeiten und gesellschaftlichem Druck wächst) angebotene Verfahren zur gezielten Suche nach Behinderungen. So werden beispielsweise durch Fruchtwasseruntersuchungen, Nackentransparenzmessungen und einen neuen Bluttest[2] Hinweise auf das Vorliegen einer Behinderung des Fötus ermittelt.

Die so gewonnen geglaubten Erkenntnisse über den Zustand des Fötus führen nicht selten zur Beendigung der Entwicklung des Embryonen oder zum Abbruch der (unter Umständen bereits weit fortgeschrittenen) Schwangerschaft. So ist die Abtreibung über die 12. Schwangerschaftswoche hinaus möglich, wenn dadurch die »Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren« abgewendet werden kann. Diese sogenannte medizinische Indikation des §218a StGB stellt, aus der Perspektive der Selbstbestimmung der schwangeren Person betrachtet, eine Lockerung des Abtreibungsverbots dar. Problematisch dabei ist jedoch, dass diese in der Praxis häufig die gesetzliche Legitimierung für die Abtreibung als behindert diagnostizierter Föten darstellt.

Die sogenannte embryopathische Indikation, welche in der ehemaligen DDR bis 1972, in der BRD bis 1995 rechtlich verankert war, ermöglichte die (Spät-)Abtreibung aufgrund einer »schweren Schädigung« des Fötus. Zwar wurde dieser Teil des Gesetzes gestrichen – unter anderem aufgrund der eugenischen Argumentation. Dies hat jedoch nicht zur Folge, dass Abtreibungen nach der 12. Schwangerschaftswoche nicht mehr vorgenommen werden. Und so kann nun, um der medizinischen Indikation zu entsprechen, aufgrund einer zu erwartenden Behinderung des Kindes eine schwere psychische Beeinträchtigung der Schwangeren* geltend gemacht werden.

Körperliche Besonderheiten, deren Ausprägung keinen Einfluss auf die Lebensfähigkeit des entstehenden Menschen haben, werden zum Indikator, zur Begründung, durch die jeglicher Lebenswert abgesprochen werden kann. Das ist eine Praxis der Selektion. Dass diese Praxis und die ihr zugrunde liegenden Annahmen über Behinderung und Krankheit jedoch auch einen konkreten diskriminierenden Angriff gegenüber lebenden Behinderten darstellen, der weit über eine blosse Kränkung hinaus geht, wird oftmals bestritten.

Der personifizierten Angst das Schulbrot schmieren

In unserer zunehmend neoliberal ausgeformten Gesellschaft zählt das Streben nach Unabhängigkeit (oder dem Zustand, von dem angenommen wird, dem Wort zu entsprechen) sowie körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit zu den wichtigsten Zielen des Individuums. Es etabliert sich dabei ein gesamtgesellschaftlicher Diskurs, in dem die Ablehnung von Behinderung und Krankheit als zunehmend unangreifbarer Status quo erscheint.[3] Normalisierungsprozesse sind den meisten Menschen derart inhärent, dass sich ihre Enttarnung, geschweige denn ihre Entmachtung, schwierig gestaltet.

Die durch selektive pränataldiagnostische (PND) Praxis ausgeübte Diskriminierung von Behinderten wirkt dabei auf verschiedensten Ebenen sowie in indirekter als auch direkter Weise. Menschen, denen aufgrund bestimmter genetischer Eigenschaften die künstliche Befruchtung zur Vermeidung behinderten Nachwuchses, oder sogar eine Sterilisation nahe gelegt wird, erleben am eigenen Körper eine diskriminierende Fortpflanzungspolitik. Aber auch die gesellschaftliche Positionierung Behinderter, die nicht persönlich in selektive Reproduktionsentscheidungen verstrickt sind, wird durch die Ausübung, Begründung und Verteidigung dieser Praxis nachhaltig beeinflusst. Um dieser These nachzugehen, ist es sinnvoll, die Beweggründe näher zu beleuchten, die die Etablierung vorgeburtlicher Selektion ermöglichen.

Der PID und PND liegen medizinische, individualisierte Annahmen über Behinderung zugrunde. Behinderung dient als Gegenbild eines schwer zu greifenden, in seiner Deutung wandelbaren Zustands von Gesundheit, der das Orientierungsmass darstellt. Ausschliesslich aufgrund körperlicher und/oder genetischer Abweichungen von dieser Gesundheitsnorm wird Behinderung definiert. Sie wird dabei als diagnostisch feststellbare und unveränderliche Tatsache betrachtet, aus der eine Entscheidung über den Lebenswert des Fötus abgeleitet werden kann, ohne dass weitere Faktoren zu berücksichtigen wären.

