Kulturgeschichte des Zuckers Die süsse Macht: Zuckerbrot & Peitsche

Sachliteratur

25. September 2015

Essen steht buchstäblich seit Menschengedenken im Zentrum des Lebens unserer Gattung und dient den Menschen als Mittel, um sich selber zu definieren und von anderen abzugrenzen.

Zuckerproduktion im 19. Jahrhundert in Saint-Domingue auf Haiti.
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Zuckerproduktion im 19. Jahrhundert in Saint-Domingue auf Haiti. Foto: Élisée Reclus (PD)

25. September 2015
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In sehr breiten Zusammenhängen untersuchte der Anthropologe Sidney Mintz die Rolle des Zuckers in der Entstehung der modernen Welt. Das wohl aus Indien stammende Zuckerrohr wurde von arabischen Eroberern im 8. und 9. Jh. im östlichen Mittelmeerraum angesiedelt.

Zwei Jahrhunderte später gelangten deren Produktionsanlagen, die ein unter Königen und Reichen begehrtes, als Gewürz, Medizin und Statussymbol verwendetes Luxusgut herstellten, unter westeuropäische Kontrolle. Portugiesen und Spanier dehnten den Anbau auf westliche Mittelmeerinsel aus, bevor sie das Zuckerrohr auf ihren Eroberungen über den Atlantik mitführten. In der Karibik wurde die Zuckerwirtschaft von den Briten ausgeweitet. Sklav_innen leisteten die extrem arbeitsintensive Ernte, die jeweils ein halbes Jahr dauerte.

Weil die süsse Substanz nach dem Schlagen des Rohrs rasch gelöst werden muss, speiste man damit fortlaufend lokale Zuckermühlen, die auf Schichtbetrieb und hierarchischer Arbeitsteilung basierten. Raffiniert wurde die Substanz in Grossbritannien. Den mit Zuckerkonsum protzenden Oberschichten diente die Karibik zugleich als Absatzmarkt für Nahrung, Kleider, Werkzeug und Foltergerät; Staatliche Strukturen profitierten von Flottenbau und Steuern.

In diesem Kolonialsystem sieht Mintz eine wichtige Grundlage des Kapitalismus und der Industrialisierung. Vier Jahrhunderte hindurch stieg die Produktion von Zucker und fiel sein Preis; wie der von Tabak, Tee, Kaffee und Kakao ging sein Konsum in die Breite. Im 19. Jh. stellte er einen gewichtigen Teil des Kalorienbedarfs britischer Arbeiter_innen und ermöglichte deren schnelle Stärkung und Ablenkung vom harten Arbeitsalltag.

Der Zucker stimmte so die Ausgebeuteten in Europa täglich kurzzeitig zufrieden, während sich in den Kolonien an der Wirtschafts-, Sozial- und Infrastruktur seit Jahrhunderten nur wenig geändert hatte (vor allem: mehr Anbaufläche).

Das Buch führt noch näher an die Gegenwart und regt zum Nachdenken an über das globale geschichtliche Gemacht-Sein von fast allem, was wir täglich benutzen und allzu sehr für selbstverständlich halten.

cbi / dsc

Sidney W. Mintz: Die süsse Macht. Kulturgeschichte des Zuckers. Campus, 2007. 305 S., 29 SFr, ISBN 978-3593383255