Sabine Hark: Koalitionen des Überlebens Solidarität statt Identität

Sachliteratur

25. August 2020

Im Kontext queerer Bündnispolitiken sind die Begriffe Solidarität, Gemeinschaft und Prekarität unvermeidlich um in die Zukunft zu denken.

Sabine Hark, interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung TU Berlin und Leiterin des ZIFG.
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Sabine Hark, interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung TU Berlin und Leiterin des ZIFG. Foto: Heinrich-Böll-Stiftungwww.stephan-roehl.de (CC BY-SA 2.0 cropped)

25. August 2020
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In Zeiten, in denen eine globale Pandemie die Welt fest im Griff hat, stellt sich einmal mehr die Frage nach aktuellen Formen der Gemeinschaft und der Abhängigkeit zwischen Individuen und Gesellschaft. Das zeigt sich beispielweise in neuen Formen solidarischer Nachbarschaftshilfe oder in Debatten um die sogenannte Herdenimmunität. Doch was beinhalten diese Begriffe wie Gemeinschaft und Solidarität? Wer ist diese Gemeinschaft? Wem gilt die Solidarität und wem nicht?

Diese Konzepte, die so schnell aufgerufen werden, bauen auf einem individualisierten Verständnis von Solidarität auf. Sie funktionieren im Wesentlichen durch die Behauptung der eigenen (in diesem Fall europäischen) Souveränität, die Solidarität für eine Gruppe ermöglicht, indem sie andere Subjekte nicht einbezieht. Doch damit wird der Begriff Solidarität seiner Möglichkeit beraubt, wirksame Verbindungen zu schaffen, wie Sabine Hark in ihrem 2017 schriftlich erschienenen Vortrag „Koalitionen des Überlebens – Queere Bündnispolitiken im 21. Jahrhundert“ analysiert.

Prekäres Miteinander

Auf schmalen 56 Seiten erarbeitet Hark, wie aus vergangenen queeren Kämpfen ein Ansatz für ein zukünftiges Miteinander gestaltet werden kann. Prägnant sind in ihrer Theoriebildung die Begriffe der Prekarität und der Vulnerabilität (Verletzlichkeit), die Hark von Judith Butler entlehnt und weiterdenkt. Es geht um gemeinsames Überleben in einer Welt, die von Zerstörung bedroht ist – und in der wir leben, ohne dass wir uns ausgesucht haben, mit wem wir das tun.

Die Prekarität beruht hierbei auf „dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein unterstützender Infrastrukturen sowie gesellschaftlicher und politischer Institutionen" (2018, S. 157). Prekarität ist ein doppelter Begriff: Einerseits geht es darum, dass jede*r Einzelne*r prekär ist, weil sie*er auf Institutionen, Strukturen und Rechtssysteme angewiesen ist. Andererseits basieren diese auf Ausschlussmechanismen, die in ihrer gegenwärtigen Form auch permanent die Prekarisierung vieler Menschen hervorbringen. Die rechtliche Ordnung in Deutschland orientiert sich an der weissen, bürgerlichen Kleinfamilie und erschwert so beispielsweise queere Lebensplanung.

Der durch Hark erarbeitete Prekaritätsbegriff ermöglicht ein erweitertes Denken über ungleiche Verhältnisse jenseits festgeschriebener Identitätszuschreibungen. Die Stärke der Analyse liegt dabei in der Verbindung verschiedener theoretischer Positionen von Judith Butler über Karl Marx bis hin zu Monique Wittiq. Die Analyse der Frage nach konkreten wirtschaftlichen Prekarisierungsprozessen wird dabei allerdings nicht weitergeführt.

Kritische Solidaritäten

Hark lokalisiert die Frage nach Solidarität jenseits von Identität im Diskurs um aktuelle queere Bündnispolitiken. Das bedeutet, dass Solidarität nicht mehr artikulierbar ist, wenn sie nur noch Zusammenarbeit zwischen bestimmten Gruppen möglich macht, sich auf eine Form von nicht herrschaftskritischer Hilfestellung zurückzieht oder an Effizienz, Nützlichkeit und Verwertbarkeit gekoppelt ist.

Vor der zunehmenden Zersplitterung queerer Communities, die sich an der Frage, auf welcher Grundlage und auf welcher gemeinsamen Identität ein politisiertes Handeln stattfinden kann zerreiben, geht Hark zu den Anfängen queerer Theorie und Aktivismus zurück. Einer dieser Anfangspunkte sind die Stonewall Riots 1969 – Wendepunkt eines gemeinsam lesbisch-schwulen und Trans-Aktivismus – oder die AIDS-Krise in den 80er-Jahren in den USA.

Daraus ergaben sich Gruppierungen wie ACT UP oder Queer Nation, die schwule, lesbische und feministische Kämpfe in Koalitionen vereinten, die sich in Fragen der Identität nicht einig sein mussten und den Staat zum gemeinsamen Adressaten der Probleme machten. Von dieser Erzählung ausgehend stärkt Hark den queer moment und analysiert, wie das Verhältnis von einzelnen prekarisierten Subjekten in Kollektivität erarbeitet und gestaltet werden kann. Statt Vorstellungen von geteilter Identität rückt „die differenziell verteilte Verletzlichkeit und vor allem deren Nichtwahrnehmung und Leugnung als Quellen der Verhinderung von Koalitionen und Solidarität ins Licht” (S. 49).

Es geht darum, aus „der Kritik der alten Welt die neue zu erfinden" (S. 30). Der Text praktiziert methodisch diese Forderung, indem er eine doppelte Bewegung vollzieht. Einerseits analysiert der Text vergangene Kämpfe und bestehende Verhältnisse und andererseits beharrt er darauf, dass es möglich und notwendig ist, eine neue Welt zu wagen. Diese Bewegung zieht sich auch durch die Beispiele, die Hark nutzt. Hier setzt sie sowohl literarische Texte als auch reale Verhältnisse in Beziehung zueinander.

Solidarität anders denken?

Was können wir also für den feministischen und den queeren Kampf aus diesem Text lernen? Ausgehend von der Frage „Wie sind wir hierhergekommen?“ zeigt Hark in ihrer Kritik, dass wir neue Formen von Solidarität brauchen. Dabei erläutert sie anhand der beschriebenen Kämpfe die Möglichkeiten und Notwendigkeiten queeren Zusammenarbeitens.

„Unsere Forderungen schreiben uns ein in je bestimmte Vorstellungen von Subjekt, Autonomie, Freiheit, in Ansprüche auf Berücksichtigung von gutem Leben – Vorstellungen, die doch zunächst grundsätzlich umgestaltet werden müssen, wenn es um ein gutes Leben für alle gehen soll." (S. 39)

Erarbeitet wird damit eine solidarische Handlungsweise, die nicht von einer Souveränität ausgeht, sondern eine Autonomie in Sozialität erfassen möchte. Das bedeutet, eine Sozialität, in der die Subjekte sich als immer schon Angewiesene-auf-Andere verstehen und damit ein Denken und Handeln auf Basis der eigenen und der anderen Verletzlichkeit beginnen muss. Der queere Moment, den Hark beschreibt und immer wieder neu aufrufen möchte, kann bedeuten, kollektive Mittel zu finden, um eine Umstrukturierung vorhandener Verhältnisse zu beginnen.

Margo Damm und Paula Blömers
kritisch-lesen.de

Sabine Hark: Koalitionen des Überlebens. Queere Bündnispolitiken im 21. Jahrhundert. Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 62 Seiten. ca. 16.00 SFr., ISBN: 978-3-8353-3041-2

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