Robert Misik: Kaputtalismus. Wird der Kapitalismus sterben? Steht das Ende des Kapitalismus vor der Tür?

Sachliteratur

25. Oktober 2016

Ist die gegenwärtige neoliberale Politik notgedrungene Konsequenz aus dem Kapitalismus, oder ist der gegenwärtige Kapitalismus die Konsequenz aus den vorhergehenden (finanz-) politischen Krisen?

Robert Misik: Kaputtalismus. Wird der Kapitalismus sterben?.
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Robert Misik: Kaputtalismus. Wird der Kapitalismus sterben?. Foto: Jorge Nestor Guinsburg (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

25. Oktober 2016
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Die Ausführungen des österreichischen Journalisten Robert Misik fangen sehr vielversprechend an: Der Autor gibt einen guten Überblick über die Finanzkrise(n) des letzen Jahrzehnts und die negativen Auswirkungen der Austeritätspolitik. Er macht unter anderem deutlich, dass die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf Kosten der anderen europäischen Länder gesteigert werden konnten – insbesondere durch eine Abwärtsspirale der Löhne: „Am Ende würden […] alle in Niedriglohnsektoren arbeiten, dafür aber wunderbar wettbewerbsfähig sein mit dem unbequemen Nachteil, dass es in Europa niemanden mehr gibt, der unsere schönen Güter noch kaufen kann“ (S. 56). Misik stellt fest, dass es ein „ideologisches Postulat“ (S. 61) sei, dass Wettbewerb per se zu mehr Wachstum führe.

Finanzmarktkapitalismus, wachsende Ungleichheiten und Wachstumsdebatte

In den folgenden Kapiteln legt Misik den Fokus auf den Finanzkapitalismus und die wachsenden Ungleichheiten. Dazu untersucht er die wirtschaftswissenschaftlichen Theorien von John Maynard Keynes, dem amerikanischen Ökonom Hyman Minsky, Robert Brenner und, in einem gesonderten Kapitel, das „Kapital im 21. Jahrhundert“ des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty. Misik kommt dabei zu dem Fazit, dass „die Finanzialisierung des globalen Kapitalismus […] eine immense Quelle der Instabilität“(S. 109) sei. Mit dem Wachstum der Ungleichheit gerate das Nachfrageniveau zusätzlich unter Druck.

Diese theoretischen Ausführungen sind eine knappe, durchaus gelungene Zusammenstellung von ausgewählten wissenschaftlichen und politischen Diskursen. Die Sprache Misiks ist dabei leider durch zum Teil übertriebene Lockerheit und Unsachlichkeit gekennzeichnet. Für mit dem Thema nicht vertraute LeserInnen setzen die Ausführungen inhaltlich viel Vorwissen voraus – auch um die politischen Debatten einordnen zu können.

Die beiden letzten Kapitel sind die grossen Schwachstellen des Buches. Sie beinhalten Ausführungen zu wachsenden globalen „Schuldenbergen“ (S. 142ff.) sowie zu den Entwicklungen in Griechenland und Spanien seit der Finanzkrise. Misik stellt zu Beginn des Buchs grundsätzlich fest, dass Kapitalismus ohne Wachstum überhaupt nicht funktionieren könne, da es der Kern des Kapitalismus sei. Die sehr differenzierte Wachstumsdebatte der letzten Jahre wird hier von Misik stark verkürzt dargestellt. Der These neoliberaler WissenschaftlerInnen, dass sinkendes Wachstum per se zu mehr Schulden führe und Schulden per se schlecht seien, wird von Misik wenig entgegengestellt. Gegenpositionen, zum Beispiel von Heiner Flassbeck, finden nur kurze Erwähnung, werden aber nicht analytisch bearbeitet; alternative Ansätze bleiben somit in der Schwebe. Für Laien ist eine differenzierte Einordnung des Wachstumsbegriffs nicht gewährleistet.

Revolution von unten in Griechenland und Spanien?

Eine weitere Schwierigkeit zeigt sich nach den theoretischen Ausführungen. Es fehlt die schlüssige Verbindung zur praktischen Politik in Griechenland und Spanien. Diese beiden Länder werden als „best practice“ Beispiele von Misik herangezogen und aufgrund genossenschaftlicher Organisationen und der „Miteinander-Ökonomien“ (Solidarökonomien) (S. 203f.) als politische Vorbilder dargestellt. Ziel der Solidarökonomien sollte aus Misiks Sicht die „Transformation der Produktion“ (S. 208) sein, die aus kooperativen und alternativen Wirtschaftsformen entsteht. Dabei werden zwei Aspekte ausgeblendet: Zum einen gibt es solche Sharing-Projekte bereits seit Längerem auch in anderen Ländern (sogar in Deutschland). Diese sind regional begrenzt und haben in den vergangenen Jahrzehnten nie den Sprung geschafft, eine systemrelevante oder gar systemändernde Grösse zu spielen.

