Soziale Voraussetzungen für den technologischen Angriff Das Smartphone und die Apps

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29. Januar 2021

In Deutschland nutzen circa 60 Millionen Menschen ein Smartphone; das sind immerhin circa 75% der in Deutschland lebenden Menschen.

Das Smartphone und die Apps.
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Das Smartphone und die Apps. Foto: TitiNicola (CC BY-SA 4.0)

29. Januar 2021
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Was vor 13 Jahren noch eine Neuheit war, ist heutzutage aus dem Strassenbild gar nicht mehr wegzudenken. Menschen zücken überall und zu jeder Gelegenheit ihr Smartphone, sei's beim Spazierengehen, sei's im Café oder in der Bahn. Ob sich jemand dabei in Gesellschaft bendet oder nicht, spielt zunehmend keine Rolle mehr; immer häu ger ist anzutreffen, dass Menschen im Rahmen der gemeinsamen Zeit einfach zeitgleich ihr Smartphone nutzen und dies wie selbstverständlich in ihre Gespräche einbinden.

Die Frage, die sich stellt ist, wieso dies eigentlich so gekommen ist, obwohl die Technologie zur Fernkommunikation zu Anfang eigentlich immer auf Skepsis und Ablehnung gestossen ist. Leicht könnte gesagt werden, dass dies ganz einfach bei jeder Technologie so sei, als ob damit irgendetwas erklärt wäre, anfängliche Technologiefeindlichkeit und darauf folgende Akzeptanz wird zum „natürlichen“ Umgang der Menschen mit Neuem.

Tatsächlich scheint es ja bei der Fernkommunikation vielmehr explizite Gründe zu geben, warum gerade diese als Technologie abgelehnt wurde und es ja auch anhaltend der Werbung bedarf, um die Geräte anzupreisen und Menschen zum anhaltenden Kauf immer neuer Geräte zu animieren, obwohl die Grundfunktionen weitestgehend die gleichen bleiben. Denn im Grunde bleibt es bei der Möglichkeit vom Versenden von Textnachrichten wie bei der Telegrafie (ein beliebter Messenger heisst dementsprechend auch „telegram“) und dem Telefonieren.

Wenn etwas neu sein sollte, dann ist es die Verdichtung verschiedener Geräte in einem: die zahlreiche Funktionen des Smartphones waren aufgeteilt in etliche Einzelgeräte wie Fotokamera, Videokamera, Walkman, Homecomputer, Telefon, Kalender, Telespiel.

Jemanden, der dies alles auf einmal mit sich herumgeschleppt hätte, hätte man wohl nicht nur aufgrund der blossen Anzahl an Geräten für eine*n Idiot*in gehalten. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass das Smartphone und vorher das Handy als moderne Technologien dem Menschen gegenüber eine in ihrer technischen Komplexität begründeten Fremdheit innewohnt. Denn Telegraphen oder das Telefon waren Technologien, die im Grunde schon durch einen halbwegs gebildeten Menschen nachgebaut werden konnten, der Unterschied vom Dosentelefon und dem Telefon, das mit elektrischer Spannung arbeitet, ist im Grunde marginal.

Eine lichtempfindliche Fotoplatte konnte wohl in den Anfängen der Fotogra e auch noch der Fotograf selbst herstellen. Demgegenüber besitzen die gegenwärtigen Computertechnologien einen so hohen Komplexitätsgrad, dass selbst mit technischer Vorbildung die genaue Funktionsweise im Grunde rätselhaft bleibt.

Was genau ein Chip im Computer oder eben im Smartphone eigentlich macht, was der Unterschied zwischen dem BIOS beim Computer, dem Betriebssystem, der gra schen Benutzerober äche und der dann am Ende vornehmlich genutzten Software, oder eben beim Smartphone der Unterschied zwischen Kernel, Middleware, application execution environment, user interface framework und der application suite ist, ist bei weitem kein Allgemeinwissen.

