Rezension zum Buch von Irmi Seidl & Angelika Zahrnt Postwachstumsgesellschaft: Konzepte für die Zukunft

Sachliteratur

23. Mai 2016

Die Krise befeuert die „Wachstumskritik“ – als gefährlichen Wolf im (manchmal antikapitalistischen) Schafspelz.

Postwachstumsgesellschaft: Konzepte für die Zukunft.
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Postwachstumsgesellschaft: Konzepte für die Zukunft. Foto: Luis Argerich (CC BY 2.0 cropped)

23. Mai 2016
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Korrektur
Das neoliberale und marktradikale Kapitalismus-Modell ist spätestens mit der Krise gescheitert. Dies wäre eigentlich der richtige Zeitpunkt, um grundlegend über Alternativen nachzudenken. Der richtige Zeitpunkt auch, um die politische Linke wieder zu einem nennenswerten gesellschaftlichen Faktor zu machen. Es wäre nicht zuletzt auch der Zeitpunkt, die Verteilungsfrage endlich wieder zu stellen. Ein nicht unbedeutender Teil der Linken aber beteiligt sich lieber an einer „wachstumskritischen" Phantomdebatte: In ihr kommen vielfältige Akteure zusammen – etwa Attac, Umweltverbände und -verwaltung, Kirchen, Entwicklungshilfe-Organisationen, linke und rechte Sozialwissenschaften sowie Teile aller etablierten Parteien.

Konturen einer Debatte

Es ist dies eine Debatte, in der Positionen von weit rechts bis weit links sich um das goldene Kalb der Kritik am Wirtschaftswachstum versammeln. Sie vertreten mit beinahe religiöser Inbrunst einen Glaubenssatz: Dass regelmässiges Wachstum einer Volkswirtschaft aus ökologischen Gründen abzulehnen oder aber schlicht unmöglich sei.

Auf ihre Fahnen schreiben sich die wachstumskritischen Aktivistinnen und Aktivisten folgerichtig die Forderung nach einer „Postwachstumsgesellschaft" oder „Postwachstumsökonomie" – die Forderung nach einem Ende oder einer Umkehr des Wachstums also. Einige Beispiele:

- „Wohlstand ohne Wachstum" lautet der Titel bzw. der Untertitel zweier wirkmächtiger Bücher zum Thema (Miegel 2011; Jackson 2011).
- In Hans Binswangers „Wachstumsspirale" (2006) wird Kapitalismuskritik zur Kritik am beständigen „Zwang" des Geldes, mehr Geld zu werden – eine Position, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte vermeintlicher Antikapitalismen zieht und die am Beispiel des Denkens Pierre Joseph Proudhons schon von Karl Marx als irreführend und unzureichend analysiert wurde.
- Als „attac Basistext" ist jüngst ein kleines Bändchen mit dem Titel „Postwachstum" erschienen, das versucht, der Wachstumskritik eine linke Wendung zu geben (Schmelzer/Passadakis 2011).
- Und obwohl „Wachstumskritiker" bisweilen gerne den Eindruck erwecken, ihre Thesen seien neu, betitelte der Club of Rome schon 1972 seinen einflussreichen Bericht mit „Die Grenzen des Wachstums" (Meadows/Meadows et al. 1972). Dies stand wiederum selbst in einer „wachstumskritischen" Tradition, für die sich Beispiele etwa in der Bibel, bei Aristoteles, in der (nach-) mittelalterlichen Moralphilosophie und in der politischen Ökonomie des 19. Jahrhunderts finden.

Schon anhand dieser wenigen Bücher lässt sich zeigen, dass „Wachstumskritik" tatsächlich Positionen von weit rechts bis weit links unter einem gemeinsamen Schlagwort, einer gemeinsamen Grundkonstante ihres Denkens vereint. Das alleine sollte stutzig machen. So breitet der rechtskonservative Meinhard Miegel in seiner Arbeit einmal mehr das Märchen vom Ende der Finanzierbarkeit des Sozialstaats aus, hier nun „wachstumskritisch" gewendet. Auf der anderen Seite findet sich mit dem attac-Basistext eine Arbeit, die durchaus als links bezeichnet werden kann und etwa die Verteilungsfrage mehr oder weniger radikal zu stellen versucht. Der hier zu besprechende Sammelband mit dem Titel „Postwachstumsgesellschaft" reiht sich ein in eine Modewelle neuerer Veröffentlichungen, durch die „Wachstumskritik" im Zuge der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise erneut und verstärkt auf die politische Tagesordnung gepusht wurde. Und auch in diesem Sammelband findet sich ein buntes Sammelsurium eher rechter und eher linker Positionen, hier allerdings eher gemässigte.

