Massenweise kleine rote Bücher 1968: Was damals gelesen wurde

Gesellschaft

21. März 2018

Kleine rote und viele andere Bücher, dritte Welten, Friedensarbeit und Spiralen der Gewalt. Ein Blick zurück.

Antikriegsdemonstration in Chicago, August 1968.
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Antikriegsdemonstration in Chicago, August 1968. Foto: David Wilson (CC BY 2.0 cropped)

21. März 2018
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Vorbemerkung: Eine wahre Flut von Literatur zum Fünfzigsten von «68» bricht über heute politisch Interessierte herein. Wir als Beteiligte sind nun eben in einem Alter, wo viele Lust und Zeit haben, über damals zu erzählen, und Nachgeborene steuern Ausgegrabenes bei. Ja, es gibt sogar Bücher zur Frage, was und wie in jenen Jahren gelesen wurde. Und die interessierten mich ganz besonders, denn 1966 habe ich als ausgebildeter «Buchhandlungsgehilfe», wie das 1960 im Lehrvertrag wirklich noch hiess, eine politische Versandbuchhandlung mit aufgebaut und dann ein turbulentes Jahrzehnt lang geleitet. Wir nannten sie «buch 2000», weil wir mitten im Kalten Krieg gezielt Lesestoff verbreiten wollten, der dazu beitragen könnte, das Jahr 2000 zu erleben. Dies schien uns keineswegs sicher. Ausgangspunkt war die Anti-Atomwaffen-Bewegung. In den Statuten der Genossenschaft wurde die Förderung von «Friedensarbeit im weitesten Sinn» postuliert.

Nach- und Antikrieg, neuere Linke

In der deutschen Nachbarschaft wurden direktere Kriegserfahrungen bereits mit mehr Tiefgang aufgearbeitet, Faschismus und Kapitalismus in ihre engen Zusammenhänge gestellt. Eine neue «Fundamentalopposition» formierte sich. Gerhard Hanloser, geboren 1972, legt in der Rückschau ein schmales Bändchen über «Lektüre und Revolte» vor. Er ist Historiker und Germanist, nennt «Neue Linke, Antisemitismus, linke Theoriebildung» als seine Arbeitsschwerpunkte, und das prägt die von ihm getroffene Auswahl. Adorno, Benjamin, Bloch ... Vorgeführt werden vorab jene «klügeren» Bücher, die bei uns zwar mit im Angebot waren, aber kaum zu meinen Lektüren gehörten.

Die oft spröden Texte aus höheren Sphären von Ökonomie, Philosophie, Politologie, Soziologie überforderten mich. Hier sind ihre Inhalte meist gut verständlich zusammengefasst. Oft waren es vor den Nazi-Jahren oder im Exil verfasste Schriften, die nach dem Krieg in der Versenkung blieben. Auch die Raubdruck- und Kleinverlags-Szene wird beleuchtet sowie die durch Basisbewegungen angestossene Dynamik bei etablierten Häusern wie etwa Suhrkamp, Rowohlt und Fischer. Plötzlich kam keine der Taschenbuchreihen ganz ohne Marx oder zumindest eine Anthologie mit Gedichten aus der Arbeitswelt aus. Auf der Buchmesse wurde diskutiert und demonstriert. Wind wehte durch verstaubte Regale.

Über längerfristige gesellschaftliche Folgen des Aufbruchs ist derzeit viel zu lesen. In der Nachbemerkung hält dieser Autor fest, dass die Revolte «schlicht scheiterte», weil sie nicht zur erhofften Revolution führte. In zentralen Bereichen blieben die Verhältnisse «unaufgehoben». Nun beherrschten wieder die «reaktionären und antiemanzipatorischen» Kräfte das Feld. Zeit also, einiges von damals wieder zu lesen? Das wäre «erhellend, wenn nicht sogar notwendig». In dem Sinne: Als knappe Übersicht empfohlen!