Beim Smartphone ist wohl hauptsächlich der letzte Aspekt, die application suite, bzw. die einzelne genutzte App bekannt. Dass das Smartphone quasi auf jeder dieser Ebene anfällig ist für Spionage durch Ermittlungsbehörden und Wirtschaftsforschung (etwa mit dem Ziel der Werbeoptimierung), ist durch zahlreiche Skandale längst bekannt. Die Nutzung des Smartphones ist insofern nur dann unbefangen möglich, wenn die Bedrohlichkeit, die in die Struktur des Smartphones eingegraben ist, verdrängt wird.

Grund für diese anhaltende Verdrängungsleistung zwecks unbefangener Nutzung in jedem Bereich des Alltags einer eigentlich dem Menschen fremden Technologie, ist demgegenüber nicht nur Erfolg der Werbung. Vielmehr hat die Werbung Erfolg, weil sie auf ein Problem der Menschen heutzutage eine Antwort verspricht.

Das Problem ist dabei eins, dass mit der Ende des 18. Jahrhunderts einsetzenden Industrialisierung und der damit einhergehenden und bis heute immer weiter fortschreitenden Zersetzung aller Lebensbereiche einsetzte. Dies bedeutete sowohl die Au ösung traditioneller sozialer Bindungen (die aber keineswegs bloss positiv gewesen sind), wie auch die Zersetzung des Subjekts, das sich noch in Differenz zu seiner Umwelt erlebte und dieser gegenüber sich trotzdem nicht ins Abstrakte hin au öste.

Beispielhaft für die Au ösung der sozialen Bindungen wurden oben bereits die sich au ösenden Familienzusammenhänge beschrieben, welche mit der massenhaften Migration von Europa in die USA zusammenhingen. Der Rückgri auf die Technologie sollte eine reale Distanz überbrücken, das Gleiche, was Nokia heute noch mit seinem „connecting people“ verspricht.

Der Prozess der Zersetzung hat sich in die heutige Zeit hinein aber so weit gesteigert, dass sich die Distanz zwischen den Menschen selbst im räumlichen Nahbereich maximiert hat.

Soziale Bindung ohne ständiges Verabreden via Chats und Messengern scheint selbst in engen Freundschaften undenkbar, vielmehr drückt sich die enge Freundschaft häufig schon dadurch aus, dass regelmässiger Kontakt über Sozial Media und Messenger miteinander aufrechterhalten wird und Beiträge im Social Media geteilt und geliked werden. Verbundenheit und sozialer Kontakt, als etwas im Grunde sehr einfaches, bedarf nun der technischen Apparatur.

Das verweist auf die Situation, in der sich scheint es immer mehr Menschen be nden und deutet ebenso auf den Grund hin, wieso immer mehr Menschen die banalsten Dinge an „Apps“ abgeben möchten. Verantwortung für das eigene Handeln soll so weit es geht von einem selbst wegdeligiert und an eine technische und damit gedacht rationale Maschine abgegeben werden. Der Verfall des Vermögens Verantwortung zu übernehmen ist dabei keineswegs vor allem subjektives Versagen, sondern vielmehr Ausdruck einer Gesellschaft, in welcher niemand mehr Verantwortung für sein Leben und Handeln übernehmen soll.

Verantwortung zu übernehmen setzt voraus, dass jemand in ein reflexives Verhältnis zu seiner Umwelt tritt und Entscheidungen aufgrund seiner eigenen Wahrnehmung und Reflexionen dieser trifft. Aber schon auf der Ebene der Wahrnehmung scheitern die Menschen. Nicht nur, dass Annahmen darüber, wie die Welt sein soll oder sein sollte, den Blick auf die Welt verschleiern.

Zugleich ist die Welt an sich so unerträglich geworden und die gesellschaftliche Wirklichkeit so komplex, dass der Blick auf sie absichtsvoll gemieden wird und Sinnesorgane betäubt werden, wo sich nur die Gelegenheit dazu bietet (wie etwa durch das Tragen von Kopfhörern und dem Hören von Musik, um sich dem Strassenlärm oder Gesprächen anderer Leute in der Bahn o.ä. zu entziehen).

