Shoshana Zuboff: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus Hannah Arendt - Der Fixstern am Himmel der politischen Theorie

Sachliteratur

4. März 2019

Hannah Arendt inspiriert immer wieder von neuem. Shoshana Zuboffs «Zeitalter des Überwachungskapitalismus» ist der jüngste Beweis.

Hannah Arendt, 1933.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Hannah Arendt, 1933. Foto: Unknown (PD)

4. März 2019
3
0
10 min.
Drucken
Korrektur
An Hannah Arendt kommt niemand vorbei, der sich mit dem 20. Jahrhundert beschäftigt. Wenige haben mehr zum Verständnis dieses schrecklichen Säkulums beigetragen als die deutsch-amerikanische Politikwissenschaftlerin, Philosophin und Publizistin. Ihr Hauptwerk «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft» von 1951 gehört zu den Klassikern der politischen Theorie. Eines ihrer bekanntesten Bücher ist das aus Reportagen hervorgegangene Werk über den Prozess gegen den SS-Mann und Holocaust-Logistiker Adolf Eichmann. Das 1963 publizierte Buch mit dem Titel «Eichmann in Jerusalem: ein Bericht von der Banalität des Bösen» löste aus verschiedenen Gründen heftige Kontroversen aus, nicht zuletzt wegen der Kombination des Banalen mit dem Bösen.

Spezialistin für Krisen und Brüche

Nun fällt auf, dass Hannah Arendt in jüngster Zeit wieder ganz speziell in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt ist. Dieser Befund lässt sich gleich an drei, allerdings sehr unterschiedlichen, Projekten und Publikationen festmachen. Das erste Beispiel ist das angelaufene Grossprojekt einer kritischen Arendt-Gesamtausgabe eines deutsch-amerikanischen Teams unter der Leitung der Germanistin Barbara Hahn. Insgesamt 17 Bände sollen bis zum Jahr 2030 vorliegen.

Schon in der jüngsten Vergangenheit hat es Perioden verstärkten Interesses an Arendt gegeben, so etwa nach der Wende in Deutschland nach 1989 oder zu Beginn des neuen Jahrhunderts, als die Auswirkungen der Globalisierung erstmals deutlich wurden; oder nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA. Die Arendt-Spezialistin Stefania Maffeis erklärte im Deutschlandfunk Kultur: «Immer, wenn es Momente der Unsicherheit, der Krisen und Brüche gibt, dann ist Arendt ganz gut dafür geeignet, solche Momente zu reflektieren.»

Auch Barbara Hahn hat diese Beobachtung gemacht: «Es ist kein Zufall, dass in den USA nach der Wahl von Donald Trump die ‚Origins of Totalitarianism' plötzlich ein Bestseller waren. Viele Leute haben den Verdacht gehabt: Wir müssen nochmal anfangen zu denken, wie das überhaupt kommt, dass Demokratien in totalitäre Systeme kippen. Und dafür braucht man Hannah Arendt. Das hat niemand so präzise durchdacht wie sie.»

Persönliche Verantwortung in einer Diktatur

Ein zweites Zeichen des wiedererwachten Interesses an Hannah Arendt ist das jüngst veröffentlichte Buch mit dem Titel «Was heisst persönliche Verantwortung in einer Diktatur?». Es basiert auf einem Vortrag aus den Jahren 1964/65. Eine einfache Antwort auf die Frage gibt die Autorin nicht. Der Text ist vielmehr ein Versuch, intellektuell ein System wie die nationalsozialistische Mordmaschinerie in den Griff zu bekommen; ein System, das jegliche Menschlichkeit verloren hatte, und in dem viele «kleine Rädchen» bis zuletzt kein Unrechtsbewusstsein, keine Einsicht in das Verbrecherische ihrer Taten entwickelten.