Mich beeindruckte beim Lesen vor allem die Klarsicht von Herbert Marcuse, von dem mir «Der eindimensionale Mensch» fast nur als Buchtitel im Kopf blieb. Er habe von der Arbeiterklasse allein wenig erwartet, Konsumversprechungen früh als Haupthindernis echter Befreiung erkannt. «Er war stets auf der Suche nach einem Ausweg aus der verkehrten Welt des Kapitalismus.» Ein hoch komplexes Unterfangen. Mao Tse-Tung dagegen wird als «der grosse Vereinfacher des Marxismus» eingeführt, dem «eine in die Krise geratene antiautoritäre Bewegung» leider zu Teilen gefolgt sei.

Nur einige «wenige rätekommunistische und anarchistische Zeitgenossen» hätten versucht, analytisch hinter die Revolutionsikone zu blicken. Die euphorisch aufgenommene Kulturrevolution sahen sie als Machtkampf, «in dem Mao gegen die neue Klasse von Managern vorging». An der Parteidominanz wurde nicht gerüttelt. Die rote «Mao-Bibel» kommt hier nur am Rand vor. Das von der Armeeführung initiierte Buch war Kampfinstrument und passte bestens zur Parole, dass «die Worte zu einer Waffe werden» sollten. Hatten wir uns dazu – Stichwort Friedensarbeit – je Gedanken gemacht? Wahrscheinlich nicht. Las ich eigentlich, was ich hundertfach verpackte? Nicht einmal Spuren in einem eigenen Exemplar liefern Indizien. In meinen Schachteln fand sich nur ein Sammelstück in chinesischer Sprache...

Massenweise kleine rote Bücher

Vorab um dieses spezielle Druckwerk dreht sich eine weitere Publikation, welche «die Bücher-Revolution der Sechzigerjahre» beleuchten will. Ausgangspunkt der Sammlung von Aufsätzen und Interviews war eine Tagung im Literaturarchiv Marbach. Zwar gibt es da (zu) viele Wiederholungen, aber die Vielfalt der Betrachtungsweisen zum tatsächlich augenfälligen Phänomen der «Mao-Bibel» ist spannend. Nicht nur das Lesen oder eben Nichtlesen des modischen Requisits, auch das «Schwenken» und «Schmücken» inklusive Buchgestaltung sind Themen. Zum zeitgenössischen Bild von Demonstrationen gehörte das rote Brevier wie Mao-Plaketten und Porträt-Plakate, obschon die Strassenproteste «nicht gerade eine lesefreundliche Umgebung» waren.

Doch politische Aspekte kommen nicht zu kurz. So bezieht Daniel Leese als Sinologe die Entwicklungen am Ursprungsort ein: «Im Sommer 1968, als der internationale Ruhm des Kleinen Roten Buches als Symbol der Jugendrevolte und Weltrevolution seinen Höhepunkt erreichte, hatte es in China jegliche emanzipatorische Wirkung verloren.» Es war Symbol einer «erzwungenen Verehrung», mit der die Massen unter den wachsamen Augen der Volksbefreiungsarmee diszipliniert werden sollten. Interessant die Sichtung der vielen Widersprüche, welche sich aus dem Mix von Zitaten aus den verschiedensten Zusammenhängen ergaben. Es wird auch noch eine konzeptionell ähnliche Mao-Schrift erwähnt. Ihr neckischer Titel: «Gegen die Buchgläubigkeit». Ein ernsthaftes Studium der Inhalte sei fast nicht möglich. «Blättert man, so verliert man den Faden und ist bereits in einer neuen Weisung, deren Gehalt man entweder ablehnen – oder ihm eben folgen kann.» Solches könne der Indoktrination und Erbauung durchaus dienen, findet Philipp Goll, ein 1984 geborener Medienwissenschaftler. Worte des «grossen Vorsitzenden» waren rituell in Gruppen zu rezitieren oder «einige seiner Sentenzen auswendig zu lernen», wie dies Armeechef Lin Piao im Vorwort empfahl.

