Kersten Knipp: Die Kommune der Faschisten Kein faschistisches Paris

Sachliteratur

10. Oktober 2019

Die Republik von Fiume als Pendant zur Pariser Kommune? Kersten Knipp findet in der Ausnahmeerscheinung des 20. Jahrhunderts Erklärungen für das heutige Italien.

Der italienische Dichter Gabriele D'Annunzio (mitte rechts) mit dem Verleger und Publizist Arnoldo Mondadori (mitte links).
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Der italienische Dichter Gabriele D'Annunzio (mitte rechts) mit dem Verleger und Publizist Arnoldo Mondadori (mitte links). Foto: Archivi Mondadori (CC BY-SA 4.0 cropped)

10. Oktober 2019
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Zeitgeschichtliche Blicke an den Beginn des 20. Jahrhunderts sind Kersten Knipps Metier. Mit dem Band „Die Kommune der Faschisten“ gelingt es ihm auf anschauliche Weise, die historisch-politische Ausnahmeerscheinung der zwischen 1919 und 1920 bestehenden Republik von Fiume zu beleuchten. Dabei verknüpft Knipp die Lebensgeschichte des exzentrischen Dichters Gabriele D'Annunzio mit den Wirren der stark umkämpften Nationalstaatenbildung Italiens. Dessen permanentes Legitimationsdefizit begünstigte die Entstehung und schliesslich den Aufstieg des historischen Faschismus.

Im Stil einer literarischen Collage gelingt es Knipp dabei, der Leserin geschichtswissenschaftliche Studien und zahlreiche Zeitzeugnisse auf nachvollziehbare und kurzweilige Weise zu präsentieren. Dabei überrascht er mit einer Vielzahl an literarischen Einschüben, durch welche das Lebensgefühl der Jahrhundertwende, von der Dekadenz des Fin de Siècle bis zur – von den italienischen Nationalisten empfundenen – Kränkung eines „verstümmelten Siegs“ nach dem Ersten Weltkrieg in die heutige Zeit gespiegelt wird. Immer wieder sucht Knipp aktuellere Bezugspunkte, indem er etwa die sexuellen, psychedelischen und musikalischen Exzesse der Aufständischen der kroatisch-italienischen Adriastadt – dem heutigen Rijeka - mit der Hippiebewegung der 1968er Jahre vergleicht.

Vom Katholizismus bis in den Faschismus

Insbesondere in seinem Schlusskapitel zum „demagogischen Erbe“ geht Knipp auf den heute vorhandenen Rechtspopulismus, die postdemokratische Ära Berlusconi und das von Beppe Grillo gegründete Movimento 5 Stelle ein. Der nationalistische Kriegsbefürworter D'Annunzio ist ein selbstdarstellerischer und wankelmütiger Literat. In diesem Zusammenhang passt es, dass er mit der avantgardistischen, maskulinistischen, technophilen und proto-faschistischen Kunstströmung des sogenannten Futurismus sympathisierte. Knipp stellt ihn als Vorläufer und Prototypen eines skrupellosen pseudo-faschistischen Anti-Politikers vor, der Gefühlsregungen über jede sachliche politische Überlegung und Abwägung stellt.

Ausführlich zeichnet Knipp nach, wie der kühl berechnende Egozentriker die Schwingungen seiner Zeit gezielt aufnimmt, um in der kapitalistischen Massengesellschaft einen bis ins Extreme gesteigerten bürgerlichen Individualismus zu kultivieren. Der sich zaghaft entwickelnden Demokratie begegnet er mit Verachtung und fiebert im Technologiezeitalter hautnah bei der Etablierung des Flugzeugs mit. Bald danach begeistert er sich für erste Formen des Luftkrieges. Spannend liest sich die Gemengelage verschiedenster miteinander ringender politischer Strömungen und Weltanschauungen etwa von Syndikalismus, radikalem Sozialismus, über das liberale Lager, den erzkonservativen Katholizismus, bis hin zum Faschismus, welche das Setting abgeben, in welchem D'Annunzio und seine Zeitgenossen sich bewegen.

Knipp geht von einer - nahezu wahnhaften - nationalistischen Projektion aus, welche zur eine Gruppe Freischärler motivierte, die Kleinstadt Fiume in die italienische Nation einzugliedern und zu annektieren. Jene Bestrebungen erklärt er mit dem Ausbleiben militärischer und internationaler politischer Erfolge, mit einer durch den Krieg traumatisierten Jugend, der Mobilisierung unterschiedlichster Mythen, den bahnbrechenden technologischen Neuerungen, wie auch der Instabilität des italienischen Regimes. Letzteres fand sich als junge bürgerliche Herrschaftsform zerrieben zwischen starken sozialistischen Massenbewegungen auf der einen Seite und einer nach wie vor äusserst einflussreichen katholischen Kirche, die den Gang der Geschichte am liebsten wieder zurückdrehen wollte.