Wird die Interaktion mit der Umwelt thematisiert, so geschieht das in erster Linie in Form von Leidzuschreibungen gegenüber der_dem Behinderten, der_die sich aufgrund ihrer individuellen Abweichung nicht in der Umwelt zurecht findet, oder gegenüber den Eltern, die mit der Sorge für ein behindertes Kind besondere, teils unzumutbare Anstrengungen erfahren würden.[4] Während die normierenden Bedingungen einer Umwelt, die sich an nichtbehinderten Lebensweisen orientieren, unhinterfragt bestätigt werden, bleibt Behinderung das Problem der »Abweichenden«, welches, wenn überhaupt, mit Anpassung sowie pädagogischer und medizinischer Behandlung zu bekämpfen sei. Diese Annahme vom Leiden der Angehörigen sowie der Behinderten selbst hält sich hartnäckig und bleibt oft unhinterfragt – nicht zuletzt, da in diesem Konstrukt existenzielle Ängste ausgelagert werden. In dem Bild, das von Behinderung gezeichnet wird, kristallisieren und manifestieren sich einige der grössten Ängste der neoliberalen Gesellschaft. Die Angst vor Abhängigkeit, Hilfsbedürftigkeit, dem Alter und der eigenen Vergänglichkeit. Und wer will schon seiner personifizierten Angst täglich das Schulbrot schmieren?

»Das heisst, mir klarzumachen, dass ich nicht gewollt bin.«

Diese weit verbreiteten Annahmen und Ängste haben nicht nur individuelle Reproduktionsentscheidungen zur Folge. Die Infragestellung des Lebenswertes von Embryonen aufgrund ihrer Behinderung greift die Existenz lebender Behinderter an, deren So-Sein nicht akzeptiert wird und deren Existenz der Notwendigkeit der Rechtfertigung ausgeliefert scheint: »[…] [D]as Verrückte an dieser Situation ist doch, dass ich mir heute anhören muss, dass man jemanden wie mich vielleicht besser nicht auf die Welt gebracht hätte. Das ist doch ein massiver Eingriff in meine Lebensqualität, in meine Menschenwürde. Das heisst, mir klarzumachen, dass ich nicht gewollt bin.«[5] Viele Behinderte erleben die Erkenntnis der eigenen potentiellen Vermeidbarkeit aufgrund ihrer Behinderung als indirekte Absprache ihres Lebensrechts. Praxen der pränatalen Diagnostik werden als Angriff auf ihre Person verstanden und vermitteln die Wahrnehmung, gesellschaftlich ungewollt zu sein.[6]

Dabei kann, wie oft argumentiert wird, die Ablehnung von Krankheit und Behinderung nicht losgelöst von der Haltung gegenüber Kranken und Behinderten betrachtet werden. Die Behinderung und die durch sie erlebten Erfahrungen fliessen in die Identität und das Selbstbild der Betroffenen ein und können nicht losgelöst von der Person betrachtet werden. Die Erkenntnis, aufgrund einer diagnostizierten Behinderung gesellschaftlich nicht gewollt zu sein, kann massive Auswirkungen auf die psychische und emotionale Integrität haben. Ausgehend von der eigenen Expertise setzen sich Behinderte seit langem gegen selektive Ausmusterungsverfahren zur Wehr. Pränatale Diagnostik wird als Instrumentarium zur Unterstützung behindertenfeindlicher Tendenzen betrachtet. Mit der Unterstützung und Erzeugung des Wunsches nach »gesundem« Nachwuchs werden die Symptome einer diskriminierenden Grundhaltung behandelt, die Haltung selbst jedoch gefestigt.

In öffentlichen Stellungnahmen betonen Behinderte und von ihnen getragene Institutionen diese Wahrnehmung stets aufs Neue. Darüber hinaus sind die darin geschilderten Lebenserfahrungen und Selbstkonzepte mit den zuvor geschilderten projizierten Leidannahmen unvereinbar. Dem Bewusstsein, zu einem glücklichen und erfüllten Leben fähig zu sein (so glücklich und erfüllt, wie es unter den jeweiligen Umständen Menschen einer diskriminierten Minderheit eben möglich ist) und dabei die körperlichen Besonderheiten als einen Teil von vielen Eigenschaften des Selbst anzuerkennen, wird in der öffentlichen Wahrnehmung kaum Geltung zugestanden. Diese Stellungnahmen werden oft einfach übergangen, teilweise auch pathologisiert, indem in der Betonung der positiven Aspekte des behinderten Lebens die Verdrängung und Abwehr des immensen Leidens gelesen werden.