Zunehmend wird die Welt über Bildschirme und Lautsprecher wahrgenommen. Dadurch fehlt dem Menschen schon die Grundlage für seine Entscheidungen, die auch ohne eine solche Betäubung jedoch kaum herzustellen ist, da die Welt im weitesten Sinne eine widersinnige und damit schwer durchschaubare Struktur entfaltet hat, sowohl im technologischen wie auch im gesellschaftlichen Sinn.

Mit der technologisch immer weiter fortschreitenden Beherrschung der Natur geht einher, dass der Mensch auch seine eigene Naturhaftigkeit, die ihm durch den eigenen Körper gegeben ist, beherrscht. Dies hat zur Folge, dass er sich selbst als Sache betrachtet und so behandelt, zugleich davon ausgehen muss, auch so behandelt zu werden. Das der Mensch sich selbst nicht als Subjekt sondern als Objekt seiner Gestaltung sieht, findet seinen Ausdruck in der intensiven Selbstinszenierung, sowohl in der Fokussierung auf die Ausgestaltung des eigenen Körpers, wie auch die Repräsentation des eigenen Lebens im Social Media. Die Selbstvermarktung als Objekt wird hier jedoch nicht nur durch Geld bezahlt, sondern vor allem auch durch Likes, durch Zustimmung und Bewunderung.

Da die Menschen in der Ermangelung sozialer Bindungen von dieser eher ober ächlichen Art von Zuwendungen immer abhängiger werden, sind sie bereit, sich selbst so zu gestalten, dass sie diese erfahren. Hierzu gehören das intensive Betreiben von Sport zum Erwerb eines dem allgemeinen Schönheitsideal entsprechenden Körpers, das Nachbearbeiten dieser Bilder via Software, sowie der Selbstinszenierung als moderner und progressiver Mensch durch das Bejahen von Allerweltsslogans, ebenso wie das zur Schau stellen vermeintlicher Schwächen; wer unkaschierbar solche hat, trägt sie immerhin noch selbstbewusst zur Schau, um für dieses inszenierte Selbstbewusstsein noch Anerkennung zu erfahren.

In diesem Kontext bedeutet Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen nichts anderes mehr, als sich selbst entsprechend den allgemeinen Erwartungen und sei es auch nur denen der eigenen „Peer-Group“ zu gestalten. Verantwortung übernehmen heisst hier nur noch, „den eigenen Schweinehund überwinden“, wenn es um den eigenen Widerwillen gegenüber der sportlichen Betätigung geht, der Verzicht auf ungesunde Speisen und Genussmitteln, sich selbst zu disziplinieren um im Grunde genommen leere und sinnlose Ziele zu erreichen, sowie überhaupt ein Verhalten an den Tag zu legen, an dem sich niemand mehr stören kann.

Ein „es stört sich jemand an mir“ wird eben denn auch schnell dazu führen, dass die gewünschten Likes ausbleiben oder sich sogar in ihr gefürchtetes Gegenteil, die Dislikes verwandeln, welche zum noch mehr gefürchteten Shitstorm führen können. In diesem Fall bedeutet Verantwortung übernehmen nicht mehr, als sich von dem, was zu den Dislikes geführt hat, zu distanzieren und so zu signalisieren, dass man „verstanden“ hat.

Ein solcher Umgang mit sich selbst und der Welt zeigt an, dass die Übernahme von tatsächlicher Verantwortung nicht mehr zu erwarten ist und darüber hinaus auch für zukünftige Zeit erschwert wird. In genau diese Welt entfaltet sich die Technologie von Smartphones und Apps. Wo Verantwortungsübernahme die Zurichtung des Körpers hin zum allgemeinen Wohlgefallen ist, es aber misslingt, sich selbst ausreichend zu disziplinieren, wird die App zum Hilfsinstrument kraft ihrer technischen Autorität, ebenso wie einen eine Bandbreite banaler und ewig gleicher Spiele vom Kummer der Welt ablenken können. Gerade jene, denen im Leben der gesellschaftliche und wirtschaftliche Erfolg verwehrt bleibt, können durch das Erlangen immer neuer Scores ihren Wert in Form von Leveln und Punkten technisch anzeigen lassen.