Gabriele D'Annunzio sei derjenige, welcher diesen kollektiven Wahn kanalisiert, die Richtung weist und mit seiner poetischen Sprache der Illusion kurzzeitig zur Wirklichkeit verhilft. Dieses Vorhaben kann als Protest gegen die Realität internationaler Politik und der Machtverhältnisse in dieser verstanden werden, wie sie 1919 in Paris neu verhandelt worden waren. Nicht zuletzt wird dabei um die Interpretation des Wilson'schen Diktums eines „Selbstbestimmungsrechtes der Völker“ gerungen. Mit deutlichen Tendenzen zum Faschismus handelte es sich bei diesem seltenen Spektakel in Fiume dennoch um einen Vorläufer desselben, vermischt mit sozialistischen, anarchistischen, liberal-demokratischen, in jedem Fall: anti-katholischen Aspekten. So wird beispielsweise die Kaperung von Schiffen mit antiimperialistischen Argumenten gerechtfertigt, als die Versorgung des Freistaats schon in absehbar Zeit im Zusammenbruch begriffen ist.

Keine nationalistische Pariser Kommune - oder doch?

Kritisch anzumerken ist dagegen, dass Knipp das eigentliche Ende dieses Experiments gar nicht beleuchtet. Unklar bleibt nämlich, inwieweit der dargestellte nationalistische Wahn tatsächlich von vielen über einen langen Zeitraum geteilt wurde oder letztendlich doch eher weitestgehend in kleineren nationalistischen Kreisen verblieb, die jedoch die Gunst der Stunde nutzen konnten. Ebenfalls schwierig ist, dass er Passagen, in denen von ungezügelter Erotik die Rede ist, unreflektiert mit der Anwesenheit von Frauen gleichsetzt, welche dadurch lediglich zum blossen Beiwerk egozentrischer Handlungen der Männer degradiert werden.

Wenngleich dies der Wahrnehmung der nationalistischen Protagonisten durchaus entspricht, wäre es an Knipp gewesen, diese Darstellung zu durchbrechen, anstatt sie (vermutlich ungewollt) zu reproduzieren. In Hinblick auf den Nationalismus und die Kriegstreiberei gelingt es ihm immerhin, dessen instrumentelle Einführung und bewusste Förderung darzustellen und zu problematisieren. So interessant die zeitgeschichtliche Darstellung insgesamt ist, scheint der Titel des Buches nur teilweise treffend gewählt: Um die Episode der Republik Fiume selbst geht es schliesslich nur in einem Kapitel und wie Knipp selbst darstellt, handelt es sich bei ihr nicht um eine rein faschistische Angelegenheit.

Wenn die Absicht darin bestehen sollte, diese mit der Bedeutung der Pariser Kommune von 1871 für die sozialistische Bewegung zu analogisieren, hinkt der Vergleich in mehrfacher Hinsicht. Schliesslich wurde Paris nicht von aufständischen Elitetruppen besetzt, sondern tatsächlich von grossen Teilen der Bevölkerung selbst verwaltet, wobei reguläre Nationalgardisten zu dieser überliefen. Zwar spielten beide Ereignisse sich in von Krieg bedingten Umbruchsituationen ab, doch ist die Kommune von Paris nicht als Protest gegen die sich verändernden internationalen Machtverhältnisse zu betrachten, sondern als einer gegen autoritäre und zentralisierte Staatlichkeit selbst. In diesem Sinne stellte die Pariser Kommune im Unterschied zu Fiume weder einen Verhandlungsgegenstand internationaler Politik dar, noch diente sie zur Stärkung der Nation.

Im Gegenteil war sie vielmehr ein - im weiten Sinne sozialistisches - Aufbegehren gegen die erzwungene Nationalstaatlichkeit. Was die Bereiche der Kultur und Lebensgestaltung angeht, wurden in beiden – tendenziell autonomen – Verwaltungsgebilden Frauen zumindest formell gleichgestellt. Im Fall der Pariser Kommune kommt darin tatsächlich ein Vorbild für die Weiterentwicklung des Sozialismus zum Ausdruck. Die Republik Fiume war damit allerdings keines für den Faschismus, welcher jegliche emanzipatorischen Errungenschaften beseitigte. Am ehesten waren – wie Knipp fortwährend betont - der Führerkult, die Manipulation der Masse, die Entfaltung teils hanebüchener Mythologien und die übertriebene Ästhetisierung des Politischen die Wegweiser für den späteren Faschismus und wurden von diesem offenbar auch direkt aufgegriffen.

Dennoch gelingt es dem Autoren überzeugend, gerade die Vermischung verschiedenster ideologischer, mythologischer, politischer Aspekte und Lebensstile in einer Phase der allgemeinen Verunsicherung, der Orientierungslosigkeit und des Umbruchs darzustellen. Der Wert des Buches liegt demnach nicht in der Entdeckung neuer geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern darin, dass er einen Teil italienischer Geschichte lebendig beschreibt und andeutet, welche Lehren aus ihr gezogen werden könnten. Sie bestehen in einer vehementen Zurückweisung des kriegerischen, ausgrenzenden Nationalismus, welche nicht aus einer vermeintlichen moralischen Überlegenheit heraus gelingen kann, sondern indem sein spezifisch historischer kultureller Kontext begriffen wird.

Jonathan Eibisch
kritisch-lesen.de

Kersten Knipp: Die Kommune der Faschisten. Gabriele D'Annunzio, die Republik von Fiume und die Extreme des 20. Jahrhunderts. wbg Theiss, Darmstadt 2019. 288 Seiten, ca. 25.00 SFr. ISBN 978-3-8062-3914-0

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