Michael Hardt, Antonio Negri: Demokratie! Wofür wir kämpfen. Wenn die Subjekte ihre Angst ablegen

Sachliteratur

14. Juni 2016

Hardt und Negri präsentieren politische Alternativen gegen die Krisenpolitik des Empire. Die Autoren setzen ihre Arbeiten in den Kontext der aktuellen Krisen und zeigen Perspektiven gegen den gegenwärtigen Kapitalismus auf.

Die Verwahrten sind nicht nur die in Gefängnissen inhaftierten Massen rassistischer, autoritär-kapitalistischer Systeme, sondern auch die den mannigfaltigen Mechanismen der postfordistischen Kontrollgesellschaft Unterworfenen und Überwachten der „gesellschaftlichen Fabrik“.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Die Verwahrten sind nicht nur die in Gefängnissen inhaftierten Massen rassistischer, autoritär-kapitalistischer Systeme, sondern auch die den mannigfaltigen Mechanismen der postfordistischen Kontrollgesellschaft Unterworfenen und Überwachten der „gesellschaftlichen Fabrik“. Foto: Ira Gelb (CC BY-ND 2.0 cropped)

14. Juni 2016
2
0
8 min.
Drucken
Korrektur
Nach der Trilogie „Empire“ – „Multitude“ – „Common Wealth“ legten Hardt und Negri nun eine ganz andere Sorte Text vor: Eine Deklaration. So lautet übrigens auch der – treffendere – englische Titel des schmalen Bändchens. Anlass der veränderten Tonlage – der Text ist viel näher an der Alltagssprache verfasst – sind einerseits die langanhaltende Krise des kapitalistischen Weltsystems, andererseits die aktuellen sozialen Bewegungen rund um den Erdball. Im Gegensatz zur Empire-Trilogie ist „Demokratie!“ weniger theoretisch-analytisch ausgerichtet, sondern vielmehr eine unmittelbare politische Intervention in diese Bewegungen.

Subjektivierungsweisen in der Krise

Zunächst greifen Hardt/Negri einen Aspekt der Krise auf, der im Rahmen ihrer Entwicklung und der damit verbundenen Protestbewegungen immer stärker ins Zentrum rückte: Schulden beziehungsweise die durch diese produzierte Form von Subjektivierung, jene der Verschuldeten. Verschuldet-Sein wird zu einem Kernbestandteil postfordistischer Herrschaft, die Bedienung von Gläubigern und die Allgegenwart von Schulden formen im heutigen postfordistischen Kapitalismus ein ähnliches zentrales Herrschaftsdispositiv wie die industrielle Fabrik und die damit einhergehende Ausbeutung in der fordistischen Ära.

Darüber hinaus werden im ersten Kapitel drei weitere Subjektivierungsweisen des gegenwärtigen Krisenkapitalismus umrissen: die Vernetzten, die Verwahrten und die Vertretenen. Unausgesprochen selbstkritisch werden bei deren Vorstellung die negativen Auswirkungen der gegenwärtigen Krise(npolitik) ins Zentrum gerückt. Bemerkenswert ist dabei die offensichtliche Abkehr vom operaistischen Paradigma der Privilegierung sozialer Kämpfe vor der Reaktion der Herrschenden. Vom oft ins Triumphalistische abgleitenden Ton früherer Texte ist in „Demokratie!“ nur wenig zu spüren. Die Vernetzten sind eben nicht – oder zumindest nicht nur – die kommunizierenden und interagierenden kämpfenden Subjekte, sondern die durch Fernsehen und Internet unentwegt zum Vernetzt-Sein gezwungenen vereinzelten Individuen, beständig einem Zwang zum Kommunizieren-Müssen unterworfen.

