Leo Trotzki: Die permanente Revolution Pausenlos nur Rebellion?

Sachliteratur

25. Februar 2019

Ein linker Standard, der uns sagt, warum der Weg zum Sozialismus nicht in festgelegten Etappen verläuft.

Leo Trotzki in Mexico, 1938.
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Leo Trotzki in Mexico, 1938. Foto: Unknown (PD)

25. Februar 2019
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„Die permanente Revolution“ ist eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Bourgeoisie im Zeitalter des Imperialismus dort, wo die bürgerliche Revolution nicht verwirklicht wurde, noch eine revolutionäre Rolle spielen kann – und ob Sozialismus in nur einem Land möglich ist. So weit so gut.

Die Theorie der permanenten Revolution darf aber darüber hinaus als eines der am häufigsten missverstandenen Konzepte des Marxismus gelten. Und das wiederum hat zwei Gründe. Zum einen wurden ihr Urheber und sein Werk durch den Stalinismus seit Mitte der 1920er Jahren derartig verdreht, versteckt, verfemt und vernichtet, dass eine breite Rezeption über viele Jahrzehnte gar nicht möglich war. Bis heute geniesst der russische Revolutionär und Begründer der Roten Armee auch in der deutschen Linken einen eher zweifelhaften Ruf, zumeist basierend auf tradierten stalinistischen Erzählungen. Der DDR-Schriftsteller Gerhard Zwerenz nannte dieses Phänomen einmal treffend das „Trotzki-Tabu“ und sprach von einem tiefen „Loch aus Unkenntnis, Desinformation, Verlegenheit und Phantasiemangel“. (Zwerenz 2000)

Der zweite Grund für die oft verzerrte Darstellung der Theorie der permanenten Revolution, deren geläufigste Variante lautet, Trotzki habe einfach „immer“, also „permanent“ Revolution machen wollen, ist die schwere Zugänglichkeit des gleichnamigen Textes. Das hat mit seiner Entstehungsgeschichte zu tun. Die Schrift ist eine Selbstverteidigung Trotzkis angesichts der gegen ihn vorgebrachten Verleumdungen von Weggefährten, die kurz zuvor noch gemeinsam mit ihm gegen die bürokratische Konterrevolution in der Sowjetunion angekämpft hatten.

Im Juli 1929 hatte Karl Radek kapituliert, langjähriger Bolschewik und erfahrener Marxist. Im Dienste Stalins, der die Theorie der permanenten Revolution eine „Abart des Menschewismus“ nannte, fabrizierte Radek daraufhin Vorwürfe gegen Trotzki. Im November 1929 veröffentlichte dieser dann „Die permanente Revolution“ – als Papier in einer Debatte um Geschichte und Zukunft der Sowjetunion. Er selbst befand sich da bereits in der Verbannung in Alma Ata. „Trotzkisten“ (wie sie von ihren Feinden genannt wurden) kämpften in der Kommunistischen Internationale für einen Bruch mit der um sich greifenden Stalinisierung.

Das Buch ist – vor diesem Hintergrund verständlich – voller Bezüge auf aus heutiger Sicht sehr kleinteilige Debattenstränge (Radek sagte dies; Sinowjew schrieb das; Kollontai hat jenes behauptet...). Wer einfach nur wissen will, was es mit der permanenten Revolution auf sich hat, der beginne hinten und lese zunächst das letzte Kapitel „Was ist nun die permanente Revolution? Grundsätze“.

Keine falschen Bündnisse

Etwas anders verhält es sich mit „Ergebnisse und Perspektiven“ aus dem Jahr 1906. Dem Text also, der in allen neueren Ausgaben gemeinsam mit „Die permanente Revolution“ abgedruckt wurde. So auch in der Ausgabe von 1993 (Arbeiterpresse-Verlag; letzte Neuauflage 2016 im Mehring-Verlag), die dieser Besprechung zugrunde liegt. In „Ergebnisse und Perspektiven“ formulierte Trotzki erstmalig seine Gedanken aus und nannte sie „Theorie der permanenten Revolution“. 23 Jahre später prüfte er diese Theorie dann in „Die permanente Revolution“ anhand von Ereignissen wie den Russischen Februar- und Oktoberrevolutionen von 1917 auf Herz und Nieren. Er tat dies unter enormem Druck, die Schrift habe „erzwungenen Charakter“, wie Trotzki zu Beginn erklärt.

