Michel Foucault: Überwachen und Strafen Ordnung und Disziplin

Sachliteratur

26. März 2021

Das Gefängnis hilft niemandem und wir werden es trotzdem nicht los.

Neue Justizvollzugsanstalt Oldenburg.
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Neue Justizvollzugsanstalt Oldenburg. Foto: /Martina Nolte (CC BY-SA 3.0 cropped)

26. März 2021
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Gegen Kriminalität scheint in den westlichen Gesellschaften kaum eine justizielle Massnahme so selbstverständlich, so naturwüchsig und so unumstösslich zu sein wie die Gefängnisstrafe. Doch das Gefängnis hat keineswegs den Effekt, Kriminalität zu verhindern. „Tatsächlich führt es fast schicksalhaft diejenigen wieder vor die Gerichte, die ihm anvertraut waren.“ (S. 327) Dieses Paradox ist so alt wie das Gefängnis selbst. Wer verstehen will, warum sich die Idee des Einsperrens trotzdem durchgesetzt hat, der*die kommt an dem Theorieklassiker „Überwachen und Strafen“ von Michel Foucault nicht vorbei.

Vom Spektakel zur Vernunft?

An einem Gerüst aufgehängt, mit glühenden Zangen malträtiert, mit geschmolzenem Blei begossen und schliesslich auf scheussliche Art zerstückelt. So plastisch beginnt „Überwachen und Strafen“ mit der Beschreibung einer öffentlichen Bestrafungsszene im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Der Verbrecher Damiens wird vor den Augen der Zuschauer gepeinigt und getötet. Grausame Zeiten waren das.

Nur rund 25 Jahre nach der grausamen öffentlichen Bestrafung sieht der Umgang mit Kriminellen ganz anders aus. Der Tagesablauf des*der Gefangenen ist jetzt zeitlich genau strukturiert, alles wird nüchtern protokolliert, nichts erinnert mehr an das erbarmungslose „Spektakel“ (S. 16) der „Marterzeremonie“ (S. 75). Verbrecher*innen werden nicht mehr vor aller Augen gefoltert und gedemütigt, sondern in Haftanstalten eingeschlossen, ihre Arbeitskraft wird genutzt und ihr Tagesablauf penibel dokumentiert. Es ist wirklich erstaunlich, mit welcher Geschwindigkeit sich die Handhabung von Kriminalität gewandelt hat. Zum Glück ist unsere Welt nicht mehr so finster. Das Licht der Aufklärung liess uns vernünftig werden. Oder etwa doch nicht?

Foucault zeigt uns in „Überwachen und Strafen“ auf nicht immer einfache, dafür aber präzise Art und Weise, wie die Vorstellung eines Menschen, den es im Gefängnis zu bestrafen und zu disziplinieren gilt, überhaupt entstanden ist, und dass diese Vorstellung selbst erst Ergebnis von Techniken einer am Ideal der Einsperrung ausgerichteten Gesellschaft ist. Damit wird diese Gesellschaft selbst zum grössten Gefängnis.

Die Verwandlung des Strafziels ist, so zeigt Foucault, das Ergebnis eines langen Reformprozesses, der sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ankündigt. Was sich hier vollzieht ist jedoch weniger das Ergebnis humanistischer Reformbestrebungen, die es zugegebenermassen auch gab. Interessant für Foucault sind die neuen Formen der Macht, die sich mit diesem Prozess in die gesamte Gesellschaft einnisten.

Die anonyme Macht

Macht ist bei Foucault keine repressive Kraft im Sinne der Ausübung von Gewalt. Statt einseitigem Kräfteverhältnis interessieren ihn verschiedene Ausprägungen von Macht, die eine Gesellschaft auf unterschiedliche Weise formen. Anstatt uns also eine in sich geschlossene Theorie der Macht zu liefern, die man anschliessend nur im Realitätscheck überprüfen müsste, um ihre Gültigkeit zu bewerten, lädt Foucault uns dazu ein, ganz anders über soziale Phänomene nachzudenken. Er verknüpft die historische Analyse verschiedener Strategien und Techniken, Diskurse und Praktiken miteinander. Nicht um zu erklären, was hinter diesen Massnahmen steht, sondern um verständlich zu machen, wie sie funktionieren.

Macht ist immer als ein Beziehungsverhältnis zu verstehen, nicht als Ausdruck einer individuellen Fähigkeit. Natürlich wird auch Foucault nicht leugnen, dass etwa die Polizei als Institution Herrschaftsstrukturen durchsetzen kann, oder dass es innerhalb einer Gesellschaft dominierende Gruppen gibt, die ihre Interessen verfolgen können. Aber Macht besitzen sie deshalb noch lange nicht. Solche Konstellationen sind strategische Kräfteverteilungen, die stets umkämpft bleiben. Jeder Kampf und jede Disziplinierung ist bei Foucault als unterschiedliche Form dieser Machtbeziehungen zu verstehen. Wer sie steuert ist nicht entscheidend, wer gewinnt steht niemals fest.