Die Verwahrten sind nicht nur die in Gefängnissen inhaftierten Massen rassistischer, autoritär-kapitalistischer Systeme, sondern auch die den mannigfaltigen Mechanismen der postfordistischen Kontrollgesellschaft Unterworfenen und Überwachten der „gesellschaftlichen Fabrik“. Last not least beschreiben Hardt und Negri in der Figur der „Vertretenen“ die Ohnmacht der zur repräsentativen Demokratie gezwungenen Subjekte nach dem Verschwinden aller Möglichkeiten, über die Institutionen der repräsentativen Demokratie auch nur kleine massenwirksame Reformen zum Besseren durchzusetzen. Was bleibt, ist die Permanenz des parlamentarischen Spektakels, dass in all seinen Facetten doch nur immer zu einem Ziel führt: Dass die Reichen reicher, die Armen ärmer und die „Anderen“ systematisch ausgegrenzt und diskriminiert werden.

Multitude und das Kommune

Genau dagegen richten sich die Rebellionen der Multitude. Spätestens hier, beim zweiten von drei Kapiteln, „Rebellion gegen die Krise“ betitelt, fällt dann doch eine Parallele zur Empire-Trilogie auf: auch sie beschäftigte sich zunächst mit der Herrschaftsweise des Empire, um anschliessend Genese und Entwicklung der Multitude als rebellischer Subjektivität zu analysieren, welche schliesslich in der absoluten Demokratie des Commonwealth – aller gegenteiliger Beteuerungen der Autoren zum Trotz ganz hegelianisch – zu sich kommt. So verwundert denn auch kaum, dass der dritte und abschliessende Teil der Deklaration mit „Eine Verfassung für das Gemeinsame“ überschrieben ist. Zunächst aber werden im zweiten Kapitel den Figuren der Unterwerfung jene der Befreiung entgegen geschleudert: „Verweigert die Schulden!“, „Schafft neue Wahrheiten!“, „Befreit Euch!“ und „Verfasst Euch!“ lauten die imperativen Empfehlungen, die wohl nicht ganz zufällig an die Bestseller-Titel des kürzlich verstorbenen Stéphane Hessel angelehnt sind.

Doch entgegen dem etwas anmassenden Befehlston versuchen die Autoren lediglich jene Tendenzen innerhalb der gegenwärtigen Bewegungen herauszuschälen, die über die mehr oder weniger kreativen Wiederholungen so bekannter wie wirkungsloser linker Traditionsbestände hinausgehen. Anhand unterschiedlicher Bewegungen der letzten Jahre, von den Aufständen in den Pariser Banlieues über die Occupy-Bewegung(en) bis zum „Arabischen Frühling“ untersuchen sie die Gemeinsamkeiten in den neuen Formen real praktizierter unmittelbarer Demokratie. „Wir müssen Widerstand, Aufstand und konstituierende Macht als einen untrennbaren Prozess denken“, schrieben Hardt und Negri vor mehr als 10 Jahren. Jetzt versuchen sie, diese schlaue, jedoch abstrakte Parole durch die Kampferfahrungen und strategischen Tendenzen realer Bewegungen zu konkretisieren.

Ob kollektiv organisierter Widerstand gegen die Zwangsräumungen Verschuldeter, spontane und nichtsdestotrotz äusserst gut koordinierte Kommunikationsformen der Jugendrevolte in England oder des „Arabischen Frühlings“, oder aber die Praxen realer Demokratie in der Bewegung der Platzbesetzungen: Hardt und Negri geht es letztlich um die Verbindung einer kollektiven, nicht aber vereinheitlichenden Politik gegen die Angst und für die Wiedereroberung, Verfassung und kollektive Nutzung des gemeinsam produzierten gesellschaftlichen Reichtums, kurz: des Kommunen. (An dieser Stelle erscheint mir eine Bemerkung zur deutschsprachigen Übersetzung unumgänglich; diese zeigt nämlich gerade in der Verwendung wichtiger Begriffe zum Teil deutliche Unsicherheiten. Manifest wird dies an der Kategorie des Kommunen: Dies wird, offenbar völlig beliebig als Gemeinsames, Gemeines oder Gemeinschaftliches übersetzt. Um die kommunistische Potenzialität des Begriffs und auch die strikte Unterscheidung zum von Tönnies geprägten Konzept der Gemeinschaft deutlich zu machen, verwende ich ausschliesslich den Begriff des Kommunen.)