Zudem vermitteln die Angaben darüber, wie oft eine App bereits heruntergeladen wurde ein Gefühl von Zugehörigkeit zu einer grossen Gemeinschaft, der Gemeinschaft der vernetzten Menschen, der schon zu Zeiten der Verlegung der ersten telegra schen Unterwasserkabel das Progressive angedacht wurde. Die Internetcommunity gilt als Gemeinschaft fortschrittlicher und welto ener Menschen, die die nationalen Grenzen, wie auch die Grenzen zwischen den Menschen überwunden haben.

Die Teilhabe an einem gemeinsamen, positiven Projekt gehört seit ihren Anfängen zur Rhetorik der grossen Tech-Firmen und wird durch twitter, facebook und Co auf die Spitze getrieben. Facebook machte im Rahmen der Corona-Pandemie Werbung mit dem Titel „we're never lost if we can nd each other“ („Wir sind nie verloren, wenn wir uns gegenseitig nden“), wo leere Plätze gezeigt wurden, die dann mit Bildern menschlicher Zuneigung, welche über das Internet verbreitet wurden, konterkariert wird. Der Spot endet mit dem Spruch „we can o er help if you need it“ („Wir können Hilfe anbieten, wenn Du welche brauchst“), das Ganze unterlegt mit kitschig-trauriger Musik am Anfang und ho nungsfroher Musik am Ende.

Twitter zeigt in ihren Spots neben einigen Promis die „coole“ tweets vorlesen, gerne verlorene Menschen (mal sozial, mal räumlich), die durch die Nutzung von twitter wieder in eine Gemeinschaft aufgenommen werden, während ein Hipster als twitter-Ratgeber hilft, die einfachsten Funktionen zu bedienen und Sprüche wie „i like that you like stuff“ („Mir gefällt, dass dir Sachen gefallen“) von sich gibt.

Verantwortung übernehmen heisst hier, sich an ein digitales Netzwerk anzuklinken und sich in diesem an den positiven Dingen zu beteiligen. Was positiv ist, ist das, was positive Gefühle auslöst; negativ ist, was negative Gefühle auslöst. So hat jede*r Nutzer*in im Social Media die Verantwortung, positive Gefühle bei anderen auszulösen, und zugleich dafür zu sorgen, diejenigen, die negative Gefühle verbreiten, an den positiven Grundtenor des Netzwerkes anzupassen oder aus dem Netzwerk zu verbannen.

Struktur des technologischen Angriffs

Wenn wir nun die Voraussetzungen für den technologischen Angri in Hinblick auf das Funktionieren von Apps kurz angeleuchtet haben, stellt sich als nächstes die Frage nach dem technologischen Angri , seiner Struktur und seinen Zielen. Der einzelne Mensch in der heutigen Gesellschaft ist isoliert und betrachtet sich selbst als Objekt gesellschaftlicher Anforderungen, die zu erfüllen sind; dies mag grundsätzlich betrachtet werden als ein blosser Effekt der gegenwärtigen, menschlicher Kontrolle und Verständnis weitestgehend entglittenen Gesellschaft.

Wenn dies auch so ist, so deckt sich dieser Umstand doch mit staatlichen und wirtschaftlichen Interessen. Diese wiederum sind im allgemeinen Ausdruck des Interesses der gegenwärtigen Elite, ihren Elitenstatus zu bewahren. Das bedeutet zum einen, die grundsätzliche Aufteilung der Menschen in Wohlhabende und Arme, obwohl ja die Möglichkeit, diese Aufteilung abzuscha en besteht, zum anderen sich selbst gegen andere, die einem die Elitenposition streitig machen wollen, abzusichern.