Der Sprecher_innenposition von Mitgliedern einer nichtbehinderten Mehrheitsgesellschaft wird eine grössere Relevanz zugesprochen als der Expertise Behinderter. Behinderte, so unterschiedlich die körperlichen Eigenschaften auch sein mögen, teilen in dieser Gesellschaft die gemeinsame Erfahrung, behindert zu werden. Sie haben dadurch einen besonderen Blick auf die Mehrheitsgesellschaft. Die angenommene Fähigkeit, aus einer nichtbehinderten Position scheinbar wertneutral über den Wert verschiedener Formen menschlicher Vielfalt entscheiden zu können, auch wenn diese der Sichtweise der Betroffenen eindeutig widerspricht, kann nur als Dominanzverhalten mit weitreichenden diskriminierenden Auswirkungen erachtet werden.

Das Selbstbestimmungsrecht der Frau und der technologische Fortschritt

Frauen* müssen das Selbstbestimmungsrecht über ihren eigenen Körper haben. Das heisst, sie müssen die Freiheit haben, sich für oder gegen die Nutzung pränataldiagnostischer Instrumente und letztendlich für oder gegen ein behindertes Kind entscheiden zu können. Dieses Recht auf Selbstbestimmung des eigenen Körpers und der individuellen Lebenssituation kann nicht in Frage gestellt werden. Es kann auch bedeuten, dass Frauen* ihre Entscheidungen damit begründen, dass sie gesellschaftlichem Druck nicht standhalten wollen oder können. Gerade durch die Erweiterung des technischen Angebots wird dieser Druck jedoch erhöht, muss doch jede einzelne Untersuchung aufs Neue aktiv abgelehnt werden.

Um das Selbstbestimmungsrecht umfassend nutzen zu können, bedarf es aber vielfältiger Informationen. Während der Schwangerschaft stammen diese in erster Linie von den betreuenden Mediziner_innen. Deren meist defizitorientierte medizinische Sichtweise auf Behinderung führt nicht selten zu Abtreibungsempfehlungen. Dabei wird selten ausreichend über die Prozedur der Spätabtreibung aufgeklärt und selten werden alternative Sichtweisen zum vorherrschenden Bild von behinderten Kindern vermittelt. Aus einem Selbstbestimmungsrecht über die eigene Fortpflanzung wird häufig ein Recht auf ein (nichtbehindertes) Kind abgeleitet. Die hier besprochenen technischen Möglichkeiten können nicht nur als Instrument zur Erfüllung dieses Wunsches betrachtet werden. Das Bedürfnis nach einem (nichtbehinderten) Kind kann jedoch nicht als »natürlich« angesehen werden, sondern wird unter anderem durch eben diese Instrumente erst hergestellt.

Dass die ungewollte Kinderlosigkeit als ein Hauptargument für assistierte Reproduktion herangezogen wird, kann durchaus kritisiert werden. Der Kinderwunsch ist »kein medizinisch behandelbares organisches Leiden, sondern basiert auf persönlichen und sozialen Wertvorstellungen; Kinderwunsch ist sozial konstruiert und andere Lebensentwürfe von Frauen werden weniger akzeptiert.«[7] Auch stellt sich die Frage, ob und warum ein Kinderwunsch in erster Linie durch ein leibliches Kind zu beantworten ist. Handelt es sich nicht um die Behebung der Kinderlosigkeit als solcher, sondern um die Vermeidung bestimmter Kinder, sollte die elterliche Autonomie hinterfragt werden. Denn in diesem Fall ermöglicht sie nicht nur die Entscheidung für oder gegen ein Kind, sondern dient vor allem der Selektion. Behindertes Leben wird als nicht lebenswert betrachtet, was in der Realität zur kompromisslosen Verwerfung des Fötus führt.

Die Praxis der Selektion ist niemals nur eine individuelle medizinische Behandlung oder eine freie selbstbestimmte Entscheidung. Denn sie ist stets in gesellschaftliche Normalitätsdiskurse eingebettet und von staatlichen und wirtschaftlichen Interessen beeinflusst.

Machtlos gegenüber Normalisierungszwängen?

