Was neue Bewegungen von LiquidFeedback lernen können Dilettanten der Demokratie

Gesellschaft

7. April 2016

Die jungen Bewegungen in Europa stehen unter strenger Beobachtung und werden teils heftig kritisiert. Dabei sind sie als Dilettanten der Demokratie meistens anpackender und innovativer als ihre Kritiker und somit auch in der Lage, das Potenzial neuer Ideen wie LiquidFeedback und LiquidDemocracy auszuschöpfen.

Das europäische Parlament in Strasbourg.
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Das europäische Parlament in Strasbourg. Foto: David Iliff (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

7. April 2016
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Der Coder und Netz-Aktivist Carlo von Loesch kommentiert:

Jedem eifrigen jungen Aktivisten wird es schonmal durch den Kopf gegangen sein: “Man müsse die Politik doch einfach mal ganz anders machen können, mit ganz viel Transparenz und Mitbestimmung.” Thomas Fazi (proxy) hat ein Buch dieser Art geschrieben. Seither plagt ihn das schlechte Gefühl, dass scheinbar einfache Dinge, die er eingefordert oder postuliert hat, in der Praxis überhaupt nicht einfach sind.

Zum Glück hat er nur ein Buch darüber geschrieben, andere haben in ihrer naiven Euphorie mit einfachen Rezepten ganze Parteien ideologisiert oder Movimenti gegründet. Ein “Movimento”, also eine selbsternannte Volksbewegung, ist nur eine Worthülse um das verhasste Wort “Partei” zu meiden und im Falle der 5-Sterne-Bewegung Italiens sogar ein Trick um die innerdemokratischen Pflichten einer Partei zu umgehen.

Geradezu alarmiert warnt Fazi davor, seine Fehler zu wiederholen, als er die Dokumente zu Yanis Varoufakis' Democracy in Europe Movement 2025 liest. Mit dieser Sorge steht er nicht alleine da: so ziemlich jeder, der in den letzten Jahren an gutgemeinten neuen Parteiprojekten mitgewirkt hat, sei es Podemos, Syriza, die 5-Sterne Bewegung oder die Piraten, hat mitbekommen, wie schnell ein gutgemeintes Projekt in eine Schieflage kommen kann.

Fazis grösste Sorge handelt von jener Vision, die schon Anarchisten, Graswurzelbewegungen, Sozialisten und Demokratie-Erneuerer gleichermassen beschäftigt hat: die Vorstellung, man könne ein grosses Volksparlament schaffen, in dem die Bürger eines ganzen Kontinents oder gar der gesamten Welt gemeinsam Gesetze und Politik aushandeln.

Riesige Versammlungen sind digital machbar

Hiess es nicht einst, das Internet würde ganz neue Formen der Demokratie ans Tageslicht fördern? Stattdessen erlebt die Mehrheit der Bevölkerung im Netz das, was dieses am Besten kann: Streiterei, Manipulation, Populismus und Überwachung.

Einige wenige politische Gruppierungen haben jedoch einen Weg der Erforschung geeigneter Technologien eingeschlagen, und deren Erfahrungen und Erfolge verdienen Beachtung, statt sich weiter darüber zu echauffieren wie unmöglich es ist, demokratisch sinnvolle Debatten auf Plattformen wie Facebook führen zu wollen.

Speziell das Konzept der Liquid Democracy hat besondere Aufmerksamkeit erreicht, nicht nur in Parteien und Institutionen in Italien, Deutschland und im Europäischen Parlament, sondern auch in der Wissenschaft. Forscher der Universität Trier haben den Einsatz von LiquidFeedback in der deutschen Piratenpartei analysiert. Sie kamen zum Schluss, dass die Software, entgegen der vielen Falschinformation, die um 2012, zur Hochzeit der Piratenbewegung, zirkulierte, ihre Ziele tatsächlich erreicht.