Ausgangspunkt des Vortrags waren die Vorwürfe gegen Arendt, sie verharmlose mit ihrem Begriff der «Banalität des Bösen» die Nazi-Verbrechen. Das Gegenteil ist richtig. Sie zeigt, dass totalitäre Systeme ihre menschenverachtende Politik nicht primär mit dem absolut Bösen, mit Dämonen und Monstern verwirklichen, sondern mit organisatorischen Mitteln wie der Bürokratie: «Bürokratie ist die Herrschaft der Niemande und aus ebendiesem Grund vielleicht die am wenigsten menschliche und grausamste Herrschaftsform.» Gerade deshalb sind Gerichtsverfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit so wichtig: Denn wenn man einem Angeklagten erlaubte, «sich als Vertreter eines Systems schuldig oder nicht schuldig zu bekennen, würde aus ihm in der Tat ein Sündenbock.» Einer also, der nicht persönliche Verantwortung trägt, sondern sich gewissermassen als schuldloses Opfer eines Systems zu stilisieren weiss.

Öffentliche Verantwortung meiden

Es habe im Dritten Reich nur wenige Menschen gegeben, die die Verbrechen des Regimes aus vollem Herzen bejahten, «dafür eine grosse Zahl, die absolut bereit waren, sie dennoch auszuführen.» Sie hätten als «Rädchen» mitgemacht. Viele argumentierten im Nachhinein, man habe doch aus einer gewissen Verantwortung mitmachen müssen, um Schlimmeres zu verhindern – eine reine Schutzbehauptung. Arendt wendet sich mit grosser Vehemenz gegen diese Sichtweise. «Der Vernichtung der Juden ging eine schrittweise Folge antijüdischer Massnahmen voraus, welche jeweils gebilligt wurde mit dem Argument, dass die Weigerung, daran mitzuwirken, nur alles verschlimmert hätte – bis eine Stufe erreicht war, dass Schlimmeres überhaupt nicht mehr passieren konnte.»

In totalitären Systemen könne der Moment kommen, wo man Orte öffentlicher Verantwortung meiden müsse. Ganz einfach deswegen, weil im Totalitarismus jeder gesellschaftliche Bereich von der verbrecherischen Politik durchdrungen sei und man in politischen Ämtern gar nicht mehr handeln könne, ohne schuldig zu werden.

Zweifler und Skeptiker sind resistenter

Ein bemerkenswertes Loblied stimmt Arendt auf die Zweifler und Skeptiker an, die gelernt hätten, sich ein eigenes Urteil zu bilden, statt sich auf feste Werte und moralische Normen zu verlassen. Arendts Argumentation: Der «totale moralische Zusammenbruch der ehrenwerten Gesellschaft während des Hitlerregimes kann uns lehren, dass es sich bei denen, auf die unter solchen Umständen Verlass ist, nicht um jene handelt, denen Werte lieb und teuer sind und die an moralischen Normen und Massstäben festhalten; man weiss jetzt, dass sich all dies über Nacht ändern kann, und was davon übrigbleibt, ist die Gewohnheit, an irgendetwas festzuhalten. Viel verlässlicher werden die Zweifler und Skeptiker sein, nicht etwa, weil Skeptizismus gut und Zweifel heilsam ist, sondern weil diese Menschen es gewohnt sind, Dinge zu überprüfen und sich ihre eigene Meinung zu bilden.»

Auch wenn Hannah Arendt in diesem Buch eine bestimmte historische Situation reflektiert, bietet es genügend Denkanstösse für die Gegenwart, in der Demokratie und Grundrechte vielerorts unter Druck geraten, wo Autoritarismus in den USA und mitten in Europa Zulauf erhalten. Viele sind bereit, in vorauseilendem Gehorsam einst feste Grenzen von Rechtsstaat und Demokratie aufzuweichen, weil ihnen Rechtspopulisten Stimmen abjagen. Sie tun es ja bloss, um Schlimmeres zu verhindern …

Arendt als Zuboffs Fundament

Wie gross der Einfluss Hannah Arendts auch auf zeitgenössische Denkerinnen ist, beweist ein drittes Beispiel: das ausserordentliche Buch der amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlerin und emeritierten Harvard-Professorin Shoshana Zuboff: «Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus». Absolut neu sind die Erkenntnisse nicht, aber das Werk hat einen breiten Horizont. «Mit dieser Radikalität hat noch niemand den Totalitarismus einer 'Dritten Moderne' beschrieben, die ihre Zeitgenossen einer umfassenden 'Dressur' unterwirft. Statt Bürgern zieht sie mit 'instrumentärer' Macht Marionetten heran», schreibt Die Zeit.