Die Essenz beider Schriften ist folgende: Entwicklungen, so Trotzki, sind nur im internationalen Rahmen verständlich; dieser stellte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als dominiert von imperialistischen Grossmächten dar. Die Welt und ihre Märkte waren bereits zwischen einigen entwickelten kapitalistischen Staaten aufgeteilt – und die Bourgeoisien in kolonisierten Ländern oder Halbkolonien eng verflochten mit diesen und abhängig von internationalen Konzernen.

Während die Bourgeoisie dort also historisch „zu spät“ kam, sorgten die internationalen Konzerne dafür, dass sich gleichzeitig bereits eine relativ starke Arbeiterklasse entwickelt hatte. Angesichts dieser Konstellation, so Trotzki, fürchtete die Kapitalistenklasse in halbfeudalen Ländern revolutionäre Bewegungen. Statt mit oppositioneller Energie an die grundlegenden Aufgaben der bürgerlich-kapitalistischen Revolution zu gehen – Landreform, Zerschlagung feudaler Strukturen, nationalstaatliche Einheit und bürgerliche Demokratie mit Wahlrecht, Pressefreiheit usw. – gäben sie sich eher mit einem Bündnis mit den verbleibenden Feudalherren und den imperialistischen Staaten zufrieden.

Die Bourgeoisie könne daher, so Trotzki, in ökonomisch rückständigen Ländern wie es Russland Anfang des 20. Jahrhunderts war – die also die kapitalistische Entwicklung kaum oder verspätet vollzogen hatten –, keine revolutionäre Rolle spielen wie in den westlichen Industrieländern.

Die einzig konsequent „oppositionelle“ (Trotzki meinte damit: revolutionäre) Kraft in der Gesellschaft sei damit die Arbeiterklasse. Gleichzeitig müsse sie – weil in halbfeudalen Gesellschaften zahlenmässig klein – ein Bündnis mit der Bauernschaft eingehen. Unter diesen Voraussetzungen sei ein unmittelbares Übergehen, eine „Permanenz“ von demokratischer (also bürgerlicher) zu sozialistischer Revolution nicht nur möglich und logisch, sondern auch notwendig. Keine demokratische ohne sozialistische Revolution und Rätedemokratie also.

Radikaler Gegenentwurf zur Etappentheorie

Damit steht Trotzkis Theorie der permanenten Revolution in engem Zusammenhang mit den Überlegungen von Rudolf Hilferding und Lenin über Imperialismus als „höchstem Stadium des Kapitalismus“. Während beide die ökonomische Seite dieser, sich um die Jahrhundertwende vollzogenen grundlegenden Veränderungen im Kapitalismus herausgearbeitet hatten, befasste sich Trotzki eher mit den Auswirkungen der imperialistischen Vorherrschaft auf ökonomisch rückständige Länder und den sich daraus ergebenden politischen Perspektiven.

Allerdings hatte schon Marx, darauf weist Trotzki hin, über die „Revolution in Permanenz“ nachgedacht, „als Gegensatz zu jener demokratischen Ideologie, die bekanntlich darauf pocht, dass alle Fragen friedlich, auf reformistischem oder evolutionärem Wege gelöst werden könnten durch Errichtung des ‚vernünftigen' oder demokratischen Staates“. Die bürgerliche Revolution des Jahres 1848 habe Marx als unmittelbare Einleitung zur proletarischen Revolution betrachtet, er und Friedrich Engels schrieben 1850, der „Schlachtruf“ der Arbeiter müsse sein: „Die Revolution in Permanenz“. (MEW Bd. 7, S. 254)

Trotzki jedenfalls adaptiert diese bei Marx schon angelegten Gedanken und bringt sie in Stellung gegen die aus seiner Sicht vulgärmarxistische Etappentheorie, die von Sozialdemokraten und Stalinisten gleichermassen angeführt wurde, um Revolutionen abzubremsen und zu „enthaupten“, indem sie der Arbeiterklasse in exkolonialen beziehungsweise kolonisierten Staaten empfahlen, sich einer kapitalistischen Revolution unter bürgerlicher Führung unterzuordnen. Die Etappentheoretiker*innen hätten dafür ein „Schema der historischen Entwicklung ausgearbeitet, wonach jede bürgerliche Gesellschaft sich früher oder später ein demokratisches Regime sichere und danach dann das Proletariat unter den Bedingungen der Demokratie allmählich für den Sozialismus organisiere“. (S. 58)