Zum zweiten verwundert es, dass aus Sicht Misiks gerade Griechenland und Spanien die „Revolution von unten“ in Europa anzetteln sollen. Wie viel Machteinfluss spricht Misik diesen beiden Ländern damit zu? Ist es nicht vollkommen utopisch, dass kleine regional begrenzte Projekte in Südeuropa die „Revolution von unten“ anstossen? Vielleicht ist es der Optimismus, den Misik gegen Ende des Buches versprüht, welcher der politischen Linken fehlt. Aber sind die kapitalistischen Verstrickungen in Europa und der Weltwirtschaft nicht viel zu weit fortgeschritten, als dass eine solche Systemänderung „von unten“ denkbar wäre? Misik schliesst anhand von regionalen Projekten in zwei europäischen Ländern auf das Ende des Kapitalismus. Diese Schlussfolgerung des Autors kommt jedoch allzu optimistisch daher, wenn man sich ihre Herleitung anschaut.

So postuliert der Autor, dass die Graswurzel-Bewegung in Spanien und Griechenland eine „Selbstverwirklichungsbewegung“ (S. 210) sei, die „Kreativität“ (S. 210) in der Arbeitswelt neu für sich entdecken würde. Diese These mutet schon zynisch an. Wie kann der Autor innerhalb der heutigen Arbeitsstrukturen, die durch Prekarität, Befristungen, Lohndruck und Arbeitsverdichtung geprägt sind, ernsthaft solche Entwicklungen erkennen? Die Realität der politischen Konfliktlinien zwischen Arbeit und Kapital – in ganz Europa – zeigt ein völlig anderes Bild.

Das Problem der „Schwarzen Null“

Hinzu kommt, dass die Ausführungen zur Schuldenpolitik der europäischen Staaten völlig losgelöst von den Debatten rund um die Schuldenbremse dargestellt werden. Falls die Leserin/der Leser kein explizites Wissen zum Thema „Schulden“ und „Schuldenaufnahme“ hat, entsteht durch die Ausführungen Misiks der Eindruck, als seien Schulden per se schlecht. Das ist fatal – insbesondere vor dem Hintergrund, dass überzeugte AnhängerInnen des Neoliberalismus die Schuldenaufnahme von Staaten immer wieder zum politischen Kampfthema machen.

Alternative Meinungen zum Thema Schuldenaufnahme, insbesondere zu öffentlichen Schulden, werden noch nicht einmal erwähnt. So kämpfen etwa Gewerkschaften und einige WirtschaftwissenschaftlerInnen seit Jahren dafür, dass insbesondere in Deutschland die Debatte um die „Schwarze Null“ nicht mehr so einseitig geführt und Schuldenaufnahme positiv gesehen wird: zum Beispiel als Investitionen in notwendige öffentliche Dienstleistungen und in Bildung. Nicht die Schulden sind das Problem, sondern die fehlenden Steuermehreinnahmen, weil es noch immer keine politischen Mehrheiten für grundlegende Steuerreformen gibt. Dieser Aspekt fehlt in Misiks Ausführungen.

Hinzu kommt, dass die praktischen Lösungsvorschläge des Autors (anhand von Spanien und Griechenland) im Verhältnis zu den theoretischen Ausführungen relativ kurz gehalten sind. Das kann die LeserInnen insofern irritieren, als der Eindruck entsteht: Die Theorie ist geschrieben, jetzt geht es in Südeuropa an die Umsetzung. Leider gibt Misik auf seine im Titel gestellte Frage, ob es uns glücklich machen würde, wenn der Kapitalismus stürbe, keine konkrete Antwort. Die „stille Transformation“ (S. 220), die das „grosse“ politische System (S. 219) ändern werde, ist jedoch aus Misiks Sicht bereits in vollem Gange. Dies macht er an seinen Beispielen aus Spanien und Griechenland fest. Das lobende Zitat auf dem Klappentext von Misiks „Freund“ (S. 197) Yanis Varoufakis und der effektheischende Buchtitel wecken jedoch höhere Erwartungen, als sie von Misik auf den gut 200 Seiten erfüllt werden.

Lea Arnold
kritisch-lesen.de

Robert Misik: Kaputtalismus. Wird der Kapitalismus sterben, und wenn ja, würde uns das glücklich machen? Aufbau Verlag, Berlin 2016. 224 Seiten, ca. 22.00 SFr. ISBN 978-3-351-03635-5

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