Interview mit Marie Hurken Das System Knast ist nicht reformierbar

Gesellschaft

24. März 2021

Über Beratung und politische Bildung für inhaftierte Jugendliche und Erwachsene und die Prävention von Dschihadistischer und Rechter Gewalt.

Mauerabschnitt der Justizvollzugsanstalt Geldern.
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Mauerabschnitt der Justizvollzugsanstalt Geldern. Foto: 456789a (CC BY 3.0 unported - cropped)

24. März 2021
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kritisch-lesen.de: Du arbeitest in einer mittelgrossen Stadt im Bereich Gewaltprävention. Was kann man sich unter deiner Arbeit vorstellen, also: Wie sieht dein Arbeitsalltag aus?

Marie Hurken: Ich mache in erster Linie politische Bildung und soziale Gruppenangebote in der Haftanstalt. Ein Grossteil der Arbeitszeit spielt sich aber nicht in Haft ab, sondern im Büro, ausserhalb der Mauern. Mein Arbeitsalltag ist dann die Auseinandersetzung mit den Themen, die wir in der politischen Bildung bringen wollen. Das bedeutet viel Diskussion über das Feld, in dem ich arbeite, weil es ein relativ junges Feld ist. Es heisst offiziell Prävention von religiös begründeter Radikalisierung, doch tatsächlich haben die Inhalte, die wir machen, selten etwas mit Religion zu tun. Dann ist der Arbeitsalltag die Auseinandersetzung mit dem, was gerade Kolleg*innen in der gesamten Republik machen, was es für wissenschaftliche Erkenntnisse gibt; der Austausch von Erfahrungen und konkret die Vorbereitung von Sitzungen in Haft. Und dann gehen wir in die JVA (Justizvollzugsanstalt, Anm. Red.) – eine Viertelstunde, bevor das Angebot losgeht. Wir führen das Angebot durch und gehen direkt danach auch wieder raus.

Wenn du sagst, ihr setzt euch viel mit den Themen auseinander, die in der politischen Bildung anstehen, was bedeutet das? Welche Themen sind das konkret?

Da geht es viel um die Kritik an Begriffen oder den Wunsch, diese spezifischer zu nutzen. Beispielweise den Begriff Islamismus, der zu Recht kritisiert wird, weil er eine Gleichsetzung mit dem Islam und eine Homogenisierung hervorruft. Gleichzeitig benutze ich ihn aber auch andauernd, weil es eine gewisse Verständigung gibt, was er bedeutet. Es geht aber auch um pädagogische Begriffe, wie zum Beispiel Resilienz. Das ist gerade super aktuell, alle sprechen über das grosse Ziel, Menschen resilienter zu machen. Dabei geht es darum, wie man mit bestimmten Problemlagen umgeht. Die Kritik daran ist, dass dabei die Systemkritik total hinten runter fällt. Solche Auseinandersetzungen führen wir dann auch, wenn es darum geht, welche Ziele wir eigentlich erreichen wollen mit unserer Arbeit. Man steckt dabei immer in einem Spannungsfeld zwischen Sicherheitsdiskursen und eigenen politischen Ansichten fest.

Da sind also zum einen die Ziele, die ihr euch selber steckt und die euch motivieren und eure Arbeit antreiben; und zum anderen die Ziele, die euch von aussen vorgegeben werden. Kann man da von einer doppelten Zielsetzung sprechen?

Definitiv! Das Projekt wird von der Bundesregierung finanziert und die Ziele, die damit verbunden sind, sind eher Sicherheitsaspekte, die eigentlich dem, was wir als pädagogische Ziele der Arbeit haben, absolut widersprechen. Das ist ein Problem, das viele Träger haben, die vom Staat gefördert werden. Mein persönliches Ziel wäre, einen Raum zu schaffen für eine kritische Auseinandersetzung mit politischen Themen. Das ist aber etwas, das nicht besonders viel wert ist: Ein Projekt, das sagt, wir wollen eine kritische Auseinandersetzung mit dem Staat führen, im Knast, das würde kein Geld bekommen. Das wäre aber trotzdem ganz wichtig. Auch die Beteiligung an unserem Angebot zeigt, dass die Teilnehmenden das dringend brauchen.

Politische Bildung, was genau kann man sich darunter vorstellen? Bringst Du den Leuten bei, wie der Bundestag funktioniert?

