Kerem Schamberger: Die Kurden. Ein Volk zwischen Unterdrückung und Rebellion. Wer Wind sät, wird Sturm ernten

Sachliteratur

30. Dezember 2018

Wie Staatsmythos und Widerstand zusammenhängen, oder: Warum es ohne Befriedung der „Kurdenfrage“ keinen Frieden im Nahen und Mittleren Osten geben kann.

Kämpferin der kurdischen YPJ.
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Kämpferin der kurdischen YPJ. Foto: Kurdishstruggle (CC BY 2.0 cropped)

30. Dezember 2018
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Rojava – ein Wort, das bei einem Grossteil linker Aktivist_innen nach wie vor für den Hoffnungsschimmer des 21. Jahrhunderts schlechthin steht. Basisdemokratie, Frauenbefreiung, Kollektivwirtschaft und ökologische Revolution – fast zu schön, um wahr zu sein, inmitten eines der tödlichsten Kriege seit 1945. So wie sich die 68er mit dem Widerstand in Vietnam gegen den US-Imperialismus in Massen solidarisiert haben, so gehen 50 Jahre später die Menschen zum Beispiel gegen den türkischen Angriffskrieg auf Afrin auf die Strasse. 20.000 waren es Ende Januar in Köln, ähnlich viele Ende 2014 in ganz Deutschland, als bundesweit gegen den Angriff des sogenannten Islamischen Staates auf Kobanê protestiert wurde.

Von den Massenmedien wurden und werden diese Demonstrationen oft schlicht als „Kurden-Demos“ bezeichnet, obwohl sie auch von den unterschiedlichsten deutschen linken Organisationen wie der Partei DIE LINKE, verschiedenen Antifa-Gruppen oder der Deutschen Kommunistischen Partei unterstützt werden. Internationalist_innen aus den verschiedensten Ländern zogen an der Seite der kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ in den Kampf gegen den IS – nicht wenige liessen dabei ihr Leben. Und auch die wohl einzige tatsächliche Alternative zum autoritären Präsidialsystem Recep Tayyip Erdogans, in Gestalt der Halklarin Demokratik Partisi (Demokratische Partei der Völker, HDP), stösst hierzulande auf grosses Interesse. Ebenso die Ideen und das Konzept des Demokratischen Föderalismus von Abdullah Öcalan, dem intellektuellen Führer, dem sich der Grossteil der kurdischen Bewegung zugehörig fühlt. Die „kurdische Frage“ hat eindeutig grosse Relevanz für die deutsche Linke.

Literatur, die sich mit den Kurd_innen beschäftigt, gibt es zuhauf. Standardwerke beschreiben Geschichte, Kultur und Politik dieses „grössten Volks ohne eigenen Staat“, das sich auf die heutigen Staaten Türkei (Bakûr/Nordkurdistan), Irak (Başhûr/Südkurdistan), Iran (Rojhilat/Ostkurdistan) und Syrien (Rojava/Westkurdistan) verteilt. Doch statt den Alltag der Menschen zu porträtieren, wird der Schwerpunkt meist auf politische Entscheidungen und allgemeine Entwicklungen gelegt. Auch gehen diese Werke kaum bis gar nicht auf die Ideen Abdullah Öcalans und deren Umsetzung in Bakûr und Rojava ein, die einen Demokratischen Konföderalismus, also das genaue Gegenteil eines straff zentralistisch organisierten Staates wie die Türkei fordern. Der Demokratische Konföderalismus basiert auf kommunaler und antistaatlicher Selbstverwaltung und Partizipation – zentrale Pfeiler sind Ökologie und Feminismus.

Eine Erzählung direkt von der Front

Umso erfrischender und innovativer ist das Buch „Die Kurden. Ein Volk zwischen Unterdrückung und Rebellion“ von Kerem Schamberger und Michael Meyen. Was dieses Buch erkennbar nicht sein will: eine wissenschaftliche Abhandlung – trotz der vielen Fussnoten, die auf weiterführende Literatur verweisen. Es liest sich eher wie eine gross angelegte Reportage. Eine Reportage, die die Sympathie mit der kurdischen Bewegung nicht verheimlicht, ja nicht verheimlichen will.

Eine Reportage auch, die keine allgemeine Geschichte anbieten will, sondern explizit die Wechselwirkung zwischen staatlicher Unterdrückung und kurdischem Widerstand darstellt. Schamberger, deutsch-türkischer linker Aktivist, ist bekannt für seine langjährige Solidaritätsarbeit und Berichterstattung zur Repression des türkischen Staates und dessen Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik Deutschland. Zumindest stilistisch profitiert das Buch aber auch von der journalistischen Erfahrung von Co-Autor Michael Meyen, Professor für Kommunikationswissenschaft an der LMU München.

