Vor zehn Jahren ist die digitale Boheme ausgerufen worden Wir nannten es Arbeit

Digital

13. April 2016

Laptop auf den Knien, die Profile in sozialen Netzwerken bearbeiten, Ideen entwickeln, Informationen aufsaugen, rund um die Uhr online – nennen wir das Arbeit?

Die digitale Boheme: Wir nannten es Arbeit.
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Die digitale Boheme: Wir nannten es Arbeit. Foto: Mario Sixtus (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

13. April 2016
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Inzwischen ist diese Frage in den Hintergrund getreten, denn seit gut einer Dekade ist all das Normalität. Grund genug, um der Sache doch nochmal auf den Grund zu gehen. Der Autor und Dozent Timo Daum bilanziert:

Vor zehn Jahren erschien Holm Friebes und Sascha Lobos Wir nennen es Arbeit: Die digitale Boheme oder, Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung. Eine neue urbane Klasse trat auf den Plan: Die “digitale Boheme”. Kreativ, mobil und unkonventionell schickte sie sich an, neue Technologien endlich selbstbestimmt zu nutzen und Arbeit für sich neu zu definieren: Mit Laptop bewaffnet machte sie sich auf ins Café, um leichtes Geld in der Online-Ökonomie zu verdienen, so die Vorstellung der Autoren. “Sie verdienen Geld mit Werbebannern auf ihren Websites, handeln mit virtuellen Immobilien, lassen sich Projekte sponsern oder verkaufen eine Idee an einen Konzern” versprach der Klappentext.

Die Euphorie um Web 2.0, das Mitmach-Web, User Generated Content, die Blüte der Kommunikationsplattformen und des Business für Jedermann schlägt sich im Buch nieder als Aufbruchsstimmung einer Klasse an Kreativen, die mit den neuen technischen Möglichkeiten gleich die ganze Gesellschaft zum Positiven verändern.

Als das Internet noch Spielwiese war

Den Kapitalismus austricksen, smart und cool sein, dem nine-to-five-job, der Auslieferung an die corporate world aus dem Wege gehen, und trotzdem mitspielen, ihnen das Geld aus der Nase ziehen als individuelle Strategie – so in etwa lässt sich die Haltung zusammenfassen, mit der der der verstaubten Angestelltenkultur der Kampf angesagt wird. Der Datendandy der Agentur Billwet schwingt hier mit, dieses Konzept einer techno-Monade aus der 1990ern, als das Internet noch kein Business war, sondern eine Spielwiese.

Die Autoren verstanden die digitale Boheme als Weiterentwicklung der analogen. Lebten diese allerdings noch eher nachts als tags, und für die Kunst und deshalb in Armut, scheint der digitalen Boheme die Quadratur des Kreise zu gelingen, the best of both worlds zu vereinen: das coole, selbstbestimmte Künstlerleben der historischen Boheme verbunden mit der ökonomischen Absicherung und finanziellen Spielräumen gut bezahlter Angestellter. “Die Digitale Boheme, das sind Menschen, die sich dazu entschlossen haben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, dabei die Segnungen der Technologie herzlich umarmen und die neusten Kommunikationstechnologien dazu nutzen, ihre Handlungsspielräume zu erweitern”.

Es fällt doch eine gewisse Gründerzeit-Euphorie auf, die noch aus den Zeiten der Dot-Com-Blase zu stammen scheint. Der Kapitalismus mit seinen Marktmechanismen und Machtstrukturen werden nicht problematisiert, die Gegenseite wird im Stile einer spiessigen Angestellten- und Grossunternehmen-Kultur beschrieben. Der Titel, dieser keck der Elterngeneration entgegengeworfene Fehdehandschuh, drückt doch auch eine Anbiederung aus, ein “Wir wollen zwar nicht so arbeiten wie ihr (4o Jahre bis zur Rente bei einer grossen Firma), aber der Arbeit ganz den Kampf ansagen, wollen wir auch nicht.”

Liest man heute aufmerksam das Buch noch einmal, fällt auch ein anderer Tonfall auf: Der Lifestyle der digital-Boheme wird als erfolgreiche Flucht vor einem doch drohenden Prekariat beschrieben, auch die digitale Boheme hatte, Friebe und Lobo zufolge, den Atem der Verarmung im Nacken gespürt. 