Das glauben die Leute, wenn sie zu uns kommen! Dann sagen eigentlich auch alle, sie haben überhaupt keinen Bock, über Politik zu reden – und noch weniger über Religion. Was wir aber tatsächlich machen, ist, die Teilnehmenden fragen, was sie gerade beschäftigt – und dann aufzeigen, was daran politisch ist. Natürlich geht es viel um Haftbedingungen. Und das ist das nächste Spannungsfeld, weil wir nicht die Rolle dort haben, eine Organisierung für Inhaftierte anzustossen. Auch wenn das ganz oft mein Bedürfnis ist. Wir haben auch schon über die Geschichte von Knästen gesprochen und generell viel über tagespolitische Themen. In der freien Diskussion nach unserem Input geht es dann oft auch um pädagogische Fragen, zum Beispiel nach Widerspruchstoleranz oder Selbstreflexion.

Hat das dann auch so etwas Empowerndes?

Das wäre schön. Wenn man dadurch einen Raum geben kann, in dem die Leute selbstwirksam werden können. Es ist ziemlich traurig, aber eigentlich werden Leute, die im Knast sind, zu einem asketischen Leben gezwungen. Und es gibt so wenig Abwechslung und so wenig Raum für Auseinandersetzung, dass es gar nicht viel braucht für diese politische Bildung. Also, alleine die Haltung den einzelnen Leuten gegenüber, dass sie was zu sagen haben und das irgendwie zu sortieren und zueinander zu bringen, ist schon viel. Weil der Rest so eine Wüste ist.

Das klingt grausam. Man ist vollkommen entmündigt, so dass du nur ein kleines bisschen bieten musst und das ist schon total die Anknüpfungsmöglichkeit.

Ja. Ich ging zu Beginn auch davon aus, dass oft die Taten Thema sind, wegen denen die Leute verurteilt wurden. Das sind sie aber gar nicht. Ich glaube, das liegt daran, dass eine Verurteilung wegen einer bestimmten Tat eben nicht dazu führt, dass darüber nachgedacht wird, warum das passiert ist oder da irgendeine Selbstreflexion stattfindet. Sondern eher: Man wird verurteilt, weil man gegen ein Gesetz verstossen hat. Das Problem ist dann sozusagen, dass man in Haft ist – und gar nicht, dass man vorher vielleicht einen krassen Einschnitt im Leben von jemandem verursacht hat. Das spielt kaum eine Rolle oder jedenfalls bekomme ich das nicht so mit. Die Isolation spielt eine Rolle und dass man die Lieblingssüssigkeit nicht mehr essen kann und dass der Fernseher kaputt ist, dass man seine Familie nicht sehen kann. Gerade auch die soziale Isolation ist das Tragische am Knast.

Isolation bedeutet: Weg von der Gesellschaft sein, weil man ja potenziell gefährlich ist. Eine Strafe verbüssen, sagt man ja auch. Aber geht es auch darum, zu büssen? Wie kann das überhaupt funktionieren?

Es funktioniert nicht. Ich finde es spannend, dass du sagst, Busse tun – das ist ja so ein religiöser Begriff. Und es hat etwas Religiöses, weil man nicht für die Tat bestraft wird, sondern dafür, dass man, wie in der Bibel, gegen die Zehn Gebote verstossen hat. Deswegen wird man jetzt bestraft. Man hat sozusagen gegen die Gesetze des Staates verstossen und deswegen sitzt man da. Das führt aber wiederum bei einigen Leuten, auch bei Menschen, die im Knast arbeiten, zu einem ganz abgefahrenen Zirkelschluss. Sie denken dann, „naja, diese Person wurde jetzt verurteilt, dann muss sie ja auf irgendeine Art irgendwie falsch oder schlecht sein“. Diese Annahme kommt aber auch von den Inhaftierten selbst, vor allem von Jugendlichen. Die kommen dann mit so einer ganz unterwürfigen Haltung zu uns, dass sie schlecht sind und wir ihnen jetzt erklären können, wie sie besser werden können. Ich denke, das kommt davon, dass es gar kein richtiges Verständnis dafür gibt, was sie eigentlich getan haben und warum. Das ist nochmal ein Grund, warum Knast nicht funktioniert. Weil die Lebensbedingungen, die Gründe, die dazu geführt haben, dass jemand irgendwas Bestimmtes tut, die werden gar nicht thematisiert.

Darauf zielt auch meine nächste Frage: Was für Bilder – Selbst- oder auch Schuldbilder – begegnen dir in deinem Beruf?

