Die Gegenkultur als neue kapitalistische Treibkraft Konsumrebellen: Der Mythos der Gegenkultur

Sachliteratur

31. August 2015

In der bereits 2005 vorgelegten Bestandsaufnahme zum postmodernen Konsumkapitalismus wird die gesellschaftliche Differenz zwischen individueller Systemanpassung und sozialem Protest aufgehoben und in einen neuen entgrenzten postbürgerlichen Kapitalismus überführt.

Konsumrebellen: Der Mythos der Gegenkultur.
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Konsumrebellen: Der Mythos der Gegenkultur. Foto: Mario Sixtus (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

31. August 2015
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Im vorliegenden Buch wird argumentiert, dass die alternativen Bewegungen nur die Formen, nicht aber die Prinzipien des Kapitalismus verändert haben. Für Joseph Heath und Andrew Potter haben vielmehr die neuen emanzipatorischen und antikapitalistischen Bewegungen seit den 1960er Jahren, die sich gegen das hegemoniale Lebensmodell der Industriegesellschaft positioniert haben, zu einem entpolitisierenden Hyperindividualismus geführt. In ihrer Ablehnung haben die Protestbewegungen sich von gesellschaftlichen Debatten und Entscheidungsprozessen abgekoppelt, um ihren Ausdruck in neuen ästhetischen Lebenspraxen zu finden, die letztlich neues kapitalistisches Verwertungspotenzial geschaffen haben; beste Voraussetzung für eine neoliberale Totalökonomisierung der menschlichen Lebensbereiche. Die Autoren beschreiben die Entwicklung der US-amerikanischen Gesellschaft, aber die Erklärungsansätze sind universal, sodass sie sich auf alle kapitalistischen Gesellschaften anwenden lassen.

Die Gegenkultur als neue kapitalistische Treibkraft

Die Herrschaftskritik der Gegenbewegung, die in den 1960ern beginnt, sich zu formieren, ist für Heath und Potter vor allem eine Kritik am die Nachkriegszeit prägenden Modell der nivellierten Mittelstandsgesellschaft. In ihr schienen sich die sozialen Klassen hin zu einer bürgerlichen Mitte aufzulösen. Für die Gegenbewegungen bedeutet dies im Resultat allerdings nur gleichmacherischen Massenkonsum und eine manipulative Kulturindustrie. Für die alternativen Bewegungen kann dieses System seine Ordnung nur dadurch erlangen, indem es das Individuum unterdrückt. Die Autoren schreiben, dass der Feind der Gegenkultur die Gesellschaft der Angepassten sei.

Das Ziel müsse aus dieser Perspektive der Aufbau einer neuen Welt sein, die auf individueller Freiheit beruhen soll. Diese, so die Autoren, liefert jedoch die besten Voraussetzungen für einen entgrenzten Kapitalismus und für eine Totalökonomisierung der menschlichen Lebensbereiche. Heaths und Potters These ist eindeutig: Es gibt keinen Widerspruch zwischen den Werten der Gegenkultur und den funktionalen Erfordernissen des Kapitalismus. Ganz im Gegenteil: Tatsächlich ist die Kritik der Massengesellschaft eine der stärksten Triebkräfte der Konsumkultur und Konkurrenz, indem sie neue materielle Codes entwirft, die sich zu immer neuen Produkten umwandeln lassen.

In diesem Prozess kommt der Lifestyle-Kapitalismus zu voller Blüte. Immer weniger Dinge werden für einen klar spezifizierbaren Gebrauchswert erworben, sondern aufgrund ihrer Trägerqualität von Lebenserfahrungen, Persönlichkeitsversatzstücken und sozialer Standortbestimmung. Und auch die Figur des Konsumrebells entspricht vollständig dieser Logik, wenn er seine Lebensideen durch betont alternative Konsumentscheidungen inszeniert. Mit der Totalökonomisierung aller Lebensbereiche geht auch eine Totalkulturalisierung einher, die auch vor den gegenkulturellen Szenen nicht Halt macht.