Die Autorinnen und Autoren des Bandes betrachten und analysieren in ihren Artikeln die unterschiedlichsten politischen Themen durch eine wachstumskritische Brille – etwa die Frage der Alterssicherungssysteme, des Konsums, der Steuerpolitik oder der Verteilung. So ist auch der Gewerkschafter Norbert Reuter mit einem Aufsatz vertreten, in dem er sich dem „Arbeitsmarkt im Spannungsfeld von Wachstum, Ökologie und Verteilung" widmet. Lorenz Jarass hat einen Aufsatz zur Steuerpolitik geschrieben, der in diesem Sammelband insofern etwas verloren erscheint, als er übermässig „wachstumskritisch" gar nicht ist. Bei Matthias Möhring-Hesse, der sich der Verteilungsfrage widmet, finden sich zwar jede Menge abstrakter philosophischer Überlegungen, aber wenig tatsächlich Brauchbares zur Frage der Verteilung im Kontext einer (programmatisch ja als anzustreben behaupteten) nicht mehr wachsenden Wirtschaft.

Verteilung und Soziales?

Während diese Aufsätze harmlos scheinen oder – bei Reuter und Jarass – bisweilen durchaus überlegenswerte Ansätze im Sinne einer verteilungsgerechteren Gesellschaft finden, zeigt sich in anderen Aufsätzen die Fragwürdigkeit „wachstumskritischer" Haltungen sehr deutlich. Paradebeispiel hierfür ist François Höpflinger, der einmal mehr die Forderung nach einer Verlängerung (auch) der Lebensarbeitszeit aufstellt, hier „wachstumskritisch" begründet. Ist die „Rente mit 67" als faktisches Rentenkürzungsprogramm heute schon gesetztes Recht, so wird hier der Boden für eine weitere Anhebung des Renteneintrittsalters bereitet – was letztlich wiederum in erster Linie jene Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu bezahlen haben, die im Berufsalltag körperlich oder psychisch besonders harten Anforderungen ausgesetzt sind und für die schon die Rente mit 65 ein illusorischer Wunschtraum war.

Die „wachstumskritische" Debatte zeigt sich in weiten Teilen als hochgradig ignorant gegenüber den sozialpolitischen und verteilungspolitischen Implikationen ihrer Forderungen. Die einzige Umverteilung, die ernsthaft und breit diskutiert wird, ist jene der radikalen Umverteilung und Verkürzung der Arbeitszeit mit dem Ziel, auf diese Weise das Wachstum zu bremsen oder umzukehren. Nun mag man einer Verkürzung der Arbeitszeit im Grundsatz zwar mit Sympathie gegenüberstehen. Stutzig machen sollte allerdings, dass die Frage eines Lohnausgleichs seitens der „Wachstumskritiker" kaum thematisiert wird. Viele Beschäftigte arbeiten heute 40 Stunden bei einem Stundenlohn von fünf oder sieben Euro. Wie diese Kolleginnen und Kollegen sich und ihre Familien zukünftig bei halbierter Arbeitszeit und gleichem Stundenlohn durchbringen sollen, bleibt das Geheimnis der „Wachstumskritiker". Antworten finden sich auch in dem hier zu besprechenden Sammelband nicht. Kapitalismuskritik sieht anders aus.

Und selbst wo die soziale Frage zumindest angesprochen wird, sind die Konzepte zur tatsächlichen Umsetzung bestimmter sozialpolitischer Forderungen im Besonderen ebenso dünn wie die Konzepte einer „Postwachstumsökonomie" im Allgemeinen. Hier wär etwa zu verweisen auf Irmi Seidls und Angelika Zahrnts „Argumente für einen Abschied vom Paradigma des Wirtschaftswachstums" im hier besprochenen Sammelband.

Bruttoinlandsprodukt

Die in den Aufsätzen des Sammelbandes beschriebene „Wachstumskritik" krankt aber keineswegs nur an einem Mangel an Reflexion ihrer sozialen und verteilungspolitischen Implikationen. Mindestens ebenso fragwürdig, und beides ist eine Gemeinsamkeit des Mainstreams der „wachstumskritischen" Debatte, ist ihr Verständnis von dem, was Wachstum überhaupt ist. Tatsächlich ist dieses nämlich nichts anderes als eine statistisch konstruierte Grösse – die Steigerung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) einer bestimmten Zeitperiode, etwa einem Quartal oder einem Jahr. Das BIP wiederum erfasst die in Geld gemessenen Marktwerte der in dem genannten Zeitraum produzierten Waren und Dienstleistungen. Undokumentierte Arbeit, andere nicht registrierte Beschäftigung sowie staatliche Leistungen werden durch Schätz- bzw. Ersatzwerte einbezogen. Beim Vergleich des BIP verschiedener Zeitperioden wird zudem die Geldentwertung berücksichtigt.

Das BIP bezieht also ausschliesslich marktförmig produzierte Waren und Dienstleistungen ein, die in Geldform auf Basis ihrer Marktpreise erfasst werden. Damit stellt es per se keinen Indikator für Ressourcenverbrauch oder für Umweltbelastung dar; es kann folglich durchaus ein schrumpfendes BIP mit steigendem Ressourcenverbrauch oder umgekehrt ein wachsendes BIP mit sinkendem Ressourcenverbrauch geben. Einen methodischen, systematischen und zwingenden Nexus zwischen dem statistischen Indikator „Wachstum" und dem Ressourcenverbrauch bzw. der Umweltbelastung gibt es nicht.