Im Team müssen wir natürlich aufpassen, dass wir Dinge nicht verklären. Damit meine ich, dass wir bei den Leuten, die im Knast sitzen und die wir als Betroffene vom Knast sehen, nicht vergessen sollten, dass sie möglicherweise auch Täter sind. Dennoch geht es eher in die Richtung, sich zu solidarisieren mit den Inhaftierten. Aber dann gibt es auf der Seite der JVA den Vollzugsdienst und viele andere Pädagogen, Psychologinnen, Lehrer, Lehrerinnen und so weiter. Oft haben diese eine Law-and-Order-Haltung. Wenn man diesen Job im Vollzugsdienst angenommen hat, dann ist es wie bei der Polizei ja auch, ein systemisches Problem. Und da gibt es einzelne Leute, die besonders schrecklich damit umgehen, die ihre Macht missbrauchen und rassistisch sind. Oder sexistisch, auch uns gegenüber. Das ist wirklich gruselig. Darunter gibt es aber auch immer wieder ein paar verfehlte Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen, die den Job machen, weil sie glauben, dass dort auch gute Leute gebraucht werden. Sie versuchen ihr Bestes, aber scheitern am System. Wir werden oft auch als ein Teil der Institution wahrgenommen.

Wie begründen die Inhaftierten ihre Lage selbst?

Das kann man pauschal nur schlecht sagen. Alle Leute werden in den gleichen Knast gesperrt und deswegen gibt es da einfach riesige Unterschiede, von Menschen, die extra Straftaten begehen, damit sie im Winter nicht auf der Strasse sein müssen, über…naja, man kann sich alles mögliche vorstellen, warum Leute in den Knast kommen. Ich frage Inhaftierte oft, ob sie Knast gut finden oder ob sie denken, dass man das braucht. Selten sagt jemand nein. Was passiert, ist, dass Leute sagen, es sind die falschen Leute im Knast. Nur die kleinen Fische, das finden viele ungerecht. Dann gibt es die Leute, die oft auch aus politischen Gründen inhaftiert sind, die den Knast absolut ablehnen. Und es gibt auch viele, die sagen, „endlich kommt jemand und zeigt mir, dass das der falsche Weg war und jetzt will ich besser werden“. Das ist auch für mich eine abgefahrene Rolle, weil ich dann irgendwie schlimmer finde, dass die Leute da drinsitzen, als sie es selbst in dem Moment wahrnehmen.

Das grundsätzliche Problem sehe ich aber darin, dass die Leute, sobald sie draussen sind, wieder mit den gleichen Verhältnissen konfrontiert sind wie vorher. Da kann man sich noch so doll im Knast überlegen, dass das alles falsch war und dass man jetzt geläutert ist, aber das wird halt draussen nicht funktionieren. Du merkst schon meine Interpretation, die dahintersteckt: Die Leute, die im Knast sitzen, sind das Symptom von gesellschaftlichen Problemen, die damit individualisiert werden.

Kann man dieser Individualisierung etwas entgegenhalten oder wird das von den Betroffenen komplett internalisiert?

Das ist sehr schwer zu sagen, ich weiss es nicht. Es gibt auch Unterschiede zwischen den Jugendlichen und den Erwachsenen. Mit den Jugendlichen arbeiten wir mit einer grösseren Gruppe, die auch über einen längeren Zeitraum zusammenkommt. Bei den Erwachsenen fluktuiert das viel mehr, der Raum ist offen, und wer Lust hat, kommt. Jugendliche sind viel kürzer inhaftiert und das Angebot ist anders angelegt. Es gibt am Ende ein Zertifikat und sie sind auch angehalten, regelmässig teilzunehmen – oder eben gar nicht mehr zu kommen. So ab und zu, das geht nicht. Über Beziehungsarbeit mit den Jugendlichen kommt man dann auf eine andere Ebene, auf der wir zumindest manchmal die Möglichkeit haben, eine neue Perspektive zu eröffnen; etwa, was Geschlecht anbelangt und was vielleicht auch Männlichkeitsideale mit der eigenen Geschichte zu tun haben. Ich arbeite im Übrigen nur mit Männern. Bei fast allen Projekten ist es so, dass der Frauenknast irgendwie keine Rolle spielt. Argumentiert wird das damit, dass dieser zahlenmässig nicht relevant wäre.

Weil so viel mehr Männer inhaftiert sind als Frauen?

Genau. Und auch wegen der Art der Straftaten. Wir werden dafür bezahlt, dass wir Prävention machen und dafür gäbe es bei Frauen gewissermassen keinen Bedarf. Frauen werden damit doppelt unsichtbar gemacht. Einmal dadurch, dass sie nicht als Täterinnen wahrgenommen werden, aber auch weil es bei Frauen noch einmal besser funktioniert, sie aus der Gesellschaft auszuschliessen, weil sie auch noch im Schatten der männlichen Inhaftierten sind. Ich kann daher auch wenig dazu sagen, wie es für Frauen ist, im Knast zu sitzen. Wir wollen das gerne, aber da kommen wir nicht ran. Wir dürfen da nicht rein. Sie sind nicht wichtig.