Die Kreativen und das kulturelle Kapital

Welche Ideen steckten eigentlich hinter Friebes und Lobos Buch? Richard Florida hatte in seinem Buch “The Rise Of The Creative Class” bereits einige Jahre zuvor das Entstehen einer neuen creative class propagiert und die neue Lebens- und Vorstellungswelt, die damit einhergehe, beschrieben. Auch bei ihm sollte der Aufstieg der Kreativen die Gesellschaft fundamental umwälzen und in eine post-kapitalistische “creative society” münden.

Friebe und Lobo berufen sich auch auf Florida, wenn sie propagieren, dass soft skills wie Kreativität über die “Währung Respekt” zu Geld gemacht werden können. Ist das nicht der alte Traum von der Umwandlung von kulturellem Kapital in klingende Münze? Pierre Bourdieu hatte in seinem Werk eben dieses Konzept des kulturellen Kapitals eingeführt, um neben monetärem Reichtum einen weiteren Gradmesser für die Stellung im sozialen Gefüge zur Verfügung zu haben.

Kulturelles Kapital haben ist also fast so gut wie richtiges Kapital haben – nur cooler. Werden wir also kulturelle Kapitalisten? Tatsächlich sind ja die Freelancer und Solo-Selbständigen der digitalen Ökonomie Unternehmer geworden, Mikro-Unternehmer, rastlos bemüht, ihr kulturelles Kapital zu vermehren. Eine neue Klasse von Unternehmern ohne “richtiges Kapital” ist da entstanden, das neue Heer der Lumpen-Kapitalisten, das immer gewachsen war, und noch wuchs (Brecht).

Theoretiker des Post-Kapitalismus hatten schon lange einen cooleren, ökologischeren Kapitalismus propagiert, der nicht mehr so hässlich ist wie der Kapitalismus der “Giganten aus Stahl und Beton” (John Perry Barlow über den industriellen Kapitalismus, von dem es im Cyberspace Abschied zu nehmen gelte).

Daniel Bell hatte in den 70er Jahren den Abschied vom Fordismus gepredigt, und in der neuen Informationsgesellschaft intellektuelle Wissensarbeiter am Werk gesehen. Das jüngste Werk aus dieser langen Reihe ist Paul Masons Buch Post-Kapitalismus, das gerade frisch erschienen, zum x-ten Mal konstatiert, dass neue Arbeitsverhältnisse, neue Eigentumsformen und Geschäftsmethoden den Kapitalismus friedlich in eine vernünftige digitale Zukunft transformieren.

Zehn Jahre danach: Eine Bestandsaufnahme

Auch zehn Jahre nach Erscheinen von “Wir nennen es Arbeit” sind kreative Mikro-Unternehmer in aller Munde. “Wir können eigenverantwortlich handeln, uns nach Belieben in diese neue, flexible Form des Arbeitens ein-und wieder ausklinken und auf den Websites der Sharing-Ökonomie unsere eigenen Unternehmen gründen” so fasst Tom Slee in seinem gerade erschienen Buch “What's Yours Is Mine: Against the Sharing Economy” die Verheissungen ebendieser zusammen.

Der gleich Sound wie vor zehn Jahren findet sich hier: neue Möglichkeiten der ökonomischen und persönlichen Selbstverwirklichung dank neuer Technologien, diesmal sind es nicht mehr eBay und MySpace sondern die Plattformen der Sharing-Economy. Das macht natürlich skeptisch. Ist letztlich nicht doch das Kapital am smartesten?

Im Februar 2012 kündigte IBM Deutschland massive Stellenstreichungen an. Gleichzeitig war von einem neuen Organisationsmodell (“liquid”) die Rede das globalen Zugang zu hochqualifiziertem Personal, das online verfügbar ist, hochkreativ und flexibel ist, kosten- und zeitsparend Ideen und Produkte entwickelt, gewährleisten sollte. Zeitzonenbeschränkungen, nationale Arbeitsgesetzgebungen werden dabei umgangen. Digitale Technologien ermöglichen hier eine neue Art weltweiter kreativer Reservearmee, die atomisiert ist und ihren Auftraggebern machtlos gegenüberstehen.

Clickworker in Heimarbeit

“Durch digitale Plattformen und globale Vernetzung wird es für Unternehmen leichter, Aufträge für Aufgaben, die vormals im Unternehmen erledigt wurden, auszulagern. Aufgaben können in viele Unteraufgaben zerlegt, atomisiert und digital als Kleinstaufträge etwa über Internet-Plattformen vergeben werden.” Schreibt Tanja Carstensen.

