Die folgenden Argumente sind für Jugendliche unter 16 Jahren nicht geeignet Internet-Zensur

Digital

17. November 2000

Zensurdienstleistungen in 1.000 Geschmacksrichtungen: Eine freiwillige Selbstkontrolle soll das Internet säubern. Google hat eine Suchoption, die gleich voreingeschaltet ist. ‘Offensive content reducing filter' heisst das Ding, das ich benutzen soll. Eine Zensur findet nicht statt – soll das nun nicht mehr gelten?

Google Campus in Mountain View, Kalifornien.
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Google Campus in Mountain View, Kalifornien. Foto: Sebastian Bergmann (CC BY-SA 2.0 cropped)

17. November 2000
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Nein, die Bertelsmann-Stiftung und ihresgleichen setzen die Verfassung nicht ausser Kraft, weder absichtlich noch de facto. Im Gegenteil: Um zu erreichen, dass sich mit dem Medium Internet in Zukunft noch viel Geld machen lässt, will sie, dass die Meinungsfreiheit geachtet wird.

Jeder soll sich – sowohl aktiv als auch passiv – am Informationsaustausch übers Internet beteiligen können, weil jeder ein potentieller Geschäftspartner ist. Das soll ohne Ausnahme gelten: auf Seiten der Anbieter für Pornohändler, auf Seiten der Konsumenten für Kinder.

Sie sind alle potentielle Geschäftsfaktoren. Ihren Zugang zum Internet prinzipiell zu behindern hiesse, das Gedeihen der ganzen zukunftsträchtigen Branche zu behindern. Einen Sonderfall stellen als Anbieter 'Extremisten' dar, denen es überhaupt nicht ums Geldverdienen geht, und die für das Geschäft keine unmittelbare Störung darstellen. Zu diesen später mehr. Das Internet soll für die Konsumenten ein sauberes, heiles und harmloses Werbe- und Verkaufsmedium sein.

Das schliesst sich mit dem prinzipiellen Respekt vor dem Geschäftsinteresse eines Pornohändlers aus. Da dem nichts verboten werden soll, ermöglicht die Bertelsmann-Stiftung eine Zensur, der man sich jederzeit freiwillig unterwerfen kann, quasi als Dienstleistung. Dieses absurde Angebot soll die angesprochenen Konsumenten angesichts des 'Schunds' im Internet beruhigen. Hat dieses Angebot tatsächlich eine beruhigende Wirkung, lässt das auf das Selbstbewusstsein der beruhigten Konsumenten schliessen: Das Angebot, sich freiwillig einer Zensur zu unterwerfen, kann nur jemanden locken, der sich nicht traut, über die Wahrheit oder Falschheit einer Website genauso gut urteilen zu können wie ein Zensor.

Da Menschen mit Willen und Verstand begabt sind, werden sie nie als willenloses Anhängsel einer Website denken und handeln. Für die Kindererziehung ist die angebotene Zensur ebenfalls nicht nützlich. Seinen Kindern mag man noch manches beibringen müssen – doch das ist etwas komplett anderes, als sie vor 'falschem Wissen' zu schützen. Die Alltagserfahrung, dass sich Kinder schnell für die unterschiedlichsten Absurditäten begeistern können, trifft zwar zu, andererseits ist jedoch diese Begeisterung meist kurzlebig. Ab einer gewissen Lebensphase treten bei den allermeisten ein paar – mehr oder weniger rationale – Argumente in den Vordergrund, die dann für längere Zeiträume dafür bestimmend sind, was man für gut oder wahr hält.

Welchen Argumenten man sich dann wie anschliesst, das hängt nicht davon ab, ob man sie kennengelernt hat oder nicht. Früher oder später lernt man sie ohnehin kennen, selbstverständlich auch Argumente von Nazis. Wer sich nicht sicher ist, was es vielleicht mit ihm oder seinen Schutzbefohlenen macht, eine Nazi-Website zu betrachten, der ist sich darüber unsicher, warum er kein Faschist ist. Diese Unsicherheit ist weit verbreitet, was uns angesichts des Staatsbürgerbewusstseins, das heute und hierzulande im Umlauf ist, auch gar nicht wundert.