Das Problem ist nun, dass die pauschale und undifferenzierte Forderung nach einem Ende des Wachstums sich nicht dafür interessiert, in welchen Bereichen und auf welche Weise eine Volkswirtschaft schrumpfen soll. Sie interessiert sich auch nicht dafür, wo eigentlich – erstens – Umweltzerstörung und Ressourcenverbrauch in welchem Ausmass stattfinden und ob – zweitens – bestimmte Massnahmen gegen das Wachstum tatsächlich zu einem geringeren Ressourcenverbrauch führen. Wer vor diesem Hintergrund schlicht eine Begrenzung oder Umkehrung des Wachstums fordert, sieht sich drei unbequemen (und vermutlich nicht gewollten) Konsequenzen gegenüber:

Erstens droht er oder sie, statistischen Taschenspielertricks aufzusitzen. Die Forderung vieler „Wachstumskritiker" – auch im vorliegenden Sammelband – nach mehr Ehrenamt und Selbstversorgung bedeutet nämlich nichts anderes als die Weiterführung bisher am Markt erbrachter Produktion fernab des Marktes. Umweltfreundlicher wird das Produzieren dadurch nicht, seine Produkte fliessen lediglich nicht mehr in die Berechnung des Bruttoinlandsprodukts ein.

Zweitens liegt der Ressourcenverbrauch schon heute weit jenseits des Verträglichen, so dass selbst ein gewisser Rückgang des BIP nicht viel helfen würde. „Wachstumskritik" droht hier den Blick auf das tatsächlich Notwendige zu verstellen, nämlich die Entwicklung und Durchsetzung umweltverträglicherer und ressourceneffizienterer Produkte und Produktionsverfahren.

Eine dritte und noch sehr viel gravierendere Konsequenz der pauschalen und undifferenzierten Forderung nach einem Ende des Wachstums ist, dass damit argumentationslogisch auch ökologisch sinnvolle Projekte, Entwicklungen und Investitionen in Frage gestellt werden – denn auch sie steigern das BIP und damit das Wachstum. Hier wäre beispielhaft zu verweisen auf die Behebung von Schäden an Natur und Umwelt oder Investitionen in Recycling, erneuerbare Energien sowie eine bessere Ressourcen- und Energieeffizienz. Auch hier ist zu konstatieren: Eine überzeugende Kapitalismuskritik sieht anders aus. Für alle drei Konsequenzen finden sich Beispiele in dem hier zu besprechenden Sammelband.

Qualitatives Wachstum

Sehr viel klüger, als Wachstum zu verdammen, wäre es, genau zu prüfen, weshalb in bestimmten Bereichen Wachstum tatsächlich mit steigendem Ressourcenverbrauch einhergeht – und zu überlegen, in welchen Bereichen Wachstum zukünftig in welcher Form stattfinden soll. Eine solche Politik schliesst Vorgaben – auch ordnungsrechtlicher Art – durchaus ein, denn in der Tat haben Unternehmen von sich aus kein Interesse, Schäden und Kosten zu reduzieren, die sie auf die Gesellschaft überwälzen können. Notwendig ist überdies die Intensivierung von Forschung, Entwicklung und Investitionen in ökologisch nachhaltige Produkte und Produktionsverfahren. Und es braucht nicht zuletzt einen Ausbau von – gerade auch öffentlichen – Dienstleistungen: Ihre Produktion ist vergleichsweise ressourcensparend; so liegt ihr Energieverbrauch in Deutschland nur bei einem Viertel von jenem des Produzierenden Sektors (relativ zur Bruttowertschöpfung).

Wer aber eine solche Differenzierung vornimmt, der spricht nicht mehr von den Grenzen des Wachstums, sondern von qualitativem Wachstum. Von einem Wachstum, das nicht bedingungslos gesteigert wird, sondern das in gesellschaftlich und ökologisch sinnvollen Bereichen stattfindet. Dieses erfordert zweierlei: Erstens, mit einem Wirtschaftsmodell zu brechen, das primär auf deregulierte Märkte setzt – denn den Märkten als solchen ist die ökologische Frage ebenso egal wie die soziale. Und zweitens, mit der Vorstellung zu brechen, ein „Ende des Wachstums" an sich sei die Lösung für die anstehenden ökologischen oder gar sozialen Herausforderungen und Probleme.

Genau für ein solches Konzept des qualitativen Wachstums bieten die Autorinnen und Autoren in Seidls und Zahrnts Sammelband aber keine Denkansätze. Ernsthaft vorwerfen wird man ihnen dies kaum können: Sie reihen sich damit ein in eine breit angelegte Phantomdebatte, die sich als Ganze darin gefällt, radikal (und manchmal antikapitalistisch) zu klingen, ohne aber fundierte Konzepte zu entwickeln und ohne die Grundlagen und Konsequenzen des eigenen Denkens kritisch zu hinterfragen.

Patrick Schreiner
kritisch-lesen.de

Irmi Seidl / Angelika Zahrnt (Hg.) : Postwachstumsgesellschaft. Konzepte für die Zukunft. Metropolis Verlag, Marburg 2010. 247 Seiten, ca. 24.00 SFr. ISBN: 978-3-89518-811-4

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