Disziplin als Ordnungsprinzip

Auf eben solch anonyme Weise vollzieht sich auch die Entstehung des Gefängnisses. Foucaults zentrale These lautet, dass sich das Gefängnis als Bestrafungs- und Besserungsinstrument eben deshalb durchsetzt, weil es nach Prinzipien funktioniert, die unsere gesamte Gesellschaft strukturieren, den Prinzipien der Disziplin. Foucault beschreibt damit einen vollkommen neuen Zugriff auf individuelles Verhalten, welcher der Abschreckung durch eine grausame Bestrafung entgegengesetzt ist. Die Machtausübung des klassischen Zeitalters ist einem Netzwerk von Disziplinartechniken gewichen, das nun den gesamten Gesellschaftskörper durchzieht.

Die Herstellung abgegrenzter Räume, die Einrichtung einer optimalen Zeitökonomie, und schliesslich die Etablierung einer „Mikro-Justiz“ mit all ihren Sanktionierungs- und Normierungsstrategien bringen ein „Disziplinarindividuum“ (S. 241) hervor, das optimal qualifiziert, verglichen und korrigiert werden kann. Und zwar nicht nur in einem repressiven, sondern zugleich in einem für die Gesellschaft „produktiven“ Sinne: Disziplinierung erschafft das moderne Subjekt, indem es sich der Disziplinierung unterwirft.

Die Inhaftierung von Kriminellen bildet dabei keine Ausnahme. Im Gefängnissystem treten genau diese Effekte hervor und verbinden sich zu einer neuen Machttechnologie. Bei der Behandlung von Gesetzesbrecher*innen wird nun nicht mehr auf das Verbrechen und das entstandene Unrecht fokussiert, sondern auf den*die Verbrecher*in. Zu diesem Wissen über den*die Delinquent*in gehört vor allem die Biographisierung des jeweiligen Verbrechersubjekts, wo in der Abweichung Typologisierungen und Normen entstehen. Diese „Einführung des ‚Biographischen'“ (S. 324) in die Gerichtspraxis erlaubt es, den moralisierenden Anspruch der Bestrafung mit dem Ziel der Besserung zu durchsetzen.

Menschen werden zu Objekten

Dass eine solche „Normalisierungsmacht“ (S. 392) durch ihre Ordnungs- und Strukturierungsmechanismen Wissen produziert, zeigt ihren produktiven Charakter. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass Wissen und Macht gleichbedeutend sind.

„Eher ist wohl anzunehmen, dass die Macht Wissen hervorbringt (und nicht bloss fördert, anwendet, ausnutzt); dass Macht und Wissen einander unmittelbar einschliessen; dass es keine Machtbeziehung gibt, ohne dass sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, dass nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert.“ (S. 39)

So sind Institutionen des Wissens eben auch Disziplinarinstitutionen: die Schulen, in denen die Schüler nach ihrem Können und ihrem Verhalten geordnet, klassifiziert und gegeneinander verglichen werden, aber auch die Entstehung der Psychiatrie, in der das Normale dem Anormalen, dem „Wahnsinn“, gegenübergestellt wird oder eben das Gefängnis, das den*die Delinquent*in als von der Norm abweichendes Subjekt „produziert“ (S. 342). Mit der Herstellung der Norm als Bezugspunkt der Macht sind auch die Normalisierungsrichter*innen überall anzutreffen. Richter*innen, Ärzt*innen, Pädagog*innen, Sozialarbeiter*innen, „sie alle arbeiten für das Reich des Normativen“ (S. 393), das diese neue Normalität errichtet und in deren Macht wir gefangen sind. „Was die Richter durchsetzen, wenn sie ‚therapeutische Urteile' fällen und ‚Resozialisierungsstrafen' verhängen, ist die Ökonomie der Macht und nicht die ihrer Skrupel oder ihres Humanismus“ (S. 392). Nicht eine neue Menschlichkeit, sondern eine neue Nützlichkeit im Machtgeflecht entscheidet über den Umgang mit Straffälligen.

Die Verwaltung der Gesetzwidrigkeiten

Der scheinbare Widerspruch, mit der Bekämpfung der Delinquenz selbige erst zu produzieren, ist nach Foucault ein Phänomen, das bereits in der zeitgenössischen Kritik am Gefängnissystem thematisiert wird. Die Ausbildung dieser Straftechnik sei immer schon mit der Kritik an deren Unwirksamkeit verbunden gewesen. Doch der Gegensatz wird dadurch aufgelöst, dass

„das Gefängnis und überhaupt die Strafmittel nicht dazu bestimmt sind, Straftaten zu unterdrücken, sondern sie zu differenzieren, zu ordnen, sie nutzbar zu machen […] Die Strafjustiz wäre dann so etwas wie die ‚Verwaltung' der Gesetzwidrigkeiten“ (S. 350f.).

Gefängnisse verhindern also keine Straffälligkeit, das war den Kritiker*innen des Gefängnisses von Beginn an bewusst. Eine solche Kritik verkennt aber, – und das ist das Verdienst Foucaults – dass es nicht die Aufgabe des Gefängnisses ist, Kriminalität zu verhindern, sondern sie zu ordnen, und zu differenzieren. Es ist also zwingender Bestandteil der Logik des Gefängnisses, dass es ihren eigenen Gegenstand hervorbringt. Würde es Straffälligkeit tatsächlich verhindern, so könnte man es auf die Spitze treiben, würde sich das Gefängnissystem selbst abschaffen.

Max Tribukait
kritisch-lesen.de

Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übersetzt von: Walter Seitter. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1977. 408 Seiten. ca. SFr. 26.00. ISBN: 978-3-518-27784-3

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