Aber das ist ein anderes Thema. Die Zuständigkeiten für die Bekämpfung des 'Extremismus' im Internet sind klar verteilt. Nachdem neue Nazi-Gewalttaten bereits als die offizielle Füllung des deutschen Sommerlochs 2000, herhalten mussten, kündigten Bundeskriminalamt und CDU Negativlisten an, mit deren Hilfe Anhänger wahlweise der deutschen Staatsgewalt oder ihrer parlamentarischen Opposition künftig die faschistische Propaganda freiwillig wegzensieren können. Während regimetreue Bürger anderswo, geht es nach den Plänen der Bertelsmann-Stiftung, zu Negativlisten greifen dürfen, die vielleicht alle Bilder von Schweineverzehr und unverschleierten Frauen aussortieren.

Was hier wegzensiert wird, mag dort durchgehen – und umgekehrt. Neue Dimensionen des virtuellen Tourismus tun sich auf: Warum sich nicht ein paar Mausklicks lang von den kulturellen und politischen Autoritäten anderer Herren Länder zensieren lassen? Im Zeitalter der multikulturellen Zensur-Dienstleister brauchen nicht einmal mehr nur die Obrigkeiten das Sagen zu haben.

Wer mag, wählt aus dem Angebot moralischer Autoritäten, wie einen Internetfilter zur automatisierten Kinderbetreuung (eines der marktführenden Produkte heisst allen Ernstes "Net-Nanny"). Auch massgeschneiderte Filter für surfende Unternehmensangestellte sind bereits auf dem Markt. Die bezahlte Arbeitskraft soll schliesslich nicht für überflüssige Tätigkeiten verschwendet werden. Der Filter am Arbeitsplatz sichert dem Arbeitgeber nur, was ihm laut Arbeitsvertrag in der Tat zusteht, nämlich die Dienstbarkeit seiner lohnabhängig Beschäftigten.

Zahlreiche weitere Möglichkeiten der gegenseitigen Zensur für lauter Leute, die sich ihres eigenen Verstandes nicht so ganz sicher sind, zeichnen sich bereits ab. All der 'Schund', auf den prinzipiell alle nach wie vor Zugriff haben, ist nur noch in der imperialistischen Propaganda des freien Westens von Bedeutung. Man wird daran erinnert, dass es sich gerade diesem 'Schund' zuliebe lohnt, nicht vom Irak, der Volksrepublik China oder Libyen regiert zu werden, die gewisse Websites zwangsweise zensieren wollen. Auch die Bertelsmann-Stiftung hat es nicht versäumt, ein weiteres mal diesen Bonuspunkt des freien Westens im Systemvergleich abzuholen.

So wurde stolz verlautbart, dass ausländische Staatsführungen bereits Interesse daran angemeldet hätten, ihre Untertanen zum Gebrauch spezieller Negativlisten zu zwingen. Dieses Ansinnen habe man selbstverständlich zurückgewiesen. Wie edelmütig! Doch die Unterhaltungsindustrie stampft keine Millionenprodukte wie "Star Wars Episode 1" aus dem Boden, nur um dann noch mal eine Fassung zu drehen, in der Queen Amidala verschleiert auftritt. Westliche Firmen haben ein Interesse daran, bei chinesischen Bürgern mit Werbung zu landen – im typisch westlichen Anzeigenumfeld á la MTV, für Produkte, die freilich nur gegen baren Euro, Dollar oder Yen zu kaufen sind.

Zwangsweise eingeführte Negativlisten würden sie nur dabei behindern – warum sollten Leute wie Bertelsmann der chinesischen Regierung bei deren Einführung helfen? Fragen über Fragen. Die Net-Nanny kennt ganz gewiss ein paar Antworten ohne Risiken und Nebenwirkungen.

Junge Linke