Das Kommune unterscheidet sich von der traditionellen sozialistischen Vorstellung öffentlichen/staatlichen Eigentums ebenso wie vom kapitalistischen Privateigentum. Wie auch die Form der Demokratie sich aus den kollektiven Übereinkünften der Vielen (quasi als Form der Demokratie eines postfordistisch gewendeten Rousseauschen „Volonté de tous“ gegen den vereinheitlichenden und repräsentierten „Volonté générale“ speist, so ist der Horizont der Verfassung des Kommunen nicht mehr jener des Eigentums, sondern die gemeinsame Nutzung des gemeinsam Produzierten.

Biopolitischer Kapitalismus

Der Neoliberalismus, zunächst angetreten als politische Strategie, um den Widerständen der ArbeiterInnen zu begegnen und gleichzeitig das Begehren hinter diesen Widerständen in neue Quellen kapitalistischen Profits umzuwandeln (Flexibilität, Individualisierung, Autonomie et cetera), verwandelt sich – nicht zuletzt angesichts der tiefen Krise – in eine Form kapitalistischer Akkumulation, die auf scheinbar vorkapitalistische Methoden herrschaftlicher Reichtumsvermehrung abstellt: Enteignung (des Kommunen) und die sogenannte „ursprüngliche Akkumulation“ beziehungsweise ihre Kombination.

Entgegen fortschrittsgläubiger Vorstellungen sind dies keineswegs längst vergangene Formen von Ausbeutung; vielmehr kehren sie auch auf der vermeintlich fortgeschrittensten Ebene kapitalistischer Vergesellschaftung ebenso wieder wie die Abpressung von absolutem Mehrwert – wenngleich auch in verwandelter Form. Gleichzeitig mit diesen „postmodernen“ Formen scheinbar präkapitalistischer Akkumulation und mit ihnen eng verwoben tauchen aber auch ihre „altbekannten“ Varianten wieder verstärkt auf, wenn Nahrungsmittel, Energie Wasser, aber auch die Verlängerung der Arbeitszeit (wieder) zu zentralen Elementen von Ausbeutung und sozialen Kämpfen werden.

Gleichzeitig finden sich aber auch auf der Ebene postfordistischer Dienstleistungen und sogar in den Prozessen der Finanzialisierung der gesamten Gesellschaft diese Elemente – wenngleich auch in verwandelter Form. Carlo Vercellone nennt diesen Prozess das „zur-Rente-Werden“ des Profits. Er zeigt, dass diese vermeintlich präkapitalistische Form von Rentenökonomie im gegenwärtigen Kapitalismus ins Zentrum des Ausbeutungsprozesses rückt. Ausgebeutet/Eingehegt/Angeeignet werden dabei nicht mehr nur die stoffliche Natur als Grundlage der (Re-)Produktion gesellschaftliche Lebens, sondern auch das auf ihrer Basis gemeinsam Produzierte – und, noch darüber hinausgehend, die Produktivität der Individuen und ihre Körper selbst.

Dieser Prozess lässt Hardt und Negri dann auch vom „Biopolitischen Kapitalismus“ sprechen. Letzterer geht über die Analyse des Neoliberalismus (als polit-ökonomischer Etappe) noch hinaus und bezeichnet die Notwendigkeit, das gesamte gesellschaftliche Leben und die Körper in Wert zu setzen. Dies verleitet die Autoren allerdings nicht zu einer düsteren Sicht auf die allgegenwärtige Verdinglichung gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern zeigt vielmehr die Möglichkeiten und Ansatzpunkte widerständiger Praxen, ja sogar kommunistischer sozialer Verhältnisse auf. Wenn der biopolitische Kapitalismus all unsere Körper, unser Wissen und unsere Produktivität benötigt, um überhaupt noch akkumulieren zu können, dann ist er, so Hardt und Negri, eigentlich in einer Sackgasse, aus dem ihm auch – was die Krise zeigt – immer wahnwitzigere Finanzialisierungsdynamiken nicht mehr retten können.