Dass diese schematische Vorstellung grundfalsch sei, hatte sich aus Trotzkis Sicht in Russland 1905 wie auch mit der stecken gebliebenen und erst durch den Oktober „vollendeten“ Februarrevolution 1917 bestätigt. Er meinte damit jedoch nicht, dass es keine bürgerlichen Revolutionen mehr geben könne. Nur würden sie, so Trotzki, eben zwangsläufig nur halbherzig und widersprüchlich verlaufen.

Revolution, aber ohne Nation

Zweitens argumentierte Trotzki bereits 1906, was später ein Hauptstreitpunkt mit den Stalin-Jüngern werden sollte, nämlich, dass Sozialismus in nur einem Land, zumal in einem ökonomisch schwachen wie beispielsweise Russland, niemals Erfolg haben könne. Auch hier müsse es eine „Permanenz“ geben, eine Ausbreitung revolutionärer Bewegungen. „Der Abschluss einer sozialistischen Revolution“ sei „im nationalen Rahmen undenkbar“, so Trotzki. (S. 185) Eine der wichtigsten Ursachen für die Krise der bürgerlichen Gesellschaft bestehe schliesslich darin, dass „die von dieser Gesellschaft geschaffenen Produktivkräfte sich mit dem Rahmen des nationalen Staates nicht vertragen“. (S. 186)

Die Abkopplung eines Arbeiterstaates vom Weltmarkt sei aber wiederum undenkbar. Dass ein undemokratischer, unvollendeter, in Trotzkis Worten „degenerierter“ Arbeiterstaat einige Jahrzehnte Bestand haben könne, hat er damit indes nicht ausgeschlossen – im Gegenteil. Den Zusammenhang zwischen dem Ausbleiben erfolgreicher Revolutionen in anderen Ländern und der Stalinisierung der Sowjetunion erläutert Trotzki ausführlich in seinem zweiten Hauptwerk, der „Verratenen Revolution“ von 1936.

Besitzt „Die permanente Revolution“ Aktualitätswert? Wer in die Türkei schaut, wo es zwischen 1918 und 1923 eine bürgerliche Revolution gab, die aber bis heute keine stabile Demokratie oder die vollständige Überwindung feudaler Strukturen hervorzubringen in der Lage gewesen ist; wer die Ereignisse in Iran Revue passieren lässt, wo 1979, bevor die Mullahs die Macht ergriffen, eine Bewegung Demokratie wollte, soziale Forderungen stellte, Arbeiter*innen massenhaft streikten, aber die Tudeh-Partei mit Verweis auf die Etappentheorie denen den Vortritt liess, die dann den Islamisten mehr oder weniger das Feld überliessen; wer sich mit den gängigen Erklärungen dafür, dass es in grossen Teilen der exkolonialen Welt keine stabilen Demokratien gibt, nicht zufrieden geben möchte – dem wird die Lektüre von „Die permanente Revolution“ viele Anregungen und damit weit mehr als nur Einblicke in eine historische Debatte bieten.

Ihre Lektüre könnte zudem einen Weg aus der Fatalität weisen. Denn, um auf Gerhard Zwerenz zurückzukommen, „wer sich vorzustellen wagt, welchen Weg die junge Sowjetrevolution eingeschlagen hätte, wäre nicht Stalins Devise vom Sozialismus in einem Lande, sondern Trotzkis Konzeption der permanenten Revolution bestimmend gewesen, der ist auf den geschichtlichen Konjunktiv verwiesen: Wir wissen nicht, was daraus geworden wäre. Was mit Stalin geworden ist, wissen wir dagegen“ (Zwerenz 2000).

Nelli Tügel
kritisch-lesen.de

Leo Trotzki: Die permanente Revolution. Ergebnisse und Perspektiven. Arbeiterpresse Verlag, Essen 1993. 285 Seiten, ca. 24.00 SFr. ISBN 3886340619

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