Ein Traum, älter als die französische Revolution, kann mittels Internet nun also in Erfüllung gehen. Die Piraten haben digitale Versammlungen mit über zehntausend Teilnehmern abgehalten, über ein Jahr lang, ununterbrochen. Man stelle sich einmal vor, wenn auch nur ein halbes Prozent der vielfältigen Bevölkerung Europas an solch einem elektronischen Parlament teilnehmen würde, es könnte erstaunliche Resultate liefern, so wie es das schon für die Piraten tat. Es wäre nicht nur erheblich repräsentativer als das Europäische Parlament, es würde auch stärkere Effekte kollektiver Intelligenz vorweisen, sowie Resistenz gegen Beinflussung durch Lobbies.

Die Kunst es richtig hinzukriegen

Seinerzeit planten die Piraten auch die Erschaffung eines euroliquid. Eine europaweite Anwendung von LiquidFeedback. Es ist nicht einmal wichtig, in welchem formellen Rahmen die Menschen organisiert sind – sei es als Partei, Bürgerverein oder Institution – solange die notwendigen Strukturen für konstruktive digitale Arbeit geschaffen werden. Thomas Fazi hat also allerhand richtige Gründe, skeptisch gegenüber einer übernationalen Demokratie zu sein, angesichts der vielen organisatorischen und strukturellen Herausforderungen, die erkannt und richtig aufgelöst werden müssen.

Es ist nicht so einfach wie Varoufakis es in seiner Eröffnungsrede zum Start des Projektes in der Volksbühne beschreibt: Sollten “böse Leute” dem Projekt beitreten wollen, würde das 4-Punkte-Manifest eine “Türsteherfunktion” erfüllen. In der Praxis werden “böse Leute” jedes Manifest unterschreiben und sich im Zweifelsfall später nicht daran halten. Bestenfalls kann das Manifest also nur als Regelwerk betrachtet werden, wodurch ein Justizsystem innerhalb des DiEM-Projektes notwendig wird, um Fehlverhalten tatsächlich zu ahnden. Noch komplizierter ist es mit schwierigen Personen umzugehen, welche in besten Absichten agieren.

Und das grösste Problem heutzutage ist, dass so ziemlich jeder sich weniger weise benimmt, sobald man in Textform über das Internet miteinander kommuniziert. Ein schlechter Tweet kann Shitstorms auslösen und jede Menge schlechte Presse nach sich ziehen. Bestrafung ist ein hässliches Konzept, und greift meistens zu spät. Um all diese Probleme anzugehen, haben die italienischen Piraten das demokratische Prinzip der Gewaltenteilung in der eigenen Partei erweitert in Richtung eines vorsorglichen Abwendens von dekonstruktiven Verhaltensweisen.

Wahrscheinlich liegt Thomas Fazi ebenfalls richtig in der Annahme, dass einfache Mehrheitsentscheidungen in einem herkömmlichen europäischen Parlament unzureichend sein könnten, um Minderheitenrechte zu schützen. In einem digitalen Parlament jedoch kann man die Modalitäten von Debatte und Abstimmungsvorgang so festlegen, dass Minderheiten eine angemessene Aufmerksamkeit zugesichert wird – ohne gleich Abstimmungen zu blockieren oder gar zu dominieren, so wie wir es von der repräsentativen Demokratie kennen.

Die Heterogenität der Bevölkerung Europas kann durch Regelwerke modelliert werden. Das mag vage klingen, ist aber angemessen, da der Prozess der Definition liquiddemokratischer Debatten und Abstimmungen tatsächlich sehr flexibel und die Spielregeln richtig aufzustellen die halbe Miete ist – politische Projekte, welche versuchen ihre inneren demokratischen Regeln erst zu erstellen wenn sie gebraucht werden, stolpern über genau die Unfähigkeit, dies zu tun, sobald formale oder informelle Machtstrukturen enstanden sind.

Wieviel europäische Regierung benötigen wir?