Das Kapital braucht uns, die Multitude, aber wir brauchen das Kapitalverhältnis nicht mehr, wenn wir uns nur auf das enorme kollektive Vermögen unserer gemeinsamen Produktivität besinnen. Der Einsatz biopolitischer Kämpfe geht dabei ebenso wie der Begriff des biopolitischen Kapitalismus über die Analyse und Kritik des Neoliberalismus hinaus. Wo dessen Kritik noch an die Formprinzipien von Eigentum und Staat gebunden bleibt, wie beispielsweise in den Forderungen nach einer Rückkehr zum öffentlichen Eigentum und staatlicher (Re-)Regulierung, weisen die biopolitischen Auseinandersetzungen auf dem Terrain des Kommunen über diese Prinzipien hinaus. In „Commonwealth“ sprechen Hardt/Negri von der Notwendigkeit der Überschreitung der pervertierten Formen des Kommunen in den drei wichtigsten gesellschaftlichen Bereichen, nämlich der Familie, des Eigentums und der Nation.

Revolution als Begegnung von Prozess und Ereignis

Leider findet sich im gesamten Text keine Reflexion der Transformation von Arbeitsteilung sowie jene der Produktionsweise im biopolitischen Kapitalismus, und so stellt sich im Laufe der Lektüre ein gewisses Unbehagen ob der „politizistischen“, das heisst Arbeitsverhältnisse vernachlässigenden Schlagseite des Textes ein. Nichtsdestotrotz prägen den Schlussteil viele instruktive Ideen einer Neukonfiguration gesellschaftlicher Konstitution, die schliesslich gar in Vorschlägen zu einer „Agenda für eine neue Gewaltenteilung“ münden, die allerdings den Charakter des Neuen, der die Kraft vieler Gedanken von „Demokratie!“ ausmacht, vermissen beziehungsweise zumindest im nebulösen Grau verschwimmen lässt.

Trotz des ein oder anderen Wermutstropfens aber weist der Band in die richtige Richtung, nämlich über die modernen Dichotomien von Staat versus Privat und „Chaos“ versus Repräsentation hinaus, hin zu den Formen einer Politik des Kommunen, die aus den gegenwärtigen Kämpfen und bereits existierenden nicht-kapitalistischen Vergesellschaftungsweisen heraus ihre Kraft bezieht, und nicht aus antiquierten linken Gewissheiten oder abstrakt-utopischen Modellen.

John Holloway schrieb vor einigen Jahren einen Essay über die „Zwei Zeiten der Revolution“, in dem er – ganz zapatistisch – der Zeit des unumgänglich zu beseitigenden kapitalistischen Wahnsinns (Jetzt!) jene des „Wir gehen langsam, denn wir haben einen langen Weg zu gehen!“ zur Seite stellte. Diesen doppelten Einsatz der Revolution als Prozess und Ereignis (bei Hardt/Negri: Kairos) in den Blick genommen zu haben, ist die Stärke von „Demokratie!“: „Wir stehen [...] vor einer paradoxen Aufgabe: Wir müssen uns auf ein Ereignis vorbereiten, dessen Datum ungewiss ist.“

Martin Birkner
kritisch-lesen.de

Michael Hardt, Antonio Negri: Demokratie! Wofür wir kämpfen. Campus, Frankfurt am Main 2013. 127 Seiten. ca. 17.00 SFr., ISBN: 9783593398259

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.