Margarete Stokowski: Untenrum frei Von Sex, Revolution und Motorsägen

Sachliteratur

14. März 2017

Ein Debüt, das von Ungleichbehandlung im Grossen wie im Kleinen erzählt und sich mit gängigen Argumenten gegen Feminismus auseinandersetzt.

«Feminist Sex is Fun» (2008), Graffiti in Tel Aviv.
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«Feminist Sex is Fun» (2008), Graffiti in Tel Aviv. Foto: Talmoryair (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

14. März 2017
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Margarete Stokowskis Debüt „Untenrum frei“ ist vieles in einem. Es ist ein Buch über das Leben der Autorin, genauer gesagt, über ihr Erwachsenwerden, ein Buch über Sex und über Feminismus. Und schliesslich ein Buch darüber, wie das alles miteinander zusammenhängt.

Das Themenspektrum von „Untenrum frei“ ist umfangreich. Es geht unter anderem um Schönheitsideale, Selbstverletzung, Essstörungen, sexuelle Gewalt, sexuelle Identität, Begehren, Pornographie, Sex im Nationalsozialismus, '68 und die „Sexuelle Revolution“, die vielleicht gar keine war, Jugend-, Frauen- und Männerzeitschriften, Werbung, Anarchismus, Intersektionalität, Biologie, Bildung, Neurowissenschaften und Kirche. Zitiert wird kreuz und quer von Theodor W. Adorno bis Pinky (aus „Pinky und Brain“), von Hegel über bell hooks bis Sibylle Berg.

So viel Stoff auf 250 Seiten – kann das gut gehen? Erstaunlicherweise: ja! Die Autorin – Jahrgang 1986, von 2012 bis 2015 Kolumnistin der taz, seitdem wöchentliche Kolumne bei S.P.O.N. – hat eine lesenswerte Einführung in einen Feminismus vorgelegt, dessen bekanntestes Gesicht sie inzwischen ist. Es ist ein Feminismus, der jung, schlagfertig und medial sehr präsent ist, für den aber die soziale Frage keine besonders grosse Rolle spielt. Trotzdem macht es Mut, Stokowski zu lesen, denn sie macht deutlich, dass es nicht bleiben muss, wie es ist. Und sie sagt ausserdem: Feminismus ist vielfältig und für alle da, dafür braucht es kein spezielles Diplom.

Die Autorin erzählt davon, wie sich Ungleichbehandlung, Ungerechtigkeit und Sexismus konkret ausdrücken in Werbung und Medien, Lohnunterschieden, Schönheitswahn, mansplaining („Männer, die gar nicht so viel Ahnung haben, erklären Frauen, die es nicht nötig hätten, ungefragt Dinge“, S. 174), Bildung (Stokowski war das einzige Mädchen im Physikleistungskurs) – und auch darin, wie wir Sex haben und wie wir darüber reden. Wie tief patriarchale Strukturen selbst bis ins Privateste wirken, zeigt sie an folgendem Beispiel: „In einer Studie mit knapp 900 heterosexuellen Studierenden kam heraus, dass Frauen zwar doppelt so oft der aktive Part beim Oralsex sind wie Männer, aber weniger Spass daran haben“ (S. 92).

In den Kapiteln „Weltherrschaft im Alltag“ und „Eine Poesie des Fuck You“ widmet sich die Autorin vielen gängigen Argumenten gegen Feminismus – das Buch würde sich auch dann lohnen, wenn der*die Leser*in sich nur diese Seiten zu Gemüte führte. Sehr originell zum Beispiel ihre Antwort auf die Anfeindungen, mit denen Gender Studies seit Jahren konfrontiert sind:

„Bei anderen Wissenschaften, die die Grenzen zu überschreiten suchen, sind die Leute irgendwie gnädiger. Würden wir Astrophysik so behandeln wie Gender Studies, würde uns schneller auffallen, wie dämlich das ist: ‚Ihr wollt zum Mars? Die Erde reicht euch wohl nicht! Seit Tausenden von Jahren leben Menschen auf der Erde, und jetzt werden Milliarden an Steuergeldern dafür verschwendet, dass ein paar grössenwahnsinnige Verrückte im All rumtoben. Das ist gegen die Natur!' Oft wird versucht, Leuten, die Gender Studies betreiben, ihre wissenschaftliche Expertise abzusprechen, weil sie ja ‚betroffen' und ‚nicht neutral' seien. (…) Was für eine Vorstellung, der heterosexuelle, verheiratete Politikprofessor hätte im Gegensatz zur geschlechtlich nonbinären Lehrbeauftragten in irgendeiner Weise eine ‚neutralere' Position.“ (S. 168 f.)