Die Kommission ist bereits eine Art europäische Regierung, aber sollten wir nicht lieber die gesetzgebende Gewalt in die Hände eines paneuropäischen digitalen Parlamentes geben, während wir nationalen Regierungen die Aufgabe der exekutiven Umsetzung der Gesetze überlassen und lediglich europäische Institutionen zur Koordination beibehalten? Hier gibt es vieles zu diskutieren, nun, da es die Perspektive eines virtuellen Parlamentes gibt, welches nicht durch eine Kommission bevormundet werden muss. Eine dezentralisierte Umsetzung der Exekutive könnte das Prinzip der Gewaltenteilung stärken.

Konsequenterweise, wozu dann noch einen ganzen Kontinent der Führung eines einzelnen Spitzenkandidaten unterstellen? Individuen sind erheblich beeinflussbarer als Parlamente, somit verstärkt man das Phänomen einer oligarchischen Übernahme. Eine digitale Versammlung benötigt keine dauerhafte Delegierung an mächtige Individuen um Regierbarkeit herzustellen.

Es kann, mittels seiner dynamischen Delegationen, zeitweilig Expertenkreise zu bestimmten Themen ermächtigen, ohne jedoch diesem ein Kidnapping der Entscheidungsmacht zu ermöglichen, wie die zitierte wissenschaftliche Arbeit nachgewiesen hat. Kann also gut sein, dass das grösste Problem der herkömmlichen repräsentativen Demokratie, das Phänomen der “oligarchischen Übernahme”, in einer liquiddemokratisch geführten Legislative einfach keine Rolle mehr spielt.

Ein digitales Parlament würde Austeritätspolitik stoppen

Thomas Fazi vermutet, dass auch ein verbessertes europäisches Parlament die bisherige Austeritätspolitik angesichts mangelhafter Alternativen weiterhin verfolgen würde. In Anbetracht dessen, wie digitale Parlamente jedes Problem bis in die tiefsten Details analysieren, bevor es in die Abstimmung geht, würde wahrscheinlich ans Tageslicht kommen, wie sehr Austerität einen sinnlosen Wettlauf zu den Abgründen der Armut darstellt, solange das System von Kapital und Schulden fundamental fehlerhaft ist.

OXFAM hat kürzlich statistische Nachweise geliefert, dass immer weniger Personen genausoviel besitzen wie die ärmere Hälfte der Menschheit (85 in 2015 gemäss dem Dokumentarfilm The Super-Rich And Us der BBC, 62 in 2016 gemäss dem DAVOS-Report von OXFAM). Wir leben somit nachweislich in der ungerechtesten Periode der Menschheitsgeschichte.

Es ist denkbar, dass ein sinnvoll aufgestelltes digitales Parlament, durch Zusammenstellung der Faktenlage, zum Schluss kommen würde, dass eine Regulierung der Mechanismen des globalen Kapitalismus mehr als überfällig ist. Dass Gelder von den Wenigen (die sie gar nicht nutzen können: Forscher aus Princeton haben festgestellt, dass ab einem jährlichen Einkommen von 75000 Dollar keine Zunahme des persönlichen Glücks mehr stattfindet) zu den Vielen umverteilt werden müssen – so wie es einst das Steuersystem (z.B. Erbschaftssteuer) und die Inflation vorgesehen haben. Es könnte sich somit als logische Schlussfolgerung ergeben, dass Schäubles Austeritätspolitik als obsolet zu betrachten ist. Grosse Politik wird in der Regel unter Ausschluss der Vernunft gemacht. Liquid Democracy könnte dies ändern.

Was potentielle Korruption durch den Drehtür-Effekt betrifft, also den schnellen Wechsel von Politikern in die Wirtschaft und umgekehrt, liefert LiquidDemocracy auch eine Antwort: Die Teilnehmer des grossen digitalen Parlamentes haben keine Eigeninteressen in dieser Hinsicht. Wenn Tausende Bürger von ihren Sofas aus Gesetzgebung diskutieren und mitbestimmen, wird man wohl kaum allen eine Karriere in der Wirtschaft anbieten im Gegenzug für politische Gefälligkeiten.