Seid ihr auch eine Nach-Knast-Anlaufstelle?

Eigentlich nicht. Aber es kommt vor, dass Jugendliche, die entlassen werden, auch im Anschluss bei uns vorbeikommen. Wir verteilen zuvor unsere Handynummern und laden sie in unser Büro ein, wenn sie sich melden. Es ist dann eher eine Verweisberatung, in der wir gucken, wo sie gut anknüpfen können. Bei den Erwachsenen bin ich eher pessimistisch, dass wir da grossartig etwas erreichen können, ausser die Zeit in Haft, die sie sowieso haben, irgendwie ein kleines bisschen zu verbessern. Wobei: Ich würde auch dieses ernst-genommen-werden und wert-geschätzt-werden als Person mit eigener Haltung nicht unterschätzen, gerade in so einem System. Das kann vielleicht schon Personen dazu bringen, ein bisschen besser über die Woche zu kommen. Zum Beispiel hängen wir Dinge, die wir bei den Erwachsenen erarbeitet haben, auf dem Flur der Station auf. Als ich letztens gefragt habe, ob wir das langsam mal wieder abhängen sollen, waren alle dafür, das hängen zu lassen. Sie erklären den Anderen auf der Station sehr gern, was wir da gemacht haben und das als Begleitung in ihrem Alltag gerne dabei haben.

Strebt ihr in eurer Arbeit eine geringere „Rückfallquote“ an?

Für mich ist der Begriff sehr negativ belegt. Es gibt viele Studien dazu, aber ich glaube nicht, dass wir darauf Einfluss haben können. Dazu müsste man am sozialen System der Menschen anknüpfen. Was der Knast jedoch macht, ist, die Leute noch mehr von ihrem sozialen System zu isolieren. Zusätzlich schwächt er auch noch die Familie oder das soziale Umfeld – zum Beispiel dadurch, dass einfach jemand fehlt, aber auch dadurch, dass die Familienversicherung und die Krankenversicherung pausiert wird, wenn Inhaftierte im Knast arbeiten. Familien müssen sich um eine eigene Versicherung kümmern, das ist teuer. Allgemein ist es ja auch stark mit Scham behaftet, in den Knast zu gehen. Das ist ein Schock für die Familie.

Solange man nicht da ansetzt, wird man es nicht hinkriegen, dass Leute weniger straffällig werden. Im Gegenteil. Die Art und Weise, wie der Knast heute funktioniert, führt dazu, dass Leute es noch schwerer haben, nicht nochmal straffällig zu werden. Ich habe dabei allerdings Diebstahl und solche Gründe im Kopf. Obwohl ich nicht danach frage, erzählen mir die Leute irgendwann schon, warum sie einsitzen. Das sind zumeist Einbruch und solchen Sachen, oder Handel mit irgendwas. Bei Jugendlichen kommen manchmal noch Körperverletzungsgeschichten dazu. Ich glaube, dass sich das durch die Zeit im Knast noch verstärken kann.

Zu meinem Job gehört ja auch die Auseinandersetzung mit religiös-fundamentalistischen Ideen. Es gibt Studien, in denen Gefängnisse als Radikalisierungskatalysatoren bezeichnet werden. Weil eine Inhaftierung eine Krise ist und weil Krisensituationen eher dazu führen, dass Leute sich radikalen Ideen anschliessen. Oder zumindest, dass sie eine gewisse Offenheit für Ideologien oder Gruppen haben, die ihnen irgendwie Sicherheit und Orientierung geben. Eine Gruppe, die einen möglicherweise schützt, die Erklärungen hat, für das Leid, das man vielleicht selbst erfahren hat, die einem vielleicht sogar hilft, die eigene Tat zu verklären.

Ich nehme an, dass es eine tatsächliche Notwendigkeit der Prävention von religiös motivierter Gewalt gibt. Die findet aber im Knast in einem repressiven Setting statt und unter politisch motivierten Vorzeichen, Stichwort Extremismusklausel. Das ist irgendwie eine relevante Arbeit in einem Rahmen, der total falsch ist.