Wie Joseph Vogl in seinem „Gespenst des Kapitals“ herausgestellt hat, verschlingt der Markt jede kulturelle Artikulation. Er kann sogar Aufruhr und Subversion als vitalen Ausdruck seines eigenen Systems aufnehmen, er kann den Protest als eine Sehnsucht freier Märkte und Kapitalismuskritik als konsequenten Ausdruck von Selbstoptimierung und schöpferischer Zerstörung verbuchen. Die KritikerInnen des gleichgemachten Massenkonsums sorgen gerade für die nötige Dynamik der Bedürfnisveränderung. Bürgerliche Konventionalität und Konformität sind dabei nur ein Hindernis.

Individualistische Bürgerlichkeit

In der Analyse des fruchtbaren Zusammenwirkens von Kapitalismus und Rebellion skizzieren die Autoren das Resultat der gesellschaftlichen Veränderungen in den letzten 40 Jahren. Die Beschleunigung der gesellschaftlichen Lebensbereiche führt das Individuum auf „rutschende Abhänge“, wie es der Soziologe Hartmut Rosa formuliert hat (Rosa 2012, S. 214). Der Anpassungsdruck, um mit der zunehmenden Veränderung und den daraus resultierenden Anforderungen Schritt zu halten, steigt an. Und wer kommt damit besser zurecht als die prinzipiellen NonkonformistInnen, die sich gegen jede Art von massenkultureller Vereinnahmung zur Wehr setzen und die individuelle und soziale Umwälzung als subjektivierende Lebensmaxime programmiert haben?

Auf diese Weise gelangen die Autoren fast beiläufig zu ihrer Schlüsselannahme des sozialen Wandels: Die bürgerliche Mittelstandsgesellschaft hört auf zu existieren, weil die gleichförmige Massengesellschaft nicht mehr den Anforderungen eines individualistischen Kulturkapitalismus entspricht. Wer das Bürgerliche als hegemoniale Kultur in der Marktgesellschaft wähnt, ist der Idee aufgesessen, dass Kapitalismus durch Konformismus funktioniert. Das Gegenteil ist der Fall.

Die Autoren konstatieren einen fundamentalen Wandel im gesellschaftlichen Statussystem. Die Werte der Bohème und der Rebellen verdrängen sukzessive das Prinzip der Klasse und zerschlagen das System traditioneller bürgerlicher Werte. Die Herrschaftskritik wird gegenüber der Massenkultur zur neuen kapitalistischen Herrschaftspraxis. Der Businesspunk triumphiert über den Angestelltenspiesser.

Die neue dominierende Klasse bildet sich durch die Fusion der ehemals antagonistischen Fronten. Mit den traditionellen Vorstellungen von Bürgerlichkeit hat diese allerdings nur noch die Leistungsorientierung gemeinsam. Darüber hinaus zeichnen sich ihre RepräsentantInnen durch Ruhelosigkeit, Individualismus, Freigeistigkeit und Unabhängigkeit aus, zugleich werden sie davon getrieben, konsequent kapitalistisch zu sein, indem sie sich nicht an hergebrachte Handlungsschemata und institutionalisierte Verfahrensweisen halten. Die wirtschaftsliberale Haltung des Bürgertums wird konsequent auf alle Lebensbereiche ausgedehnt, die subversive Haltung der Gegenkultur zu zerstörerischen Marktkräften umgelenkt.

Neue Herrschaft der Gegenkultur

In diesem Prozess verändert sich das Statussystem. Statt traditioneller bürgerlicher Merkmale der Abgrenzung von anderen entscheidet nun die Coolness. Das Coole erweist sich zwar in seiner Ausprägung als unbestimmbar, richtet sich allerdings immer gegen die Vereinnahmung durch die Masse und gegen eine lange zeitliche Beständigkeit. Im Streben nach sozialem Status durch Coolness müssen Innovationsleistungen permanent vollzogen werden. Es triumphiert der selbstoptimierende Coolismus gegenüber den Repräsentanten traditioneller, essentialistischer Lebensvorstellung. Der Mensch wird zu einem Kreativspieler seines Lebens.