Solcherlei Korruption ergibt nur Sinn, wenn die Entscheidungsträger eine überschaubare Minderheit sind. Es sollte dem Bürgerparlament daher leicht fallen, beispielsweise eine gesetzliche Regelung zu erlassen, wonach Regierungspolitiker auf Grund von Interessenskonflikten nicht zurück in die Wirtschaft wechseln dürfen.

Der Wille der Bevölkerung und die Regierungspraxis

Die Formel “post democracy” findet überall Anwendung, wo struktureller oder technologischer Wandel es scheinbar unmöglich machen, Prinzipien und Konstrukte der Demokratie aufrecht zu erhalten. Dabei bestehen nach wie vor Möglichkeiten, mittels Gesetzgebung nachzubessern, sofern ein profundes Verständnis von digitalen Technologien besteht, sowie die politische Courage den falschen Einschlag, den die Digitalwirtschaft genommen hat, zu korrigieren.

Technologische “post democracy” kann durch eine hinreichend radikale Gesetzgebung wie die von youbroketheinternet.org vorgeschlagene angegangen werden, um der Entwicklung Einhalt zu gebieten, dass das Internet demokratische Verfassungen ausser Kraft setzt.

Strukturelle “post democracy” entsteht stattdessen wenn man Abstraktionsstufen einzieht zwischen dem Willen der Bevölkerung hin zur tatsächlichen Regierungspraxis. Europa hat diese Praxis maximiert. Yanis Varoufakis selbst beschreibt dies oftmals aus seiner empirischen Erfahrung als Finanzminister: in jedem Land wählt das Volk parteigebundene Leitfiguren, welche Minister ohne Volksrückfrage nach ihrem Geschmack in die Regierung bestellen, diese daraufhin nach Europa schicken, wo in einem kleinen geheim agierenden Zirkel Entscheidungen getroffen werden, den oligarchischen Lobbys jede Menge Gelegenheit bietend, Richtungen vorzugeben.

Redemokratisieren wir die Post-Demokratie

Anschliessend kommen diese Minister zurück in ihre Heimatländer und berichten, dass der errungene “Kompromiss” das Beste war, was ihnen möglich war, herauszuholen. Die Details der Verhandlungen müssen allerdings geheim bleiben, vermeintlich aus Respekt der Interessen der anderen beteiligten Nationen. Auf diese Art und Weise wurde die Entscheidungsmacht eines ganzen Kontinenten geschickt in ein kleines Zimmer gebracht – frei von demokratischer Transparenz und Glaubwürdigkeit.

Ein supranationales digitales Parlament könnte das passende Gegenmittel sein zu diesem Effekt von demokratischer Entfremdung. In einer grossen liquiddemokratischen Generalversammlung könnte die europäische Bevölkerung politische Angelegenheiten selbst in die Hände nehmen, mit lediglich soviel Machtdelegierung wie sich empirisch als notwendig herausgestellt hat um beste Resultate hinsichtlich kollektiver Kompetenz und Intelligenz zu erreichen.

In Anbetracht der derzeit katastrophalen Lage kann solch eine Veränderung – selbst wenn sie unperfekt wäre – nur eine Verbesserung mit sich bringen. Meine persönliche Erfahrung hat mich davon überzeugt, dass liquid democracy die am wenigsten schlechte Form von Governance darstellt, die die Menschheit bisher entdeckt hat.

Ihre Imperfektionen sind erheblich weniger dramatisch als jene von jeweils der direkten (Neigung zum Populismus) und der repräsentativen Demokratie (Neigung zur oligarchischen Beeinflussung) – und sind zudem noch vergleichsweise leicht auszubessern. Nun ist der Zeitpunkt diese Methoden also zu verfeinern und die Vorteile zu nutzen. Rechtzeitig. Bevor die Erde aus dem Gleichgewicht tritt.

Carlo von Loesch
berlinergazette.de

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