Der Clou der Grossreportage: Sie beschreibt die Geschichte von „Unterdrückung und Rebellion“ anhand von verschiedenen Charakteren, in deren Leben die kurdische Frage wegen verschiedener Umstände eine grosse Rolle spielt, und lässt sie zu Wort kommen. Und auch die Mittäterschaft der deutschen Regierung wird thematisiert. So fand im März 2018 eine Razzia beim Mesopotamien Verlag, der unter anderem kurdischsprachige Literatur vertreibt, statt. Es gab und gibt massive Repression gegen Aktivist_innen – unter anderem auch gegen Schamberger – wegen des Verwendens von Symbolen der YPG oder einem Foto Abdullah Öcalans.

Alles nachdem die Türkei Deutschland wie schon so oft eine Unterstützung der PKK vorgeworfen hat und nachdem im Februar 2018 nach der Freilassung von Deniz Yücel über eine Gegenleistung der deutschen Regierung spekuliert wurde. Doch die deutsch-türkische Zusammenarbeit reicht weiter zurück. So gab es eine Zusammenarbeit im Ersten Weltkrieg, eine Unterstützung beim Völkermord an den Armeniern, zuletzt den Flüchtlingsdeal und immer wieder Waffenexporte. Nach wie vor zählt die Türkei zu den wichtigsten Abnehmern deutscher Waffen.

Die „Werkseinstellungen“: eine Nation, eine Flagge, ein Vaterland, ein Staat

Die erwähnte staatliche Unterdrückung geht vor allem in der Türkei direkt aus der Staatsgründung und dem damit verbundenen Narrativ hervor: „tek millet tek bayrak tek vatan tek devlet“ (Eine Nation, Eine Flagge, Ein Vaterland, Ein Staat). Für ethnische Minderheiten blieb und bleibt kein Platz, ob unter Atatürks CHP oder unter Erdogans AKP. Davon erzählt im Buch zum Beispiel Ismail Küpeli, der gerade zu den kurdischen Aufständen in der Türkei der 1920er und 1930er Jahre promoviert: „Zur türkischen Republik gehört der Versuch, die kurdische Identität auszulöschen. Schon immer, von Anfang an“ (S. 46).

Die Jesidin und Bonner Politikwissenschaftlerin Rosa Burç nennt das erwähnte Narrativ der Türkei seine „Werkseinstellungen“ – der Staatsmythos der Türkei basiert auch auf der Unterdrückung der Kurden und dem Wunsch nach einer militärischen Lösung der „Kurdenfrage“. Mit dem Abbruch des Friedensprozesses 2015 durch die AKP wurde das Handeln des türkischen Staates in Bezug auf die Kurden wieder auf Werkseinstellung gesetzt, der Reset Knopf wurde gedrückt. Burç erzählt von ihren Eltern, die als politische Flüchtlinge nach Bielefeld gekommen sind, von ihrem Weg in die Wissenschaft – nachdem sie sich fast für eine politische Karriere in der HDP entschied, und vom gescheiterten Friedensprozess zwischen kurdischer Bewegung und türkischem Staat.

Keine Rebellion im Iran?

Und auch wenn das Buch von Rojava (der Journalist Peter Schaber berichtet von seinen Erfahrungen im Kampf mit der Waffe in der Hand und dem Gemeinschaftsgefühl innerhalb der YPG) und Başhûr (der Dolmetscher Sirwan Abbas spricht von seinen Erfahrungen mit dem dort regierenden Barzani Clan und Saddam Hussein) erzählt: Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf der Türkei. So kommen neben Nick Brauns (der ein Buch zur PKK geschrieben hat) und Reimar Heider (der die Werke Abdullah Öcalans ins Deutsche übersetzt) auch die von der AKP abgesetzte und von der Bevölkerung gewählte Bürgermeisterin Leyla Îmret zu Wort, welche vom grauenvollen Wüten des türkischen Militärs in ihrer Heimatstadt Cizre erzählt.

Es ist schade, dass die Kurd_innen im Iran überhaupt keinen Raum in diesem Buch finden. Dies mag daran liegen, dass die Auseinandersetzungen und die Unterdrückung in der Südosttürkei und in Nordsyrien verglichen mit denen im Westiran heftiger waren und sind. Mit sieben Millionen Kurd_innen und dem Widerstand der PJAK – einer Schwesterorganisation der PKK – wäre es aber durchaus wünschenswert gewesen, auch dies zu thematisieren. Trotzdem: Schamberger und Meyen bieten mit ihrem Buch eine überaus lebendige und trotzdem in die Tiefe gehende Lektüre zur Unterdrückung und Rebellion der kurdischen Bewegung – nicht zuletzt durch zahlreiche Fotos, unter anderem vom Newrozfest in Machmur (kurdisches Flüchtlingslager bei Erbil), dem zerstörten Raqqa und Strassenszenen in Rojava.

Michael Kienastl
kritisch-lesen.de

Kerem Schamberger / Michael Meyen: Die Kurden. Ein Volk zwischen Unterdrückung und Rebellion. Westend Verlag, Frankfurt am Main 2018. 240 Seiten, ca. 26.00 SFr. ISBN 9783864892073

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