Da sich in der Diskussion über menschliche Reproduktion verschiedenste Interessen und Akteure treffen, ist die Gefahr der Verlagerung gesellschaftlicher Verantwortung in das Individuum gross. Der Ort, an dem diese Kämpfe ausgetragen werden, ist der Körper der Frau*. Doch sie alleine für selektierende Reproduktionsentscheidungen verantwortlich zu machen, trägt nicht zur Durchbrechung des Normalitätsdiskurses bei und würde andere gesellschaftliche Akteure von ihrer Verantwortung befreien. So ist es für Schwangere besonders schwierig, sich gegen Untersuchungen wehren, die ihnen nahegelegt werden. Auch die spätere Brandmarkung als Person, die ein behindertes Kind zur Welt gebracht hat, das vermeidbar gewesen wäre, kann eine grosse Belastung darstellen.[8]

Als Teil einer emanzipatorischen Zurwehrsetzung ist ein umfassender Austausch über Themen wie Pflege, Assistenz, Behinderung und Autonomie (diese Reihe kann gerne fortgesetzt werden) notwendig. Die Verschiebung der Problemwahrnehmung weg von Behinderung hin zu herrschenden Normvorstellungen und die (nicht nur) persönliche Auseinandersetzung mit gesellschaftlich geprägten Leistungsidealen und Abwehrhaltungen bergen die Chance, die Spirale von Verantwortungsindividualisierung und Behindertendiskreditierung zu durchbrechen.

Antje Barten
Artikel aus: Phase 2 / Ausgabe Nr. 47
www.phase-zwei.org

*Ich benutze für Menschen, die sich (potenziell) in eine Schwangerschaft begeben die Bezeichnung Schwangere* bzw. Frauen*. Mit dem Sternchen möchte ich deutlich machen, dass diese Verknüpfung zwischen Geschlecht und Fortpflanzungsfähigkeit weit verbreitet ist, jedoch nicht das gesamte Spektrum geschlechtlicher Vielfalt erfasst und auch Menschen, die sich nicht als weiblich definieren, schwanger sein können.



Fussnoten:

[1] Spina Bifida wird häufig auch „offener Rücken“ genannt und kann (aber muss nicht) die spätere Nutzung eines Rollstuhls nach sich ziehen.

[2] 2012 kam ein Bluttest auf den Markt, der es ermöglicht, den Fötus ab der 9. Schwangerschaftswoche auf die Trisomien 18, 21 und 13 hin zu untersuchen. Hierzu werden genetische Erbgutinformationen gewonnen, die zuvor nur über eine risikoreiche Fruchtwasseruntersuchung zugänglich waren. Der Test ist stark umstritten.

[3] Neoliberalismus und Behinderung stehen in einer Wechselwirkung. Aber auch in anders organisierten Gesellschaften wird die Konstruktion und Ausgrenzung von Behinderung praktiziert.

[4] Das beispielsweise eine notwendige 24-Stunden-pro-Tag-Betreuung für Eltern grosse Anstrengungen bedeutet, soll hier nicht bestritten werden. Für mich stellt sich an dieser Stelle jedoch die Frage, ob die gesamte reproduktive Arbeit eine Angelegenheit der Eltern sein muss. Konzepte wie die persönliche Assistenz oder auch Elternassistenz entlasten nicht nur die Eltern, sondern können darüber hinaus die innerfamiliäre Abhängigkeit der Behinderten zugunsten einer gleichberechtigteren Beziehung hin auflösen.

[5] Christian Judith, »Hättest du mich abgetrieben?«, in: Die Zeit vom 08.02.2001.

[6] Jan Gerdts, Bedeutungen von pränataler Diagnostik für Menschen mit Behinderungen. Eine qualitative Studie, Bochum/Freiburg 2009.

[7] Sigrid Graumann, Selektion im Reagenzglas. Versuch einer ethischen Bewertung der Präimplantationsdiagnostik, in: Michael Emmerich (Hrsg.), Im Zeitalter der Biomacht. Frankfurt a.M. 1998, 105–123.

[8] Neben Diskreditierungen im Verwandten- und Bekanntenkreis ist dies auch von staatlicher Seite zu befürchten. So war in der taz zu lesen, dass der Medizinische Dienst der Krankenkassen gegenüber Eltern eines Kindes mit Mukoviszidose äusserte, dass diese selbst die Verantwortung an dem Kind trügen und finanzielle Unterstützungen der »Solidargemeinschaft« daher nicht zugemutet werden könnten. Vgl. Birgit Dembski, Soll PID erlaubt werden? Nein. In: Taz vom 31.05.2001.