Dazu ist es keineswegs notwendig, die gesellschaftliche Struktur in besonderer Weise zu durchdringen oder zu kennen; die grundsätzliche Unkenntnis über gesellschaftliche Strukturen teilen die Eliten mit dem Rest der Gesellschaft. Notwendig ist es vor allem, die Mittel und Instrumente, die zur Verfügung stehen, sinnvoll nutzen zu können, wie auch, die Mittel und Instrumente so verschleiern zu können, dass das Interesse des eigenen Machterhalts verborgen bleibt und es dem Rest der Gesellschaft als das Gegenteil zu verkaufen: als etwas zu verkaufen was nicht der Elite, sondern dem allgemeinen Interesse dient.

In Bezug auf den technologischen Angri ist ein zentrales Mittel der Verschleierung das vordergründige Delegieren von Herrschaft an die Technologie selbst, sowie die Verschleierung dessen, dass es überhaupt noch um Herrschaft geht, des weiteren, dass die Menschen in der Gesellschaft sich am Ausüben von Herrschaft beteiligen, ohne dass sie sich dessen bewusst sind. Hierzu ist mit zunehmender sozialen Isolation der Menschen immer weniger nötig. Die aus der Einsamkeit resultierende Not macht sie anfällig für kleinste Gesten der Zuwendung, die mittlerweile sogar von technischen Geräten kommen kann.

Wer nach Aufmerksamkeit und Anerkennung sucht, weil es an zwischenmenschlicher Wärme fehlt, war schon immer leicht zu manipulieren, indem Aufmerksamkeit und Anerkennung dann gewährt werden, wenn ein gewünschtes Verhalten gezeigt wird, genauso wie sie wieder entzogen wird, wenn unerwünschtes Verhalten zutage tritt. Doch setzte dies lange Zeit die physische Anwesenheit desjenigen voraus, der jemanden zu manipulieren wünschte, mindestens die Anwesenheit von Helfer*innen, mit der Zeit zunehmend ersetzt durch technische Apparaturen wie zuerst das Radio, dann das Fernsehen, dann das Internet und das Smartphone.

Die Software auf dem technischen Gerät, dass man immer bei sich trägt, ersetzt heute die Begleitung durch einen im Dienste der Macht stehenden Menschen, der lobt und tadelt, im weitesten Sinne die Rolle der Eltern. Der Nachteil früher, dass die tatsächliche Anwesenheit eines Agenten der Herrschaft nötig war, war zugleich auch einer für die Beherrschten, denn so konnte Lob auch nur dann erlangt werden, wenn das eigene angepasste Verhalten positiv bemerkt wurde.

Die Abwesenheit ständiger Überwachung führte dazu, dass es sogar möglich war, dass angepasstes Verhalten viel zu wenig oder gar nicht bemerkt wurden, oder sogar das Verhalten anderer negativ auf einen abfärben konnte. Der Vorteil durch das Smartphone für den Menschen, der Anerkennung und Aufmerksamkeit erlangen will, ist, dass ganz persönlich das bloss eigene Verhalten bewertet wird und dies, sofern jemand es will, hinsichtlich so ziemlich aller Lebensbereiche.

Der Werbespruch von Apple „there's an app for it“ („Es gibt eine App dafür“) bedeutet nicht nur, dass es für alle möglichen „Probleme“ eine „Lösung“ gibt, sondern auch, dass es für quasi jedes und sei es noch so alltägliche und gewöhnliche Verhalten eines Menschen eine App gibt, die den Alltag in eine Aneinanderreihung von Achievements verwandelt und das Erreichen eines bestimmten Ziels belohnt.

Dabei wird das Erreichen des Ziels dargestellt als das Erreichen eines wissenschaftlich ermittelten oder gesellschaftlich als wünschenswert erachteten sinnvollen Ziels, ungeachtet der Tatsache, ob es das überhaupt ist (als ein Beispiel: Es gibt mittlerweile eine Reihe von Tracking-Apps, die die Anzahl der Schritte am Tag festhalten, mit der Vorgabe 10.000 Schritte am Tag zu gehen, verbunden mit der Behauptung, dies sei gesund. Tatsächlich ist die Anzahl von 10.000 Schritten begründet in einem Marketing-Spielzeug, welches anlässlich der olympischen Sommerspiele in Japan auf den Markt gebracht wurde.