Projekte wie meins gibt es aufgrund der Extremismus-Theorie oder zumindest fussen die darauf. Ich denke, dass die Extremismus-Theorie sein Subjekt, also meine Klienten, erst konstruiert. Sie stellt also das Problem, das sie beschreibt, selbst her. Sie ist ein Herrschaftsinstrument und gefährlich für alle, die den Staat kritisieren. Gleichzeitig sehe ich religiös fundamentalistische und Dschihadistische Gruppen als Problem, nur ist die Extremismus-Theorie der falsche Ansatz, um dieses Problem zu beschreiben, geschweige denn zu lösen. Aber ja, den realen Arbeitsauftrag gibt es. Es gibt den Bedarf an Präventionsarbeit und auch an so etwas wie Distanzierungsarbeit, also bei Leuten, die beispielsweise zum IS wollen und an der Grenze aufgegriffen werden. Es ist ja im Prinzip ein guter Ansatz, sich dann um diese Leute zu kümmern und mit ihnen eine Beratung zu machen, wenn sie dazu bereit sind. Gleichzeitig kann man auf dieser Basis gut Sicherheitspolitik machen und eine Gefahr auch grösser machen als sie vielleicht tatsächlich ist. Und solche Projekte wie unseres können schon auch instrumentalisiert werden, indem zum Beispiel gesagt wird, „Guckt mal, es gibt in jeder Stadt so ein Projekt, dann muss es ja auch unglaublich viele islamistische Gefährder geben. Das ist ein riesiges gesellschaftliches Problem!“

Man stellt also allerorts die Präventionsprojekte auf, fördert sie und nutzt dann ihr Dasein für die sicherheitspolitische Versicherung: Der Staat kümmert sich?

Ja, genau. Und das angesichts der verschwindend geringen Zahlen an Leuten, die jetzt superkrass ideologisch gefestigt sind und auch in Gruppen eingebunden sind. Ich halte es schon für unheimlich wichtig gegen so religiös-fundamentalistische Ideologien im Allgemeinen etwas zu tun. Aber wenn man das vergleicht mit Verschwörungstheorien und Antisemitismus und Neuer Rechter insgesamt, dann ist das wirklich verschwindend gering.

Knast erfüllt ja im gängigen Verständnis die Funktion der Sicherheit der Gesellschaft vor der Delinquenz. Wie denkst du darüber?

Knast hat die Funktion, die kapitalistischen Verhältnisse zu schützen und die aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse in dieser Form beizubehalten, die Leute zu schützen, die von diesen Verhältnissen profitieren. Aus meiner Sicht hat Knast nicht das Ziel, einzelnen Menschen in irgendeiner Form zu etwas zu verhelfen… Ich weiss gar nicht, wie man Knast gut verkaufen könnte! Ich denke auch, dass es ein falsches Versprechen ist, wenn man einer Person, die Gewalt erfahren hat, Sicherheit vermitteln möchte. Dass eine Person dann weggesperrt ist, macht das Leben nicht sicherer, kein bisschen.

Anschliessend an restorative justice-Ansätze sollte man eher schauen, wie man diese Probleme systemisch lösen kann, anstatt jetzt eine individuelle Person wegzusperren. Auf den ersten Blick sehen diese Ansätze so ein bisschen soft aus – also Leute werden jetzt nicht mehr bestraft. Ich glaube aber, dass es viel schwieriger ist, sich mit einer Tat auseinanderzusetzen und tatsächlich reflektieren zu müssen. Und das ist etwas, was durch das aktuelle Knastsystem verhindert wird. Es wird dafür gesorgt, dass die Verurteilung das Thema ist und dass man gegen ein Gesetz verstossen hat. Wenn es betroffene Personen von der Tat gibt, geraten diese total aus dem Blick. Eine Alternative wäre, diese Personen miteinzubeziehen und dafür zu sorgen, dass der Täter oder die Täterin in dem Fall Verantwortung übernimmt. Also kurz, von der Schuld zur Verantwortung zu kommen. Und ich finde Strafe vermittelt eher Schuld und vermittelt auch, dass man die absitzen kann. Man kann aber das Leid, das man jemandem zugefügt hat, nicht absitzen. Und das ist jetzt nur die Perspektive der Täter. Es kommt ja noch hinzu, dass die Betroffenen auch ein Recht darauf haben, selbstbestimmt daran teilzuhaben.

Ein Begriff, der ja auch immer auftaucht, ist Resozialisierung.