Zwischenbemerkung: Wir hatten die vom Verlag für fremdsprachige Literatur in Peking angekündigte deutsche Fassung der Mao-Fibel in der Februar-Ausgabe 1967 unserer «information für morgen» mit Bestell-Nummer 221 angezeigt. In der Folge kam die Ziffer so oft vor, dass sie mir im Gedächtnis blieb. 222, 223, 224, 225 waren «Die drei Banner Chinas», ein Fotoband, «Gedichte gegen den Krieg», «Texte des Leidens», «Kinder von Hiroshima». Letzteres eine in der DDR verlegte Sammlung von Erfahrungsberichten. So sehr wir diese Titel empfehlend hervorhoben: Von den Bestellmengen her blieben sie weit hinter Mao. Erst drei Jahre später wurde «Das kleine rote Schülerbuch» zu einem vergleichbaren Renner, nachdem der Schuldirektor von Bern via Bundesanwaltschaft dessen Einfuhr zu unterbinden versuchte. Wir dürften uns «unsere gesunde Jugend und unsere freiheitliche westliche Kultur» nicht durch solche Schriften «unterminieren und sturmreif für den Kommunismus machen» lassen.

Hatte sich Dr. Sutermeister – er war Mediziner und Landesringler wie bei uns Alfred Gilgen – möglicherweise mehr über das aufgeregt, was der Verlag Neue Kritik hinter das antiautoritäre Pamphlet dreier Dänen setzte? Da wurde ein Buch mit «Sexualinformationen für Jugendliche» empfohlen, durch die «der Sexualunterricht an den meisten Schulen überflüssig» würde, sowie Titel aus einem «Archiv sozialistischer Literatur». Wir dankten dem Magistraten auf jeden Fall «für seine wirkungsvolle Werbung». Auch das «Lexikon der Sexualität» eines kirchennahen Verlags wurde kurz danach durch Blockaden am Zoll zum Verkaufserfolg befördert. In unserer «Outsider-Bestseller»-Liste figurierten jedoch parallel und länger «Welternährungskrise», eine wissenschaftlich fundierte «rororo-aktuell»-Dokumentation oder die von Doris Morf gediegen gestaltete Neuedition der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, zum Beispiel.

Blicke in fremde Dritte Welten

Vielleicht war das entscheidende Element beim Mao-Bestseller wirklich Exotik, wie es der letzte Beitrag zum kleinen Roten aus Peking antönt – «ein weiteres seltsames Buch dieser Jahre, das von weit herzukommen scheint». Genau hinsehen mochten wir damals nicht. Zu gern hörten wir in der polarisierten Welt die Botschaft vom dritten Weg mit der Dritten Welt und einem sozialistischen China. Mao Tse-tung «als Gedichte schreibender Staatsmann und Militärführer lud zu verschiedenen Arten der Aneignung ein», schreibt Benedikt Sepp. Die «intensives Lesen gewohnten Theoretiker der Studentenbewegung» hätten beim Aufkommen des Breviers mit sich oft widersprechenden Zitaten allerdings Bedenken gehabt, zumal «des Anflugs von Unernst» wegen. Rudi Dutschke forderte in diesem Zusammenhang eine «revolutionäre Theorie», welche «die kritische Bewusstheit der Menschen auf das höchstmögliche Niveau hebt».

Später aufkommende K-Gruppen begannen dann, Mao «richtig zu lesen», für die je eigene Praxis «aus der Revolution der Dritten Welt zu lernen». Nach den blauen mit Marx/Engels wurden «die gelben Bände» von Mao durchgeackert. Die marxistisch-leninistischen Parteien wechselten vom Protest zu straffer Disziplin, um dem Volke zu dienen. Doch auch «diejenigen, die den Staat mit der Waffe bekämpfen» wollten, etwa bei der RAF, wurden fündig. Es stand ja schon in der kleinen Bibel: «Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen», und «der Feind wird nicht von selbst untergehen». Sie war für Soldaten gedacht.

