Rezension zum neuen Buch des bekanntesten linken Intellektuellen der USA Noam Chomsky: Was für Lebewesen sind wir?

Sachliteratur

23. Januar 2017

Noam Chomsky ist der bekannteste Anarchist der Welt.

Noam Chomsky an einer Diskussion über den US-Konzern Chevron in Boston, April 2015
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Noam Chomsky an einer Diskussion über den US-Konzern Chevron in Boston, April 2015 Foto: Luis Astudillo C. - Cancillería (CC BY-SA 2.0 cropped)

23. Januar 2017
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Auch wenn er wegen seiner Sprachtheorie und nicht als linksradikaler Kritiker berühmt geworden ist, unterlässt er es nicht, in seinen Publikationen für den Anarchismus zu werben. So auch in seinem neuen Buch: „Was für Lebewesen sind wird?“, das 2016 im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Allemal ein Grund, diesem Buch auf den Zahn zu fühlen, ist eine Kritik der bürgerlichen Herrschaft doch weder in diesem Verlag noch in der Wissenschaft allgemein üblich.

Auf der Suche nach guten Gründen…

Anarchismus ist für Chomsky „berühmt dafür, dass er gegen den Staat ist“ (142) – und Chomsky macht kein Geheimnis daraus, Anarchist zu sein. Nach einem solchen klaren Bekenntnis gegen das Gewaltmonopol der bürgerlichen Gesellschaft könnte man meinen, Chomsky lässt nun einige Argumente fallen, warum er gegen dieses ist. Doch für Chomsky ist der Anarchismus ein Programm um „Strukturen von Hierarchie, Autorität und Herrschaft zu identifizieren, die die menschliche Entwicklung einschränken, und sie dann mit einer höchst angebrachten Forderung zu konfrontieren: nämlich der, sich selbst zu rechtfertigen. Sie müssen demonstrieren, dass sie legitim sind – entweder unter besonderen Umständen während einer bestimmten Phase der Gesellschaft oder prinzipiell. Und wenn sie dieser Herausforderung nicht standhalten, sollten sie beseitigt werden.“ (137/138)

Allemal eine merkwürdige Art die Kritik am Staat zu praktizieren. Chomsky dreht die schlichte Tatsache, dass er selbst Bürger eines Staates und damit seinen Gesetzen unterworfen ist, einfach um: Nun soll ihm der Staat beweisen, dass er in seinem Sinne herrscht. Deshalb beschäftigt sich Chomsky gar nicht mit den Zielen und Zwecken eines Staates, nicht mit den Reden von Politikern oder den Verfassungen der bürgerlichen Gesellschaften – alle tatsächlichen inhaltlichen Bestimmungen sind dem antiautoritären Kritiker herzlich egal, stattdessen verlangt er gute Gründe dafür, beherrscht zu werden. Und wer so sucht, findet sie natürlich auch.

…, die natürlich auch gefunden werden

So wird die gerade erst eingeführte radikale Staatskritik sofort wieder kassiert, denn „in der real existierenden Welt [!] von heute unterstützen Anarchisten, die sich diesen Zielen verschrieben haben, oft staatliche Formen der Macht, um die Menschen, die Gesellschaft und die Erde selbst vor den Verheerungen durch das konzentrierte private Kapital zu schützen“ (142/143).

Staatskritik gut und schön, aber leider hat es der Anarchist „von heute“ mit einer „real existierenden Welt“ zu tun. Und in der findet er sofort gute Gründe dafür, beherrscht zu werden, denn der Staat kann man sich auch als einen „Schutz vor wilden Tieren vorstellen, die um den Käfig herumstreichen, nämlich vor den raubtierartigen, staatlich unterstützten [!] kapitalistischen Institutionen“ (143/144). Dass der Staat etwas mit den „wilden Tieren“ zu tun hat, deutet Chomsky selbst an, geht dem aber nicht nach. In seinem ideellen Richterstuhl über die Legitimität des Staates ignoriert er, dass kein Kapital der Welt sich ohne staatliche Garantie des Privateigentums akkumulieren könnte. Weil sich Chomsky nicht dafür interessiert, dass der Staat mit dem Eigentum die Konkurrenz seiner Bürger überhaupt erst freisetzt, stellt sich er einfach eine Welt der Konkurrenten ohne Staat vor, um ihn dann sehnlichst herbei zu wünschen: Natürlich immer kritisch.

Ein einziger Skandal!

Denn nur, weil der moderne Anarchist den Staat als Garant seiner Freiheit anerkannt hat, ist er noch lange nicht mit allem zufrieden: Die Demokratie sei schon längst zur „Plutokratie“ verkommen, und „unser Gesundheitssystem ist ein Skandal“ (145) – um nur zwei Kritiken zu nennen, die freilich konstruktiver nicht sein könnten. Diese Sorte Anarchist hat scheinbar gar kein Interesse daran, nachzuweisen, dass der Staat vielleicht seine Herrschaft aus ganz anderen Gründen ausübt, als um der Gesundheit seiner Bevölkerung willen. Von diesem anderen Interesse haben Anarchisten einmal gewusst, die das amerikanische Gesundheitssystem nicht als Skandal betrachtet haben, sondern als logische Konsequenz eines Staates, der in der massenhaften Vernutzung der Gesundheit seiner Bürger im Rust Belt sein Mittel hatte.

Chomsky hält dagegen am Ideal des guten Staates entschlossen fest, wenn er das Gesundheitssystem für einen Skandal hält – also für eigentlich zu diesem Staat ganz unpassend. Seine Kritik der Demokratie, die grosse Teile der Bevölkerung nicht mitbestimmen lasse und damit eher eine Plutokratie gleiche, hat die gleiche Schieflage: Die ganze Kritik der Demokratie lebt von der Lüge, eigentlich könne eine Herrschaft über die Bürger doch in deren Interesse organisiert werden. Weil er das allerdings im heutigen Amerika nicht sehen will, aberkennt er dem Staat den vermeintlichen Ehrentitel „Demokratie“ – allerdings ohne ihm die Gefolgschaft aufzukündigen.

Am Ende

Noam Chomskys neues Buch ist ein Beweis dafür, dass Anarchismus auch als eine Rechtfertigung des Staates mit kritischer Attitüde dienen kann. Die Aufforderung, der Staat habe sich für seine Herrschaft zu rechtfertigen, ist eben etwas ganz anderes als den Inhalt seiner Herrschaft zu bestimmen. Wer allerdings zweites leisten will, muss sich mit der politischen Ökonomie beschäftigen. Noam Chomsky schreibt derweil lieber noch zwei andere Kapitel in das Buch, deren Inhalt mit den beiden politischen Kapiteln gar nicht vermittelt ist. Eines über Sprache und eines über Erkenntnistheorie, die allerdings hier nicht besprochen werden müssen, weil seine Ausführungen dazu bereits an anderer Stelle kritisiert sind [1].

Berthold Beimler

Noam Chomsky: Was für Lebewesen sind wir? Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 248 Seiten, ca. 32.00 SFr, ISBN 978-3518586945

Fussnoten:

[1] Zu seiner Sprachtheorie findet sich alles Wichtige in: Held, Karl 1973: Kommunikationsforschung – Wissenschaft oder Ideologie? Zur Kritik an seinen Erkenntnistheoretischen Überlegungen finden sich einige Anregungen in: Königsberger Klopse – Kritik bürgerlicher Wissenschaft.