Die Leute werden ja erst durch den Knast de-sozialisiert. Sie werden ja aus ihren sozialen Beziehungen herausgerissen. Dann zu sagen, „jetzt fangen wir an, euch wieder zu resozialisieren, das machen wir aber an einem Ort ausserhalb der Gesellschaft“, das ist doch absurd! Und noch abwegiger wird es, wenn man sich die Arbeitsverhältnisse im Knast anschaut: Viele Firmen lassen ganz normal produzieren in Gefängnissen. Und es gibt einen ganz normalen 8-Stunden-Arbeitstag, nur dass man keine Arbeitsrechte hat, überhaupt nicht mitbestimmen kann. Inhaftierte werden extrem schlecht bezahlt, weit unter dem Mindestlohn und das Argument dafür ist, dass es keine Arbeit ist, was sie da leisten, sondern Resozialisierung. Ich verstehe nicht, wie das jemand ernsthaft behaupten kann.

Das ist moderne Sklaverei eigentlich.

Ja genau, ist es. Es ist auf jeden Fall nicht menschenwürdig, unter diesen Verhältnissen zu leben und zu arbeiten. Das Ding ist, dass Leute auch draussen menschenunwürdig leben müssen und es deswegen auch im Knast eine relativ grosse Akzeptanz dafür gibt. Die Leute sind froh, wenn sie sich dann irgendwie Zigaretten oder so davon kaufen können. Ich sehe die kapitalistischen Verhältnisse als ziemlich grosses Problem. Dass man denkt, man darf arbeiten und hat dann wenigstens so einen Funken Hoffnung, sich ein wenig gegen die Konkurrenz durchzusetzen. Da ist wenig Solidarität, weil jeder versucht, seinen eigenen Kopf über Wasser zu halten. Ich will jetzt überhaupt nicht das Bild vermitteln, dass Leute, die im Knast sitzen, nicht untereinander solidarisch sind: Es wird super viel aufeinander geachtet und geteilt, weil man natürlich auch mitbekommt, wie schlecht es den Anderen geht. Aber trotzdem ist man immer noch irgendwie individualisiert. Es gibt die Solidarität nur in den alltäglichen Dingen und nicht in den strukturellen. Wenn man draussen ist, dann unterstützt man nicht die Familien von anderen Inhaftierten. Es hätte schon eine krasse Kraft, wenn Gefangene sich mehr solidarisieren würden.

Wir sprachen ja schon über staatliche Gewalt oder systemische Gewalt. Spielt das in deiner Arbeit eine Rolle? Gibt es bei den Inhaftierten ein Verständnis von Staatsgewalt?

Bei einigen schon. Aber eher bei denjenigen, die dieses Verständnis auch vor der Inhaftierung schon hatten. Es sitzen ja zum Beispiel viele Menschen im Knast, weil sie der PKK zugeordnet werden. Die haben dieses Verständnis sicherlich. Aber ich habe das bisher jedenfalls noch nicht mitbekommen, dass Leute das in der Haftzeit entwickelt haben. Das finde ich total schade. Es ist auch tatsächlich etwas, das ich gerne mehr erreichen würde. Gleichzeitig habe ich manchmal die Sorge, dass ich die Lage für die Einzelnen verschlimmere und noch weniger erträglich mache, wenn ich ihnen das zu stark versuche zu vermitteln. Ich möchte ihnen ja auch nicht nehmen, dass sie jetzt irgendwie ihren Frieden mit ihrer Situation gefunden haben. Ich hätte das Gefühl, dass ich die Leute für meine politischen Zwecke instrumentalisieren würde. Sie sollen auch selber entscheiden können, was sie bereit sind anzuerkennen an Ungerechtigkeiten. Es ist ja schmerzhaft, sich bewusst zu machen, wie ausgeliefert man ist und wie ungerecht das alles ist. Da hat niemand etwas davon, wenn da eine kleine Revolte blutig niedergeschlagen wird.

Aber kann das nicht auch eine Entlastung-Funktion haben? Ein Bewusstsein über die Macht des strafenden Staats?

Das stimmt, kann es auch. Und wenn du es jetzt so sagst, dann spielt das tatsächlich auch eine Rolle, also wir thematisieren das auch. Gerade diese Reflexion der Verhältnisse, in denen man vor der Inhaftierung gelebt hat, und was dazu geführt hat, dass man diese und jene Probleme hat. Also wir gehen dann nicht auf die Tat ein, die zur Inhaftierung geführt hat, sondern alle Leute kommen immer mit den Sachen, mit denen sie unzufrieden sind, und dann gucken wir, wie sich die gesellschaftlichen Verhältnisse darauf ausgewirkt haben. Und das ist dann aber auch manchmal wiederum ein schmaler Grat. Es kann ja auch dazu führen, Verantwortung zu verdrängen, zu sagen: „Ich konnte ja nicht anders!“ Und das wird dann aber auch wieder den Betroffenen nicht gerecht. Das ist nicht einfach, aber machbar. Man könnte sagen, unser Job ist es auch, den Druck raus zu nehmen.

