Bürgerliche Wissenschaft und ihre Fehler (Teil 2) Martin Gross: Klassen, Schichten, Mobilität

Sachliteratur

14. September 2016

Diese Rezension ist Teil der Reihe „Bürgerliche Wissenschaft und ihre Fehler“. In den Universitäten wird Wissenschaft betrieben, die sich in ihren sozial– und geisteswissenschaftlichen Abteilungen für die offene Gesellschaft und gegen ihre Feinde ausspricht. In dieser kurzen Reihe werden ausgesuchte Veröffentlichungen dieser Wissenschaften rezensiert und sich die Zeit für einen genaueren Blick auf diese Ergebnisse dieser Wissenschaften genommen.

Martin Gross: Klassen, Schichten, Mobilität.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Martin Gross: Klassen, Schichten, Mobilität. Foto: Magdalena Roeseler (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

14. September 2016
5
0
7 min.
Drucken
Korrektur
Im Jahr 2015 erschien die zweite und um ein Kapitel erweiterte Auflage von Klassen, Schichten, Mobilität, der Einführung in die Ungleichheitsforschung des Tübinger Professors Dr. Martin Gross. Als aktuelles Buch zur Klassenfrage des Springer Verlages ist es damit für jeden einen zweiten Blick wert, der sich in der deutschsprachigen Soziologie mit Konzepten der Klassengesellschaft beschäftigt. Noch vor der Finanzkrise ab 2007, auf die eine Kredit- und Schuldenkrise folgte, war es in deutschen Soziologiekreisen kaum noch üblich, von Klassen zu sprechen, „als Analysekonzepte sozialer Ungleichheit etwas aus der Mode gekommen“ (Gross 2015: 12) kann da schon fast als Euphemismus gelten. Der eigene Anspruch des Buches ist es, eine gründliche Einführung „in zentrale Konzepte der Ungleichheitsforschung zu geben“ (Gross 2015: 9). Ob dies gelingt, soll im folgenden Thema sein.

Der Aufbau des Buches

Das in sieben Kapitel gegliederte Buch – mit dem Fazit sind es acht – behandelt die „Klassiker“ der Klassen- und Schichtanalyse wie Karl Marx, Max Weber und Theodor Geiger im ersten Kapitel, um im Folgenden die Entwicklung deren Theorien durch ihre Schüler_innen nachzuzeichnen. Das dritte Kapitel widmet sich neuen Ungleichheitskonzepten, die sich auf „Lagen“, „Milieus“ und „Lebensstil“ beziehen. Das hier anschliessende Kapitel widmet sich der sozialen Mobilität, ebenso das fünfte Kapitel: Dieses allerdings mit dem Schwerpunkt auf den Zusammenhang zwischen Arbeitsmarktprozessen und Klassenbildung. Im sechsten Kapitel, „Arbeitsmarktflexibilisierung und Klassenbildungsprozesse“, geht es unter anderem um die historischen Bedingungen der Klassenbildung sowie um die Klassenbildung heute. Das siebte und letzte Kapitel vor dem Abschluss behandelt den Anstieg der Einkommensungleichheit in den letzten Jahren.

Die Klassen bei Marx nach Gross

Es ist immer leicht Autor_innen vorzuwerfen, in ihren Büchern etwas nicht oder zu wenig behandelt zu haben, was nach eigenem Dünken zentral sei. So ist die stiefmütterliche Abhandlung der marxschen Konzeption auf gerade einmal neun Seiten zu Beginn des Buches wohl für all jene zu verschmerzen, die den alten Kommunisten so oder so als Pflichtübung beim Thema „Klassen“ verstehen, die am besten schnell und schmerzlos auf den ersten Seiten erledigt wird. Gerade allerdings für jene Leser_innen, die sich bisher mit Marx nicht auseinandergesetzt haben, bietet das Kapitel über Marx nicht nur wenig, sondern vor allem höchst zweifelhafte Informationen, die kaum ein richtiges Bild des Theoretikers liefern. So nennt Gross drei Kritikpunkte an Marx, die im Folgenden besprochen werden sollen:

1. Der Lohn als das zum Überleben notwendige?

„Die hohen Variationen des Einkommens und anderer Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer ist nicht mit der Marxschen Grundannahme vereinbar, dass Arbeiter als Lohn nur das zum Überleben Nötige erhalten“ (Gross 2015: 23). Der Kritikpunkt klingt einleuchtend: Wer verdient heute in Deutschland schon so wenig, dass er sich nicht zumindest ein IPhone und einmal im Jahr einen Urlaub leisten kann, zudem einen Fernseher, Zigaretten und den Kinobesuch? Diese angebliche marxsche Grundannahme gibt es nur leider nicht, wieso es auch wenig überrascht, dass sich Gross hier auf keine Schrift von Marx bezieht. Vielmehr ist es so, dass Marx selbst bereits darum wusste, dass die Reproduktion der Ware Arbeitskraft nicht einfach zu verstehen ist als das „zum Überleben Nötige“. Der Umfang der sogenannten

„notwendigen Bedürfnisse, wie die Art ihrer Befriedigung, [ist] selbst ein historisches Produkt und hängt daher grossenteils von der Kulturstufe eines Landes, unter anderem auch wesentlich davon ab, unter welchen Bedingungen, und daher mit welchen Gewohnheiten und Lebensansprüchen die Klasse der freien Arbeiter sich gebildet hat. Im Gegensatz zu den anderen Waren enthält also die Wertbestimmung der Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element“ (Marx 2008: 185).