Zuboff beschreibt die ökonomische, soziale und individuelle Bedeutung der beispiellosen Veränderung, die wir derzeit erleben. Sie geht der Frage nach, ob die Tech-Giganten mit ihrer wachsenden Macht nicht schon längst die wahre Macht verkörpern und die Politik überhaupt noch in der Lage ist, sie zu zähmen. Bei ihrer Analyse und ihrer Argumentation baut Shoshana Zuboff auffallend stark auf Hannah Arendt. Sie verspüre eine grosse Affinität zu früheren Theoretikern, «die sich der Begegnung mit dem Beispiellosen in ihrer Zeit gestellt haben.» Sie nennt Arendt als erste unter einer Reihe anderer Philosophen, die versucht hätten, «im Angesicht des sich jedem Verständnis entziehenden Phänomens des Totalitarismus das Beispiellose zu benennen».

Google: «Sündenfall einfacher Räuberei»

Im ganzen Werk benutzt Zuboff den Begriff des Totalitarismus in Parallelität und gleichzeitig in Abgrenzung zum Begriff des Instrumentarismus. Totalitarismus (Nationalsozialismus, Faschismus, Sowjetkommunismus) war die Transformation des Staates zu einem Projekt totaler Vereinnahmung und totaler gesellschaftlicher Durchdringung und Kontrolle. Unter Instrumentarismus versteht die Autorin «die Verwandlung des Markts in ein Projekt totaler Gewissheit», also ebenfalls totaler Überwachung und Kontrolle – «ein Unterfangen, das ausserhalb des digitalen Milieus, aber auch jenseits des Überwachungskapitalismus schlicht nicht vorstellbar ist.»

Das Geschäftsmodell der Internetgiganten sei es, rechtsfreie gesellschaftliche Räume zu erkennen und ihren Anspruch darauf geltend zu machen, denn das Internet sei der grösste unregulierte Raum der Welt. Im 21. Jahrhundert ist dies das Gegenstück zu jenen Territorien, die im 19. Jahrhundert die Spekulanten anlockten. Und auch hier bringt Zuboff Hanna Arendt ins Spiel: Arendts Untersuchung über den Export überakkumulierten britischen Kapitals nach Asien und Afrika Mitte des 19. Jahrhunderts «hilft bei der Entwicklung dieser Analogie». Insofern entspreche Googles Geschäftsmodell und seine «ertragreichste Form der Enteignung» ziemlich genau Arendts «Sündenfall einfacher Räuberei».

Ein Ehrgeiz wie totalitäre Führer

Zuboff differenziert jedoch. Man dürfe die Marktmacht und die kommerzielle Überwachung von Google, Facebook und Co. nicht einfach als «digitalen Totalitarismus» bezeichnen, weil das dem Verständnis dieser noch jungen Phänomene im Wege stehe. «Der Totalitarismus zielte auf die Modifikation unserer Spezies durch die Mechanismen des Völkermords und der sozialen Manipulation der Seele. Die instrumentäre Macht führt uns in eine ganz andere Richtung. Überwachungskapitalisten haben weder Interesse an Mord und Totschlag noch an Reform oder Errettung unserer Seelen.» Ihr Ehrgeiz sei zwar in vielerlei Hinsicht nicht geringer als derjenige totalitärer Führer, «er ist jedoch von ganz anderer Art.» Was gemeinsam ist: Beide Phänomen überstiegen damals und übersteigen heute das Begriffsvermögen.

