Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen Sabine Hark / Paula-Irene Villa: Anti-Genderismus

Sachliteratur

11. September 2017

Die Neue Rechte ruft nach einer Welt aus starken nationalen Identitäten mit männlicher Vorherrschaft und sieht den sogenannten „Gender-Wahn“ als Feind. Was steckt dahinter?

Die Schriftstellerin Elfriede Brüning erzählt auf dem Berliner Bebelplatz über die Bücherverbrennung von 1933 und den Umgang der Nationalsozialisten mit Andersdenkenden.
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Die Schriftstellerin Elfriede Brüning erzählt auf dem Berliner Bebelplatz über die Bücherverbrennung von 1933 und den Umgang der Nationalsozialisten mit Andersdenkenden. Foto: Lukas Plewniawww.polen-heute.de (CC BY-SA 2.0 cropped)

11. September 2017
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In der Bewegung der Neuen Rechten nimmt Geschlechtlichkeit einen zentralen Platz ein. In der Feststellung, dass Sex nicht gleich Gender ist, also dass das biologische Geschlecht nicht mit dem sozial geformten Geschlecht übereinstimmen muss, sieht sie ein Urproblem der Welt. Die Ideologie der Neuen Rechten sieht klassische Geschlechterrollen vor: Der starke Mann, der das Volk verteidigt, die fürsorgliche Frau, die für die Nachkommen sorgt und die Kinder als Hoffnung der Gemeinschaft. Die Infragestellung dieser Rollenbilder hinterfragt also auch die ganze Ideologie von Rechts und wird zum Feindbild. So stellen sich Rechte gegen die Verweichlichung des Mannes, eine angebliche Frühsexualisierung von Kindern und die Stärkung von Frauenrechten.

Die Frage, weshalb der Begriff Gender für eine extreme Uneinigkeit sorgt, stellen auch Sabine Hark und Paula-Irene Villa als Herausgeberinnen des Sammelbandes „Anti-Genderismus". Ihre These: Anti-Genderist*innen haben erkannt, dass der Begriff einfache Wahrheiten überwindet, die sie aber für ihre Lebensmodelle und Politiken dringend brauchen und deshalb formiert sich Abwehr. Der Band befasst sich mit vielen verschiedenen Aspekten der Ablehnung von Gender, im Folgenden geht es um zwei Beiträge, die sich speziell auch mit der Neuen Rechten befassen. Anti-Genderismus als Anknüpfungspunkt an die „Mitte“ der Gesellschaft

In dem Beitrag „Familie und Vaterland in der Krise – der extrem rechte Diskurs um Gender“ beschreibt Juliane Lang die sinnstiftende, politische Erzählung des Anti-Genderismus von Rechts. Sie stellt fest, dass diese seit den 2000er Jahren in der extremen Rechten eine Anschlussfähigkeit zum Rest der Gesellschaft ermöglicht, die an anderen Stellen verwehrt bleibt. Dadurch werden Feindbilder von Rechts teilweise gesamtgesellschaftlich übernommen, was sich wiederum auf die realen politischen Forderungen innerhalb der Gesellschaft auswirkt. Ihr Text versucht diese Anknüpfungspunkte zu benennen und beginnt mit klaren Definitionen und Erläuterungen. Als Rechts gelten hier verschiedene gesellschaftliche Erscheinungsformen, die rechtsgerichtet sind, eine „natürliche Geschlechtlichkeit“ wird als zentrale Vorstellung der extremen Rechten identifiziert.

Schon in der Ideologie der Volksgemeinschaft lassen sich Geschlechterideologien erkennen, es wird eine harmonische Zukunft des Volkes herbeigesehnt, die bereits Rollen in dieser erträumten Gesellschaft festlegt. Schlüssig erläutert Lang, dass Geschlecht in diesem Rahmen als sozialer Platzanweiser funktioniert, „Entwürfe von Männlichkeit(en) und Weiblichkeit(en) sind funktional für den inneren Zusammenhalt der Gemeinschaft“ (S. 169). Sie sorgen für eine ersehnte Ordnung durch klar definierte Rollen. Im Weltbild der Neuen Rechten scheinen auch andere Grundpfeiler, wie Kultur, Volk und Heimat unsicher, wenn die Kategorie Geschlecht sich öffnet.