Die Firma Yamasa brachte den ersten tragbaren Schrittzähler heraus, unter dem Namen Manpo-Kei, was übersetzt ungefähr „10.000 Schritte Zähler“ bedeutet. Die Zahl wurde aber aufgrund des gut klingenden Namens gewählt, mit der Ho nung, dies möge sich anlässlich der Olympiade gut verkaufen lassen, unter anderem, weil es für den westlichen Markt als „japanisch“ klingend eingestuft wurde. Aus diesem völlig sinnfreien Plastikspielzeug, welches bei kleinen Erschütterungen Miniwalzen weiterspringen lässt, wurde eine weltweit verbreitete Zahl, wie weit ein Mensch im Sinne der eigenen Gesundheit am Tag zu gehen habe. Das Wissen, dass Bewegung gesund ist, ist dabei vollkommen banal; dass Bewegung jedoch etwas ist, was auch ohne Gesundheitsgewinn erfreulich ist, scheint dabei völlig in den Hintergrund zu treten).

Erst mit der App oder dem Tracking-Armband lohnt es sich, sich auch permanent an irgendwelche Regeln und Vorgaben zu halten. Das Erfüllen von Achievements wird belohnt, sowohl von der App selbst durch beispielsweise einen überdimensionierten grünen Haken oder einen Smiley, einen wohlklingenden Sound, darüber hinaus kann es im Social Media geteilt werden, wo dann noch gleich die Anerkennung der anderen erwartet wird. Worauf diese Entwicklung abzielt, ist ein Mensch, der bloss noch das macht, was eine Maschine ihm sagt, eine Entwicklung, die sich bereits an vielen Stellen zeigt und die durch den zunehmenden Einsatz künstlicher Intelligenz mehr und mehr Verbreitung ndet.

Die Frage danach, warum trotz aller bekannten Überwachung, die mit Smartphone und Apps zusammenhängt, trotzdem die Nutzung durch die Menschen sogar noch intensiviert wird, liegt wohl genau daran, dass die Überwachung als solche gar nicht abgelehnt, sondern sogar gesucht wird, so lange es die genannten positiven Effekte hat. In diesem Setting ist der Erhalt einer gesellschaftlichen Struktur, welche die Eliten unangetastet lässt, sehr wahrscheinlich; bis zur Wirklichkeit und ihrer Struktur reicht der Blick nicht mehr. Er endet schon an der Ober äche, wo es nur noch um Zustimmung oder Ablehnung, like und dislike geht und vor allem um das persönliche geliked werden, oder darum, irgendwelche Scores und Highscores zu teilen, welche den persönlichen Wert objektiv abzubilden scheinen.

Die traurige Folge hiervon ist aber nicht nur, dass die Veränderung der Verhältnisse dadurch erschwert wird, sondern auch die Weise, wie sie erschwert werden: Wir hören auf uns gegenseitig anzuschauen und hören auf, angeschaut zu werden; übrig bleibt das blosse Ga en auf die ober ächliche Selbstinszenierung, das auch im noch so schönen Bild schon immer auf der Suche nach dem Makel ist, mit welchem die Inszenierung denunziert werden kann, zweifellos aber nicht, um den Menschen dahinter anzusehen, sondern um für das eigene Bild mehr Platz im Scheinwerferlicht zu haben.

Der Eindruck mag entstehen, dass sich hieran erst vieles ändern müsste, damit überhaupt etwas im Sinne einer gesellschaftlichen Veränderung möglich wäre, aber vielleicht wird auch andersherum ein Schuh daraus: Die Revolution kommt nicht erst dann, wenn die Menschen den Zustand ihrer eigenen Unfreiheit überwunden haben und nicht mehr von sich selbst und von anderen isoliert sind. Sondern die Revolution beginnt in den Momenten, wo wir überhaupt damit anfangen.

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