Nicht einmal die grössten und weitsichtigsten Analytiker haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch nur im Entferntesten geahnt, welch mörderische Entwicklung die erste Hälfte dieses Säkulums einschlagen würde. Hannah Arendt sei die erste gewesen, die in ihrer «ungemein detaillierten Pionierarbeit» im Nachhinein zu verstehen versucht habe, was da eigentlich passiert sei.

Mit dieser Pionierarbeit ist Arendts Hauptwerk «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft», ein Werk, das Zuboff nach eigenem Bekunden nicht mehr aus dem Kopf gegangen ist. Denn Arendt hat warnend darauf hingewiesen, dass der Totalitarismus nicht einfach als zufällige Wendung zur Tragödie abgetan werden könne, sondern, dass er zutiefst mit der Krise des 20. Jahrhunderts verbunden sei. «Tatsache ist», so schreibt Arendt, «dass die wahren Probleme unserer Zeit nicht verstanden, geschweige denn gelöst werden können ohne das Eingeständnis, dass der Totalitarismus nur zum Fluch dieses Jahrhunderts geworden ist, weil er sich auf so entsetzliche Weise seiner Probleme angenommen hat.»

Social Media als Köder

Das ist für Zuboff eine Schlüsselstelle. Man müsse im vorangehenden Satz nur den Begriff «Totalitarismus» durch «Instrumentarismus» ersetzen, und schon erfasse man einen wesentlichen Punkt der heutigen Lage: Der Überwachungskapitalismus bietet dem Einzelnen Lösungen in Form von Social Media an, also von sozialem Verbundensein, Zugang zu Informationen, zeitsparenden Annehmlichkeiten und der Illusion von Unterstützung. Wichtiger ist allerdings: Er bietet Lösungen für Institutionen in Form von Daten und damit von Allwissenheit, Kontrolle und totaler Gewissheit über das Verhalten der Menschen. Der Gedanke dahinter ist nicht etwa, der Instabilität zu begegnen – also der extremen Ungleichheit, der Ausgrenzung sowie des Verlusts des sozialen Vertrauens – «nein, es geht hier vielmehr um die Ausbeutung der Schwächen, die durch diese Bedingungen entstehen.»

Zuboff verweist auf Untersuchungen, die zeigen, dass das soziale Vertrauen der Menschen untereinander und auch zu demokratischen Institutionen trotz der vielgepriesenen sozialen Vorteile ständiger Online-Kontakte genau im gleichen Zeitraum abnahm, in dem der Überwachungskapitalismus zur Blüte gelangte. Damit geht auch die Verbindlichkeit gemeinsamer Werte, gegenseitiger Verpflichtungen und ziviles Engagement verloren.

Die so entstehende Leere sei «ein schrilles Warnsignal für die Verwundbarkeit einer Gesellschaft. Ratlosigkeit, Ungewissheit und Misstrauen ermöglichen es der Macht, diese Leere zu füllen; ja, sie laden sie geradezu dazu ein. Im Zeitalter des Überwachungskapitalismus ist es die instrumentäre Macht, die diese Leere füllt.» Hanna Arendt hat «den Weg von der frustrierten Individualität hin zur totalisierenden Ideologie nachgezeichnet. Ihr zufolge war es die Erfahrung von Bedeutungslosigkeit, Verzichtbarkeit, politischer Isolation und Verlassenheit, die die Feuer totalitären Terrors schürte.»

Es ist faszinierend zu verfolgen, wie Shoshana Zuboff ihre Gedanken für ihr Buch auffallend häufig in Anlehnung an Hannah Arendts Totalitarismustheorie entwickelt. Es handelt sich um eine äusserst kreative Weiterentwicklung. Und es unterstreicht einmal mehr, wie ungemein inspirierend und aktuell Arendts Werk nach wie vor ist.

Jürg Müller-Muralt /Infosperber

Shoshana Zuboff: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Campus Verlag Frankfurt a.M. 2018. 717 Seiten, ca. SFr. 45.00, ISBN: 978-3593509303