Wir haben das Thema Verantwortung ja schon angerissen. Bei Konzepten wie restorative justice oder transformative justice spielt ja genau das eine zentrale Rolle. Wie du schon meintest, geht es nicht darum, dass Leute einfach weggesperrt werden, und was dann mit ihrer Verantwortung geschieht, ist so ein bisschen dahingestellt. Sondern es geht ganz klar darum, wer welche Verantwortung übernehmen kann und muss. In solchen Ansätzen spielt auch eine Rolle zu fragen, was eigentlich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse sind, die dazu geführt haben, aber trotzdem auch das individuelle Täter*in-Sein nicht zu vergessen.

Absolut. Kollektive Lösungen sind der Schlüssel. Das heisst, soziale Systeme in den Blick zu nehmen, und zwar nicht auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene, sondern zwischen Individuum und Gesellschaft sozusagen, also die sozialen Beziehungen. Die Frage der Verantwortung muss auch auf dieser Ebene geklärt werden. Und diese Frage ist auch von derjenigen nach Schuld in gewisser Weise zu trennen.

Gibt es in deiner Arbeit Ansätze, die schon so in die Richtung transformative oder restorative justice weisen?

Nicht wirklich. Klar, wenn ich mit meiner Überzeugung und meiner Haltung meine Arbeit mache, dann spielt das natürlich eine grosse Rolle in allem, was ich tue. Das lässt sich davon gar nicht trennen. Aber das System ist so restriktiv, dass es unmöglich ist, da Konflikte so zu klären. Wenn jetzt ein Konflikt während unseres Angebotes passiert, dann werden solche Ansätze eingebunden. Wir finden auch immer Lösungen für Probleme, mit denen alle einverstanden sind. Wenn gegen Gruppenregeln verstossen wird, dann versuchen wir schon, ein Verständnis dafür herzustellen, dass es jetzt nicht um Strafe geht, sondern darum, ein Gleichgewicht wiederherzustellen, andere Möglichkeiten zu finden als die klassischen Körperstrafen, die von den Jugendlichen oft erst genannt werden (lacht). Oft geht es um reflektierten Austausch. Oder dass jemand Kuchen mitbringt. Oder, dass man feststellt, dass die Regel schlecht war. In diesem sehr kleinen Rahmen ist das möglich und passiert auch. Und das ist auch das, was mir Hoffnung gibt, die Arbeit weiterzumachen. Aber sobald das ausserhalb dieses kleinen Raumes passiert, sind wir total machtlos. Dann folgen Disziplinarverfahren, etwa Isolationshaft, wenn man sich geprügelt hat.

Tragisch ist, dass man im Knast eigentlich am besten durchkommt, wenn man so richtig stumpf ist. Also, dann fällt man nicht auf, wenn einem alles egal ist, wenn man irgendwie keine Emotionen mehr hat oder die so sehr verdrängt, dass sie keine Rolle mehr spielen. Selbstreflexion macht wütend und traurig und verzweifelt und dann wird man vielleicht bei einem Streit superschnell hochkochen. Aber eigentlich ist das etwas Gutes, weil man gerade eine heftige Selbsterkenntnis hatte. Aber dafür gibt es keinen Raum. Da schliesst sich der Bogen wieder zu einer Kritik am Resilienzbegriff, weil dieser schnell so interpretiert werden kann: Alles ist scheissegal und man funktioniert weiter, ohne grossartig aufzufallen. Das ist ein Verhalten, das eher zu Gewalt führt, denke ich. Es hängt auch mit manchen Idealen von Männlichkeit zusammen, die viele Leute in den Knast gebracht haben: Einer krassen Idealisierung von Härte und die Unfähigkeit, sich Hilfe zu holen. Wir versuchen sehr viel, das aufzuarbeiten. Da geht es dann aber auch wieder um kollektive Lösungen.

Was meinst du genau damit?

Wenn man überzeugt ist, dass es niemanden gibt, der einem hilft, dann braucht man auch gar nicht erst danach zu fragen. Ich habe das schon auch erlebt, dass viele Personen, mit denen ich zu tun habe, selber auch krasse Isolation und Gewalt erfahren haben. Was sie dann selber an Scheisse gebaut haben, war keine direkte Reaktion darauf, aber es hat auf alle Fälle dazu beigetragen, dass sie niemanden hatten, an den oder die sie sich wenden konnten.

