Ordnung und Gewalt - Kemalismus, Faschismus und Sozialismus Türkei: Ein Blick in die Geschichte der Diktaturen

Sachliteratur

10. Februar 2016

In „Ordnung und Gewalt“ entwirft Stefan Plaggenborg einen umfangreichen Vergleich zwischen Kemalismus, Faschismus und Bolschewismus, wobei die Umsetzung wenig überzeugt.

Büste von Mustafa Kemal Atatürk in Bukarest, Rumänien.
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Büste von Mustafa Kemal Atatürk in Bukarest, Rumänien. Foto: Țetcu Mircea Rareș (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

10. Februar 2016
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Die Türkei erlebt seit einigen Jahren eine zunehmende politische Bedeutung, angetrieben nicht zuletzt durch eine ökonomische Wachstumsphase. Dies korrespondiert mit einer intensiveren Beschäftigung mit der Geschichte und Gegenwart des Landes in Europa. Während etwa der Kemalismus, die lange vorherrschende Staatsideologie in der Türkei, bis dahin eher ein Thema für Türkei-ExpertInnen war, hat sich dies in den letzten Jahren geändert. Statt einer isolierten Betrachtung gewinnen vergleichende und kategorisierende Zugänge an Bedeutung, bei denen die türkische Geschichte in eine europäische Geschichte eingebettet wird.

Auf den ersten Blick scheint sich die Publikation Stefan Plaggenborgs, einem Professor für sowjetische und russische Geschichte, hier einzureihen. Angestrebt wird ein Vergleich zwischen Kemalismus, italienischem Faschismus und Bolschewismus beziehungsweise Stalinismus. Dies ist eine neue Herangehensweise, weil der Kemalismus und der türkische Nationalismus gemeinhin eher mit anderen nationalistischen Ideologien verglichen werden und ein Vergleich zu den Staatsideologien der Sowjetunion nicht bekannt ist.

Plaggenborg entgeht der Gefahr, Faschismus und Stalinismus gleichzusetzen – anders als viele AutorInnen, die beim Vergleich anfangen und bei plumper Gleichsetzung ankommen. Allerdings ist ein systematischer Vergleich ebenfalls nicht zu finden. Stattdessen wird die Geschichte der drei Regime in thematisch aufgeteilten Kapiteln parallel erzählt, wobei der Autor anekdotenhaft von einem Land zum nächsten wechselt. Hypothesen, die aus einer vergleichenden Perspektive geprüft werden, werden nicht formuliert. Gegen Definitionen und Kategorisierungen wendet sich der Autor explizit und möchte mit „wechselnden Fokussierungen“ (S. 33) arbeiten, wodurch es für LeserInnen nicht einfacher wird, die Gedankengänge nachzuvollziehen. Andere Lesehilfen, wie etwa ein zusammenfassendes Schlusskapitel, sind kaum zu entdecken.

Insofern ist es schwierig, sich zu den unterschiedlichen Argumenten und Ansätzen der Autors zu positionieren, wie etwa zu der These, dass unter den drei Regimen lediglich dem kemalistischen eine unblutige Transformation von einem autoritären Regime zu einer Demokratie gelungen sei. Diese Annahme liesse sich besser diskutieren, wenn der Autor darauf eingehen würde, dass es nach dem Übergang in ein Mehrparteiensystem insgesamt drei offene Militärputsche gab, die zu jeweils unterschiedlich langen Diktaturen führten. Die Diskussion um den Zusammenhang zwischen dem Kemalismus und der Einmischung des Militärs in die Politik wäre nicht zuletzt notwendig, weil die Putschisten die Aussetzung der Demokratie mit der Bewahrung der kemalistischen Staatsidee legitimierten.

Erkenntnisreicher sind die kritischen Kommentare des Autors gegenüber der bisherigen Türkeiforschung. Plaggenborg skizziert inhaltliche Schwächen und Ungenauigkeiten, wie etwa das Problem, dass der Kemalismus von vielen AutorInnen vorschnell als korporatistisch bezeichnet wird, obwohl ein Verbändesystem zu diesem Zeitpunkt gar nicht existierte. Ebenso lesenswert ist die Rekapitulation der sowjetischen Forschung über den Kemalismus, die nach der Ansicht des Autors ein stärkeres Gespür für die gesellschaftlichen Prozesse und Strukturen in der Türkei gehabt habe.

Die Publikation bietet keine systematische Analyse, lässt sich aber als Anregung für weitere Forschungsfragen nutzen. Dies wird allerdings dadurch etwas erschwert, dass insbesondere bei der Darstellung der türkischen Geschichte auffällige Fehlstellen existieren. So wird etwa die Niederschlagung des Dersim-Aufstandes 1937-38 als der einzige Massenmord in der kemalistischen Phase erwähnt, während andere Massaker und Vertreibungen wie etwa nach dem Scheich-Said-Aufstand 1925 unerwähnt bleiben (vgl. Bruinessen 2003). Die nationalistischen und rassistischen Tendenzen im Kemalismus werden nicht genug beachtet (vgl. Guttstadt 2008). Über die ambivalente Haltung der kemalistischen Staatsführung gegenüber pantürkistischen und turanistischen Bewegungen während des Zweiten Weltkrieges erfährt man bei Plaggenborg ebenfalls wenig.

Die LeserInnen, die sich bis dahin nicht intensiv mit der türkischen Geschichte befasst haben, werden neben der Lektüre von „Ordnung und Gewalt“ eine umfassende Darstellung der türkischen Geschichte (vgl. Zürcher 2004) benötigen, um die Argumente des Autors sinnvoll einordnen und bewerten zu können. Eine Leseempfehlung kann insofern nur mit Einschränkungen gegeben werden.

Ismail Küpeli
kritisch-lesen.de

Stefan Plaggenborg: Ordnung und Gewalt. Kemalismus - Faschismus - Sozialismus. Oldenbourg Verlag, München, 2011. 350 Seiten, ca. 45.00 CHF, ISBN 978-3-486-71272-8

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