Wie oben schon angedeutet, wird für mein Bedürfnis die materielle Dimension von Ungleichheit zu schwach ausgeleuchtet. Der Kapitalismus als ein spezifisches Verhältnis von „oben“ und „unten“ und die Verzahnung von Produktions- und Geschlechterverhältnissen spielen kaum eine Rolle, auch wenn die Klassenfrage durchaus erwähnt wird. Zum Beispiel wenn die Autorin schreibt:

„Es gibt keine Gleichberechtigung, solange es ein paar erfolgreiche Frauen in Spitzenpositionen gibt und gleichzeitig Tausende, die noch nicht mal wissen, was ein DAX-Vorstand ist, geschweige denn, wie man da reinkäme, wenn nicht als Putzfrau, Prostituierte oder Einbrecherin.“ (S. 177)

Aber bei konkreten sozialen Fragen bleibt es allgemein. Lohnungleichheit – muss abgeschafft werden. Aber wie? Mit Streiks und Gewerkschaften? Durchs Management? Per Gesetz? Bezüge zu beispielsweise konkreten gewerkschaftlichen Kämpfen in typischen „Frauenberufen“ gibt es nicht. Im Jahr 2015 haben Beschäftigte der Sozial- und Erziehungsdienste fünf Wochen lang für eine Aufwertung ihrer Berufe gestreikt. Und Krankenschwestern an der Berliner Charité haben über Jahre hinweg einen beeindruckenden Kampf für mehr Personal geführt – mit Erfolg. Das Beispiel findet seitdem Nachahmer_innen in der ganzen Republik. Stokowskis Buch ist voll von konkreten und alltäglichen Beispielen, was eine Stärke ist. Geht es aber um soziale Kämpfe gegen niedrige Löhne oder die Rationalisierung der Arbeit, bleibt der Text abstrakt.

Revolution?

Stokowski erzählt, wie sie, die eigentlich lange nichts mit Feminismus am Hut haben wollte, schliesslich doch dort landete. Es ist einer der vielen Vorzüge des Buches, dass die Autorin nicht den einen „Aha-Moment“ aus der Vergangenheit konstruiert, sondern beschreibt, wie verschiedene Erlebnisse, Fragen und Gedanken dazu beigetragen haben.

„Wenn mich heute jemand fragt, ab wann ich mich als Feministin bezeichnet habe, kann ich das nicht genau sagen, aber irgendwann bekam ich den Verdacht, dass die Gleichberechtigung sich doch nicht von allein ergibt, wenn alle so weitermachen wie bisher, mich eingeschlossen. Dass es nicht reicht, individuelle Freiheiten trotz Ungerechtigkeit zu erlangen, sondern dass die Gründe für die Ungerechtigkeit wegmüssen.“ (S. 170)

An dieser Stelle kommt die „Revolution“ ins Spiel, von der in dem Buch immer wieder die Rede ist. Aber was für eine Revolution soll das sein und wie können wir sie erreichen? Das muss jede*r – so die Botschaft – für sich selbst herausfinden. Aber sicher, so Stokowski, ist es keine, die nach einer einfachen Anleitung ausgeführt werden könne:

„Die Gesellschaft ist komplex – auch aus feministischer Sicht. Es ist nicht alles Unterdrückung und Sexismus. Das ist ja der Witz: dass es kompliziert ist. Würde das Patriarchat aus lauter billigen Kausalketten bestehen, wäre es viel leichter zu zerschlagen: Hier ein Hammerschlag und da, und alle wären befreit. Aber so läuft das nicht.“ (S. 43)