Wo also mit einem Mal mehr als die „altbekannten“ zwei Geschlechter möglich sind, wird rechte Ideologie als Solche in Frage gestellt – das Feindbild Gender wird, dementsprechend als Symbol dieser anderen, unerwünschten Gesellschaft stilisiert. Mit dieser Erklärung schafft der Text eine einleuchtende Verknüpfung von Privatem und Politik. Es wäre gewinnbringend gewesen, an dieser Stelle noch einmal kurz zu erläutern, was der Begriff Gender meint – also zu erklären, dass es sich in Abgrenzung zum biologischen um das soziale Geschlecht handelt. Die Argumentationskette bleibt aber auch ohne diesen Einschub schlüssig.

Als zentralen Akteur der Angriffe gegen Gender identifiziert Lang die neurechte Zeitung Junge Freiheit, bezieht sich im Folgenden allerdings auf einige Artikel, beispielsweise auch aus dem Spiegel, auf deren Inhalt sie zum besseren Verständnis noch näher hätte eingehen können. Klar und verständlich ist der Text aber inhaltlich wieder, als er sich auf das Schema von Freund und Feind der Neuen Rechten bezieht, welches eine Abgrenzung von „Wir“ und „die Anderen“ vorsieht. Das „Wir“ sind in diesem Schema die von rechts kommenden „Beschützer“ des Volkes, „die Anderen“ all jene, die durch ihre „Gender-Ideologie“ die Gesellschaft und vor allem Kinder indoktrinieren wollen. Dieser Vorwurf soll aber nur die eigene undemokratische Haltung verschleiern.

Die Rechte inszeniert sich als Verteidiger der Meinungsfreiheit und fordert eine Rückkehr zur staatlichen Verteidigung der besonderen Rechte heteronormativer Lebensweisen. Lang stellt dabei sehr gut heraus, dass es in der Rhetorik von Rechts keinesfalls um eine reale Krise geht, sondern hinter dieser Fassade der Kampf um „biodeutsche“, heterosexuelle und männliche Privilegien in gesellschaftlichen Machtverhältnissen steht. Die Verteidigung dieser wirkt als Scharnier zwischen extremen Rechten, religiösen Fundamentalist*innen und dem bürgerlich-konservativen Spektrum und entfaltet deswegen eine so durchschlagende Kraft gegen die von ihnen gehassten „lauten Minderheiten“.

Das unschuldige Kind als Hoffnung der Volksgemeinschaft

Imke Schmincke geht in ihrem Beitrag zum Sammelband noch einmal näher auf die Figur des „bedrohten Kindes“ als Chiffre innerhalb konservativer Protestbewegungen in Frankreich und Deutschland ein. In ihrem Text analysiert sie sehr schlüssig und erkenntniserweiternd die Kraft der politischen Bezugnahme auf Kinder. Da sie ein Symbol für Unschuld und Bedürftigkeit sind, werden sie benutzt, um zu vermitteln, dass eine Person oder eine Gruppierung auf der richtigen Seite steht. Die Verbindung verschiedener Gruppen, welche die heteronormative Vorherrschaft erhalten möchten, sieht Schmincke begründet in der Bezugnahme auf das Kind und den Schutz der Familie. Der breit aufgestellte Anti-Genderismus positioniert sich hier nicht zwangsweise gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen – diese werden häufig akzeptiert – aber gleichgeschlechtliche Elternschaft überschreitet scheinbar eine Grenze der Toleranz.