Grossen Firmen steht heute eine Armada gut ausgebildeter, flexibler, vereinzelter Freelancer nicht etwa gegenüber, sondern zur Verfügung: Die Datendandys von heute, Unternehmer ihres eigenen Selbst, stehen übermächtigen Plattformen gegenüber. Die Clickworker arbeiten in Heimarbeit am digitalen Akkord, und ähneln den Proleten der Vorzeit des Kapitalismus darin mehr, als der historischen Bohème.

Jenseits der Festanstellung

Fast niemand bekommt heute noch einen unbefristeten Arbeitsvertrag, insofern haben sie Recht behalten. Aber hat das zu mehr Selbstbestimmung, Freiheit, weniger Leistungsdruck, einer offeneren Gesellschaft geführt? Eher nicht. In einer Studie des Bundeswirtschaftsministeriums kann man nachlesen, dass sich das Phänomen “Jenseits der Festanstellung” durchsetzt: Im Jahr 2000 wurden lediglich 132.000 selbstständige Freiberufler im Kulturbetrieb gezählt, zwölf Jahre später hatte sich diese Zahl mit 291.000 Angehörigen weit mehr als verdoppelt.

Und wie sieht es mit dem Verdienst aus? Die Zahlen, die z.B. die Künstlersozialkasse veröffentlicht, lassen nur einen Schluss zu: Kulturarbeiter am Rande des Existenzminimums. So verdienen beispielsweise die Musiker im Schnitt 14.247 € im Jahr, die Musikerinnen sogar nochmal satte 30 Prozent weniger.

Der Telekom-Chef Höttges hat vor kurzem in der ZEIT eine Lanze für das Grundeinkommen gebrochen. Angesichts des grundlegenden Wandels der Gesellschaft und der Arbeitswelt durch die digitale Revolution, fordert er “unkonventionelle Lösungen” um der drohenden Verarmung breiter Bevölkerungsschichten eben durch die Digitalisierung zu begegnen. Internet-Unternehmen sollen das mit ihren Profiten finanzieren.

Was bleibt?

Auch wenn das Buch selbst wesentlich kritischer und ambivalenter ist, als der Klappentext suggeriert, und es mit einer Fülle an interessanten Gedanken aufwartet, fällt das Revisiting ernüchternd aus. Heute sieht man die Plattformen der Online-Ökonomie wesentlich kritischer. Man käme nicht mehr auf den Gedanken, diese als “unsere” zu bezeichnen. Zentralisierte Strukturen, monopolistische Privatunternehmen aus dem Silicon Valley, die geheimniskrämerisch sind, ihren Aktionären verpflichtet, die Regeln bestimmen, Zensur ausüben etc. – das ist die heutige Sicht auf diese Online-Unternehmen, das sehen auch die Autoren heute so.

Sascha Lobo zum Beispiel hat den Begriff Plattform-Kapitalismus in Deutschland publik gemacht und ist mit seiner Kolumne bei Spiegel Online ein prominenter Vertreter von kritischen Positionen rund ums Thema Netzpolitik.

Eine Armee aus hochqualifizierten, flexiblen, mehrere Sprachen sprechenden, an viele Kulturkreise anpassungsfähigen, sich selbst optimal ausbeutenden, ruhelosen Individuen ist entstanden. Ihr eigen ist ein eigentümliches Amalgam aus einer massgeschneiderten digital-protestantischen Arbeitsmoral mit einem Yoga-gestählten selbst-optimierenden Individualismus. Selbst jene, die derzeit erfolgreich sind, ahnen, dass der Erfolg in der digitalen Ökonomie extrem kurzlebig sein kann. Immer häufiger wird auf das bedingungslose Grundeinkommen Bezug genommen, als Rettungsanker in ferner Zukunft, wenn die digitale Altersarmut droht.

Ein Jammer, dass aus der digitalen Boheme eher ein Pixelproletariat geworden ist, und the worst of both worlds für die Meisten Realität geworden ist: Armut und soziale Nicht-Sicherheit wie bei der klassischen Boheme, und trotzdem dem Projektstress in einer neuen “flüssigen” Arbeitswelt ausgeliefert.

Schauen wir uns das berühmte Schaubild der Lebensstile von Bourdieu an, könnte man den Traum der digitalen Boheme irgendwo bei “Reiten und Champagner” einordnen, tatsächlich sind sie aber eher dabei, unten eine Lücke mit KSK und Burnout als Charakteristika aufzumachen.

Timo Daum
berlinergazette.de

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.