Dass sich heute also die „Reproduktion der Arbeitskraft“ auch in einem jährlichen Urlaub in Thailand äussert, ist durchaus keine Widerlegung der marxistischen Annahme, sondern fällt unter das ihm bereits bekannte historische und moralische Element des Lohns. Es handelt sich hier also weniger um eine Kritik an Marx selbst als vielmehr um eine Kritik an vielen marxistischen Theorien, in denen diese falsche Übertreibung kolportiert wird.

2. Mehr als Proletarier und Kapitalisten?

„Dementsprechend muss zweitens der Klassenbegriff eine interne Differenzierung von Arbeitgeber und Arbeitnehmer ermöglichen, um der Vielschichtigkeit der Lebensbedingungen innerhalb der beiden hauptsächlichen Klassen gerecht zu werden.“ (Gross 2015: 24) Auch dieser zweite Kritikpunkt klingt einleuchtend: Die ganze Gesellschaft reduzieren auf zwei Klassen, und diese auch noch völlig homogen! Hat Marx da nicht etwas vergessen? Was ist zum Beispiel mit den Manager_innen, die zwar kein Eigentum haben, aber wohl mit ihren Millionen an Gewinnbeteiligung kaum ins Bild des Proletariats passen? Ist das marxsche Konzept von Klassen also schlicht unterkomplex? Auch hier ist – will man sehr grosszügig sein – wohl kaum die marxsche Analyse gemeint, sondern vielleicht das eine oder andere Flugblatt einer K-Gruppe Anfang der 1970er Jahre. Marx für seinen Teil kennt natürlich alle möglichen Gruppen innerhalb und jenseits der beiden grossen Klassen.

So behandelt er zum Beispiel im dritten Band des Kapitals die Rolle der Epitroposa (vgl. Marx 1979: 400), also dem, was wir heute als Manager_innen kennen, die zwar eigentumslos sind, aber keinesfalls arm. Aber das ist natürlich nicht das Einzige: Grundbesitzer_innen werden im zweiten Band des Kapitals behandelt (vgl. Marx 1963: 361), schon im ersten Band wimmelt es von Kleinbürger_innen (vgl. Marx 2008: 82), noch nicht der kapitalistischen Logik völlig einverleibten Bauern und Bäuerinnen (vgl. Marx 2008: 528) etc.

3. Den ökonomischen Determinismus überwinden

„Drittens muss der ökonomische Determinismus des Marxschen [sic!] Klassenkonzepts überwunden werden. Die Annahme, dass alle kulturellen Phänomene wie Werte, Ideen oder politisches Handeln nur der [sic!] nachgelagerte[sic!] Überbau zum ökonomischen Unterbau darstellen, ist nicht haltbar. Insbesondere muss eine Klassentheorie darlegen können, wie kulturelle Phänomene auf die Klassenstruktur zurückwirken“ (Gross 2015: 24).

Diese „Annahme“ entspringt einer bestimmten Lesart des ganze vier [!] Seiten langen Vorworts von Marx zur „Kritik der Politischen Ökonomie“ (vgl. Marx 1971: 7 – 11) und wird von Marx selbst an vielen anderen Stellen präzisiert. Diese allerdings sind dann kaum noch in der von Gross zitierten Art und Weise zu deuten. So schreibt Marx unter anderem in seinem Werk „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“:

„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden“ (Marx 1972: 115).

Es geht also nicht um eine Determinierung, sondern viel mehr um die Struktur (um es im Duktus der heutigen Soziologie zu sagen) des Handelns der Menschen. Diese Dialektik von Freiheit und Zwang beziehungsweise Handlung und Struktur zusammenzudenken, ohne dabei einem Determinismus zu verfallen, hat einmal Theodor Wiesengrund Adorno schön auf den Punkt gebracht: „der Unternehmer kann sein Geld herausschmeissen und der Arbeiter, der kann seine Arbeitszeit verschlafen […], diese Freiheit hat er schon, aber der Unternehmer macht dann bankrott und der Arbeiter wird herausgeschmissen“ (Adorno 1997: 198).

Was bleibt?

Eine Einführung hat es mit Leser_innen zu tun, die zumeist nichts bis wenig über die vorgestellten Theorien und Theoretiker_innen wissen und muss deshalb vielleicht nicht so innovativ sein wie andere Publikationen, dafür aber einen richtigen Eindruck über die Autor_innen vermitteln, die behandelt werden. Natürlich bespricht diese Rezension nur wenige Seiten des ganzen Buches, was allerdings in der Natur der Sache liegt: eine Einführung, die ein so grosses Spektrum wie die verschiedenen Klassentheorien behandelt, sollte dort überprüft werden, wo man sich selbst auskennt, um von dieser Basis aus darauf zu schliessen, wie gut die Informationen sind, die man über die Autor_innen bekommt, die einem selbst neu sind. Wendet man diese Logik auf den vorliegenden Band an, steht es nicht gut um ihn.

Wer sich dafür interessiert, wie es aktuell um die Klassengesellschaft in Deutschland steht, sei deshalb auf das ausgezeichnete Buch „Das Proletariat. Die grosse Karriere der lohnarbeitenden Klasse kommt an ihr gerechtes Ende“ aus dem Gegenstandpunkt Verlag verwiesen. Es behandelt zwar keine soziologischen Theorien über die Klassen, erklärt dafür aber, was die moderne Klassengesellschaft ausmacht.

Berthold Beimler

Martin Gross: Klassen, Schichten, Mobilität. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2015. 252 Seiten. ca. 24.00 SFr., ISBN: 978-3531147772