Interessant ist die Feststellung, dass Proteste gegen „Genderismus“ meist klar von Rechts organisiert sind, die Aussenwirkung aber ist, dass es sich um bürgerliche Proteste handelt. Die „Demo Für Alle“, die sich „vor allem mit dem Schutz von Kindern argumentierend gegen Homosexualität bzw. ‚Sexuelle Vielfalt', ‚Gender' sowie eine wie auch immer geartete Sexualisierung“ (S. 95) im Unterricht in Baden-Württemberg richtete, bedient beispielsweise so ein konservativ-christliches Spektrum. Sie zeichnete sich aber durch offene Ränder zur extremen Rechten aus.

Der Text definiert gut verständlich das Argumentationsmuster des Anti-Genderismus. Der erste Punkt ist die heterosexuelle Ehe als Abstammungsgemeinschaft, sie steht für Identität und eine stabile soziale Ordnung. Zweitens gilt Sexualität als eine Bedrohung von Aussen und konstruiert den Gender-Begriff als Ideologie einer Minderheit, die sich über die Mehrheit zu stellen versucht. Als drittes geht es um den Schutz der Kinder als Kern der Ehe und des Volkes und zu guter Letzt werden Argumente von Allgemeinheit und Verschwörung angebracht, die ein „Wir Alle“ gegen mögliche Umerziehungsversuche beschreibt. All dies identifiziert Schmincke folgerichtig als Abwehrstrategie, die im Namen der Kinder eine Gefahr von Aussen zu bekämpfen versucht. Gut und wichtig auch, dass sie nochmal herausstellt, wie irrational die Forderungen von Rechts sind. Es soll etwas (die heterosexuelle Beziehung und Familie) bewahrt werden, was aber niemand in Frage stellen oder gar abschaffen will. Auch dieser Text führt die Strategie letztendlich auf den rationalen Kern der Erhaltung von Privilegien zurück.

Ein interessanter Aspekt, den Schmincke anbringt ist, dass die Referenz auf das Kind historisch gesehen eine eindeutig christliche Tradition hat und sich schon in Bezug auf frühere Feindbilder bewährt hat. So wurde das unschuldige Kind beispielsweise von kirchlicher Seite bereits für die Anklage gegen Jüd_innen als bedroht konstruiert. Sie macht auch klar, dass eine derartige Instrumentalisierung sich schlussendlich gegen das Kind stellt, da es selbst keine Stimme bekommt und durch das Ignorieren von Bedürfnissen und Lebenswirklichkeiten homogenisiert wird. Am Ende des Beitrags führt sie einen kurzen, etwas irritierenden Einschub zur Psychoanalytik von Ressentiments ein, der knapp und kontextlos wirkt, schafft es aber zum Abschluss wieder sehr gut herauszustellen, dass die Abwehr von Gender durch die Rechte sich auf eine Suche nach Orientierung bezieht, die im geschützten Rahmen von Vater, Mutter, Kind(er) eben leichter ist.

Die Autorinnen und Autoren des Sammelbands erarbeiten schlüssig und anhand prägnanter Beispiele, weshalb die Überwindung „einfacher Wahrheiten“ durch die Beschäftigung mit Gender als soziales Konstrukt eine grosse Abwehr hervorruft. Der Band ist ein wichtiger Schritt zur Analyse der extremen Ablehnung aus einigen Teilen der Gesellschaft gegenüber dem Gender-Begriff. Es wird deutlich, dass die Argumentation von Rechts zu kurz gegriffen ist und aufgebrochen werden muss. Der Vielseitigkeit des Themas ist geschuldet, dass der Band nicht alle Bereiche abdecken kann; diejenigen, welche bearbeitet werden, sind gut verständlich und regen durch Denkanstösse zur weiteren Beschäftigung an.

Johanna Lauke
kritisch-lesen.de

Sabine Hark / Paula-Irene Villa (Hg.): Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen. Transcript, Bielefeld 2015. 264 Seiten, ca. SFr 34.00. ISBN 978-3-8376-3144-9