Bei diesen zentrifugalen Bewegungen in der gesellschaftlichen Mitte bleiben die Vielen zurück, die nicht willens, aber vor allem nicht imstande sind, den Weg des brachialen Konsums und Individualismus mitzugehen. Es machen sich Ängste breit vor dem Verlust des Status, der Repräsentativität innerhalb des politischen Systems und der Etabliertenvorrechte. So fasst der Soziologe Oliver Nachtwey in einem Aufsatz zur erodierenden Mitte das Dilemma des Bürgertums treffend zusammen: „Man trampelt auf der Stelle, gibt sich dem Wettbewerb hin, verzichtet auf Ansprüche, ist pflichtbewusst und verhält sich konformistisch und es geht nicht voran“ (Nachtwey 2015, S. 81). Warum das so ist, wissen Heath und Potter zu beantworten: „Coole Leute betrachten sich gerne als subversiv, als Radikale, die sich nicht an althergebrachten Methoden halten. Genau das ist der Motor des Kapitalismus.” (Heath/ Potter 2005, S.251) Und genau weil die anderen das tun, was sie tun, können sie nicht mehr sein als absteigendes Mittelmass. Für gesellschaftlichen Erfolg bedarf es mittlerweile anderer Eigenschaften: einen rebellischen Impetus und den Reiz der Subversion.

Heath und Potter legen die Widersprüchlichkeiten einer neoliberalen Gesellschaft schonungslos offen. Die permanenten kulturellen Abgrenzungsanstrengungen sind eine neue Form der Anpassung an den zunehmend alle Lebensbereiche umfassenden Leistungsdruck. In der Inszenierung eines avantgardistischen, selbstbestimmten Individualismus verbirgt sich ein zutiefst antidemokratischer Reflex. In ihrer Abwendung von der trägen Massendemokratie geht in dieser Weise zu viel Kapazität und Initiativkraft verloren, um die grossen sozialen und ökologischen Fragen anzugehen. Ganz im Gegenteil scheint der rebellische Individualismus dazu geführt zu haben, dass der Diskurs um die Zusammenhänge von sozialer Verantwortung und individueller Entfaltungsmöglichkeiten zunehmend abgedunkelt wird. Die wachsende soziale Ungleichheit wird schlicht durch Desinteresse legitimiert.

Zugleich analysieren die Autoren die Gesellschaft anhand eines sehr vereinfachenden dichotomen Musters. Die Gesellschaft wird in ihrer gesellschaftlichen Realität durch zwei soziale Blöcke konstituiert: die Systemangepassten und die gegenkulturellen Strömungen. Diese Einteilung verzerrt grobschlächtig die komplexe soziale Realität einer pluralistischen Demokratie. Dazu verstehen Heath und Potter, ohne einen spöttischen Anklang dabei verbergen zu wollen, Protest als individuelle Inszenierung von an sich beliebigen Lebensstilvarianten. Konkrete kollektive Protestformen und ihre Wirkungsformen scheinen nicht zu existieren, sondern unterschiedslos in einem Vermarktungskapitalismus aufzugehen. Dabei sollte unbestritten sein, dass jede Form politischer Artikulation mehr ist als Lebensstilangebote. In ihnen kristallisieren sich konkrete Lebenspraktiken und neue Formen kollektiver Solidarität heraus, die sich direkt mit den gesellschaftlichen Verhältnissen auseinandersetzen und Veränderungspotentiale abseits von Marktzusammenhängen schaffen.

Diese Vereinfachungen passen zu einem Hang der Selbstüberschätzung der beiden Autoren. Souverän scheinen sie sich im postmodernen Zwielicht unübersichtlich gewordener Frontverläufe und Widersprüche bestens zurecht zu finden und wechseln in ihrem Duktus betont kunstvoll zwischen Begriffen des Bohème-Slangs und akademischer Präzision. Fast möchte man auf die Idee kommen, dass die Schrift auch ein Beitrag zur eigenen Inszenierung akademischer Coolness ist. Nichtsdestotrotz liefert das Buch einen aufschlussreichen Beitrag zu gesellschaftlichem Wandel im Neoliberalismus.

Jan Quetting
kritisch-lesen.de

Joseph Heath, Andrew Potter: Konsumrebellen. Rogner und Bernhard Verlag bei Zweitausendeins, Berlin 2005. Gebunden, 432 Seiten, ca. SFr. 23.00. ISBN 9783807710082

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