Wie es laufen kann, dazu gibt es in Stokowskis Buch einige gute Ideen. Zum Beispiel durch hochwertige Sexualaufklärung, Bildungsarbeit darüber, was sexuelle Gewalt ist und wo es Unterstützung für Opfer gibt. Oder Unterdrückung im Alltäglichen und Kleinen bekämpfen, Vielfalt feiern, niemals schweigen, sondern Ungerechtigkeiten ansprechen. Allerdings: „Feministische Weltherrschaft ist keine Option. Erstens, weil Weltherrschaft generell keine Option ist, und zweitens, weil es um die Abschaffung von Herrschaft geht und nicht um ihre Umkehr.“ (S. 160)

Intersektionalität und Anarchismus

Stokowski vertritt die im (linken) Feminismus weit verbreitete Ansicht, dass Herrschafts- und Machtverhältnisse durch verschiedene Formen der Ungleichheit und Diskriminierung strukturiert sind – Stichwort Intersektionalität – und sich reproduzieren. Als Zukunftsvision schlägt Stokowski daher eine herrschaftsfreie, anarchistische Gesellschaft vor. Stokowski begründet ihre Affinität zum Anarchismus so: „Wenn wir die Sache mit der Intersektionalität ernst meinen, steht am Ende die Abschaffung von Herrschaft.“ (S. 184) Sie wirft ein paar Namen in den Raum – Emma Goldman, Louise Michel und Erich Mühsam. Abgesehen davon bleibt ihr Begriff des Anarchismus allerdings ebenso schillernd wie unerklärt, ähnlich wie die „Revolution“.

Das schafft einerseits viel Raum für eigenes Nachdenken – es ist sicherlich auch der Tatsache geschuldet, dass Stokowski jede Überheblich- und Selbstherrlichkeit abgeht. Sie fragt lieber, anstatt einzig gültige Wahrheiten zu verkünden. Andererseits bleibt so auch mancher Gedanke in der Luft hängen. Die Autorin betont zum Beispiel mehrfach, dass der (von ihr immerhin ja revolutionär, anarchistisch gedachte) Feminismus niemandem etwas wegnehmen und nichts zerstören wolle, ebenso wie Wut (anders als Hass) nicht zerstörerisch, sondern produktiv sei. Doch ist es nicht so, dass revolutionäre Veränderungen und die Demontage von Bestehendem Hand in Hand gehen? Ein Blick zurück auf die Französische Revolution, die Pariser Kommune oder die Novemberrevolution belegen dies. Gezeigt wird anhand dieser Beispiele übrigens auch, dass manchen dann auch etwas weggenommen wird: Den König*innen und Kaiser*innen die Macht zum Beispiel – oder den Kapitalist*innen das Privateigentum an den Produktionsmitteln. An anderer Stelle schreibt Stokowski auch selbst, dass etwas beseitigt werden müsse, zum Beispiel die „Ursachen von Ungerechtigkeiten“ (S. 170). Sie findet dafür dann folgendes Bild:

„Radikal sein bedeutet nicht mit dem Panzer durch den Wald zu brettern und zu sagen, man hätte durchgeforstet, sondern mit einer guten Motorsäge in den Wald zu gehen und jeden Baum einzeln zu betrachten und zu entscheiden, was weg muss. […] Radikalität ist keine Keule, sondern eine Frage der Präzision.“ (S. 204)

Aber das bedeutet dann auch: Wir brauchen genauere Vorstellungen von dem Wohin und Wofür. Und auch davon, was eigentlich weg soll, um überhaupt präzise die Säge ansetzen zu können. Denn wenn jede*r für sich allein mit der Motorsäge loszieht, dann ist das erstens absolut ineffektiv und zweitens ist es gut möglich, dass vom Wald nicht mehr viel übrigbleibt – oder jede*r für sich den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht und aufgibt.

Die Auseinandersetzung mit Vorurteilen und Ammenmärchen, das Erzählerische, die Offen- und Gelassenheit sind die Stärken dieses beeindruckenden Buches. Feministische Zukunftsvisionen und Kampfstrategien werden eher allgemein und unverbindlich diskutiert. Das empfinde ich als schade. Oder besser gesagt: Ich würde dazu gerne mehr aus Stokowskis Feder lesen, vielleicht in ihrem nächsten Buch?

Nelli Tügel
kritisch-lesen.de

Margarete Stokowski: Untenrum frei. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 256 Seiten, ca. 24.00 SFr ISBN: 978-3-498-06439-6.

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