Erst in einer späteren Phase wurde die Sammlung breit gestreut, zur Pflichtlektüre für alle erklärt und mit Millionenauflagen weltweit verbreitet. Allein der Druck der Werke von Mao erforderte zwischen 1966 und 1970 eine Papiermenge von 650'000 Tonnen, mehr als die zwischen 1949 und 1965 für alle Druckerzeugnisse in ganz China verbrauchte. Die kleine rote folgt mit offiziell einer Milliarde Exemplaren der klassischen Bibel «als dem am häufigsten gedruckten Buch der Welt auf dem zweiten Platz». Mit viel Abstand zwar; sie habe auch keine fünf Jahrhunderte, sondern nur ein Jahrzehnt massenhafter Verbreitung gehabt. Antiquarisch lassen sich noch immer Exemplare zu erschwinglichen Preisen finden. Aus einschlägigen Angeboten wird nicht ohne Ironie zitiert. «Sehr gut, fast ungelesen», oder «keinerlei Einträge». Der wetterfeste Kunststoffeinband «mit goldener Beschriftung» sei «schön».

Übrigens: Vor den Sommerferien mussten wir die Kundschaft betreffend «Mao-Brevier» vertrösten. Es seien «nicht genügend Exemplare der Pekinger-Ausgabe eingetroffen, um alle eingegangenen Bestellungen zu erledigen». Wer statt dieser das inhaltlich gleiche, mit Hintergrundtexten versehene Fischer-Taschenbuch wünsche, möge sich melden. Es dürften wenige gewesen sein. Direkt über dem Hinweis zeigten wir die neu erschienene Übersetzung einer Schrift des Schahs von Persien an: «Die soziale Revolution Irans». Es sei laut Verlag «eine authentische Quelle ersten Ranges». Wir empfahlen aber, den Band «nur zusammen mit dem Persien-Bändchen von B. Nirumand zu lesen», das auf Platz 5 unserer Bestsellerliste Frühjahr 1967 stehe. «Modell eines Entwicklungslandes oder Die Diktatur der Freien Welt» lautete dessen Untertitel. Vor ihm auf Platz 2 das Mao-Brevier. An der Spitze stand «Populorum progressio», die sogenannte Entwicklungsenzyklika von Papst Paul VI. Auf der nächsten Liste finden sich Mao und Nirumand auf den Plätzen 1 und 2. Auch ein neues «Kursbuch» mit «Vermutungen über die Revolution» und der Aufruf von Che Guevara, «zwei, drei, viele Vietnam» zu schaffen, hatten den Papst überholt.

«68» als Umbruch eines Lebens

Diese letzte Zwischenbemerkung schlägt die Brücke zur schon 2011 erschienenen, aber nach wie vor lieferbaren Autobiographie von Bahman Nirumand. Sie enthält drei Kapitel, in denen die Zeit vor, inmitten von und nach «68» aus persönlicher, zugleich aber höchst politischer Sicht dargestellt wird, dramatisch und knapp. Zentral ist der 2. Juni 1967, als Benno Ohnesorg bei Protesten gegen einen Schahbesuch in Berlin erschossen wurde. Ab dem Tag war der relativ privilegierte Perser, welcher zum Studium nach Deutschland gekommen war, nicht nur Exilaktivist, sondern ein als Zeuge gefragter, gebrauchter, oft missbrauchter Publizist. Es war nicht der letzte Umbruch seines Lebens, doch wohl der markanteste.

In seinem Rückblick finden sich aufschlussreiche Differenzierungen: So wird etwa der quasi polizeistaatliche Fortschritt unter dem Schah-Regime, den er enger familiärer Verknüpfungen wegen von sehr nah sah, durch den katastrophalen Verlauf der dort erfolgten, ersehnten Revolution zwar nicht positiver, aber anders bewertet. Er bilanziert auch in Deutschland nach dem Übergang in die Siebzigerjahre ein «Ende mit Schrecken». Dutschke-Attentat, RAF, Gewalt und Gegengewalt – «eine fatale Spirale». Was seine Lektüren jener Jahre betrifft: Zu den ersten, die den jungen Menschen in Deutschland berührten, gehörten «Der Prozess» von Kafka, «Der Fremde» von Camus und – wie bei mir – «Draussen vor der Tür» von Wolfgang Borchert. Theorie kam später.

Hans Steiger /Infosperber