Noch einmal zu der Frage, ob es in unserer Arbeit solche Ansätze gibt, mit denen sich die Inhaftierten mit ihren Taten und den Betroffenen auseinandersetzen. Mal abgesehen davon, dass es zu dem Zeitpunkt, an dem die Leute verurteilt werden, schon zu spät ist dafür. In Haft ist es schwer und hängt damit zusammen, dass man im Knast, wenn man zu emotional ist, damit überhaupt nicht durchkommt. Es ist viel verlangt, sich emotional zu öffnen, und das muss man für eine Reflexion. Und dann kommen auch die anderen Gefühle mit. Ich weiss nicht, wie verantwortungsvoll das ist, Leute dazu zu überreden, diese Emotion zuzulassen und dann geh ich und sie werden in die Zelle gesperrt und sind dann da mit sich alleine. Es geht also nur so weit, wie man den Umgang damit dann auch begleiten kann.

Würdest du sagen, das System Strafe und das System Knast sind reformierbar?

Nein, absolut nicht. Aus allen Gründen, die ich bisher genannt habe. Die Hoffnung auf Reformierbarkeit setzt einfach an der falschen Ebene an, die ganze Grundlage davon ist falsch. Man müsste komplett neu ansetzen, nämlich an kollektiven Lösungen. Deswegen ist das nicht reformierbar. Und auch aus dem Grund: Das einzige, was ich jetzt noch nicht genannt habe, ist der körperliche Aspekt sozusagen. Knast würde immer bedeuten, Leute, von denjenigen, denen sie nahe sind, wegzusperren. Und alleine das: jahrelang, ohne körperliche Nähe zu leben, ist schon eine ganz schon grosse Herausforderung. Sich konkret etwa vorzustellen, dass man irgendwie Jugendliche von 17 bis 21 jahrelang einsperrt – und dann erwartet, dass sie eine Form der Sexualität danach haben, die irgendwie cool ist für irgend jemanden. Dieses Konzept ist aus meiner Sicht nicht reformierbar.

Wie hältst du diesen Widerspruch zwischen deiner Perspektive und der Arbeit in diesem System aus, ohne die Perspektive, daran gross etwas ändern können?

Die Frage stelle ich mir jedes Mal, wenn ich da drin bin. Projekte wie unseres können schnell auch zu einem Feigenblatt werden. Damit meine ich etwa, als Argument herhalten zu müssen, dass es die Resozialisierung [im Sinne einer Massnahme, Anm. Red.] ja gibt. Oder auch, dass wir die Symptome in gewisser Weise abschwächen, wenn wir Konflikte tatsächlich klären. Es ist das Anstrengendste an meiner Arbeit, diese Ambivalenzen auszuhalten. Für mich persönlich wäre es aber nicht richtig, deshalb mit der Arbeit aufzuhören. Dafür ist es für mich jetzt schon zu spät. Ich finde, ich kann gleichzeitig in diesem schrecklichen System arbeiten und dagegen ankämpfen, solange es keine bessere Lösung gibt. Wenigstens gibt es diesen kleinen Raum. Die Leute, die jetzt gerade im Knast sitzen, die hätten auch nichts davon. Es wäre auch nicht gut, es aus einem linken Identitätsgrund nicht mehr zu machen, um meinen politischen Glanz nicht zu beschmutzen. Man macht es sich auch leicht, wenn man sich immer sehr stark abgrenzen kann von dem, was man kritisiert. Zuvor war Knast für mich kein Thema, bis auf Silvester dahin und ein bisschen Feuerwerk zünden. Jetzt kenne ich die Innenperspektive und gleichzeitig habe ich auch politisch eine viel klarere Haltung und eine grössere Vorstellung davon, was man besser machen kann. Ich versuche, das auch politisch umsetzen und mich nicht selber zu deradikalisieren. Und das passiert auch eigentlich nicht. Im Gegenteil, ich krieg jetzt noch viel mehr mit, wie falsch das alles ist. Ich kann dadurch auch meine Politik und meine Kritik schärfen. Ich wurde einmal gefragt, ob ich für politische Ziele meinen Job gefährden würde. Und ich war ganz beleidigt von der Frage. Weil ich mich mit meiner politischen Haltung sehr stark identifiziere und mit meinem Job halt nicht. Aber solange es da diesen Raum gibt, wo ich die Sachen machen kann, die ich vertreten kann, werde ich den auch nutzen.

Andrea Strübe
kritisch-lesen.de

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