Gisela Notz: Kritik des Familismus Der falsche Schein des Familismus

Sachliteratur

10. Juli 2017

Ein Augenschein vor Ort offenbart verhärtete Fronten und ungleiche Machtverhältnisse.

Gisela Notz: Kritik des Familismus.
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Gisela Notz: Kritik des Familismus. Foto: alis-räuberhöhle (CC BY 3.0 unported - cropped)

10. Juli 2017
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Was Familismus in verschiedenen Zeiten bedeutete, wie dabei Frauen in zeitgemässe Rollenkorsetts gezwängt und entsprechend den politischen Zielen in den Zeitepochen instrumentalisiert wurden, wird im Buch von Gisela Notz diskutiert. Als Quelle „biologischer und sozialer Reproduktion“ (S. 15) regelt die Familie die Aufzucht, Erziehung und Versorgung der Kinder und die Pflege Angehöriger. Diese Arbeiten leisten meist Frauen. Staat und Politik haben ein drängendes Interesse an der Familie, so die Autorin, weil mit dieser die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die Macht des Mannes erhalten wird.

Dies erkläre ihre ständige Glorifizierung. Familismus als Ideologie sieht die Familie als (vereinfachte) Leitform einer Sozialstruktur und postuliert, dass alle Menschen Teil der familiaren Ordnung seien, eine Familie gründen oder in sie zurückkehren wollen. „Die bürgerliche Kleinfamilie gilt „im europäischen Kulturkreis im normalen Fall“ als „Lebensgemeinschaft des verheirateten Elternpaares und seiner noch nicht erwachsenen Kinder; rechtlich: die Gesamtheit der durch Ehe oder Abstimmung von einander oder von gemeinschaftlichen Vorfahren verbundenen Personen.“ (Ebd.)

Die Familie war allerdings nie die überwiegende heteronormative Lebensform. Die (Klein-)Familie als soziale und politische Konstruktion existiert nach Notz seit 300 Jahren. Leider erklärt die Autorin dies nicht sozialgeschichtlich. Denn zuvor war ja die Familie hauptsächlich für Reiche (Adel, später Bourgeoisie) die den Zusammenhalt schaffende Beziehung und das prägende Konstrukt für Macht und Herrschaft. Das Gesinde (Mägde und Knechte), oft auch Gesellen wurden häufig als zur reichen Grossfamilie zugehörig betrachtet. Arme Menschen verfügten oft nicht über die finanziellen Mittel, um mit der Eheschliessung eine Familie nach herkömmlichen Regeln zu bilden.

Notz würdigt die Frauenselbstbestimmung der Beginen. Dabei vergisst sie, dass es zu allen Zeiten bereits so genannte abweichende Lebensformen gab, zum Beispiel die Häretiker. Auch die Hussiten, Taboriten oder Täufer lebten andere, von der Kirche abgewandte kollektive, alternative Lebensformen – genauso wie weise Frauen und Hebammen, die wegen ihrer Kenntnisse und Erfahrungen oft durch die (kirchliche) Inquisition verfolgt wurden.

VerfechterInnen der Frauenemanzipation

Das Buch würdigt viele KritikerInnen der familiaren Ordnung, etwa jene englischen FeministInnen im 17. Jahrhundert, die das patriarchale Wertesystem satt hatten und ihre Familie verliessen. Beispielhaft beschreibt sie die Robert Owens-Kommune und Fouriers Erkenntnis: „Die Erweiterung der Vorrechte der Frauen ist die Grundvoraussetzung für jeden gesellschaftlichen Fortschritt.“ (S. 57) Auch der Frühsozialist Henri de Saint-Simon verlangte die Neuorganisierung und -verteilung der Haushalte in Familie und Beruf und andere Lebensformen. „Freie Frauen“ riefen im Jahr 1825 zu Lebens- und Arbeitsgemeinschaften auf, in denen Frauen sozial, ökonomisch und rechtlich gleichgestellt sind.

Flora Tristan wollte Frauen und andere ausgebeutete Individuen befreien und ebenbürtigen Frauen und Männern gleiche Zugänge zu Erziehung und Ausbildung schaffen. Friedrich Engels markierte die moderne Kleinfamilie als „offene und verhüllte Haussklaverei der Frau“ (MEW 21) und August Bebel kennzeichnet die klein-familiäre „Privatküche“ als eine „rückständige und überwundene Einrichtung.“ (S. 63) Sie alle meinen: Auch in der „Liebeswahl“ soll die Frau frei und ungehindert sein. Freiwillige Zusammenschlüsse selbstbestimmter Individuen und Kollektive lebten im 19. Jahrhundert die AnarchistInnen Gustav Landauer, Erich Mühsam, Rudolf Rocker und Emma Goldmann vor.

Aspekte der Frauenbewegung

Systematisch arbeitet sich Notz durch die Entwicklung der Frauenbewegung der vergangenen 200 Jahre und stellt wichtige Organisationen und Persönlichkeiten der Zeit vor. Der Allgemeine Deutsche Frauenverein vertrat 1865 halbherzig die Forderungen der Frühsozialisten und Anarchisten; er trat für die Kleinfamilie ein, focht aber zeitgleich für die Frauenteilnahme am Staatswesen, an Bildung, Ausbildung und existenzsichernder Erwerbsarbeit. Die bürgerliche Frauenrechtlerin Louise Otto, die zwischen 1819 und 1895 lebte, stritt für die ökonomische Gleichberechtigung in der bürgerlichen Kleinfamilie, für Kinderkrippen und -gärten, damit hilfsbedürftige Frauen berufstätig sein können.

Ganz deutlich positionierten sich Vertreterinnen der sozialistischen Frauenbewegung: Nur durch die Revolution und die Aufhebung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse sei nach ihrer Ansicht die Frauenbefreiung machbar. Eine ihrer bekanntesten Fürsprecherinnen, Clara Zetkin, zeigte auf, dass die Differenz zur bürgerlichen Frauenbewegung, die war, dass diese einzig gegen die patriarchalen Strukturen der eigenen Klasse kämpften, aber die Proletarierinnen mit den Männern ihrer Klasse für die Abschüttelung der Kapitalherrschaft als solche eintraten (Rezension von Clara Zetkins „Geschichte der proletarischen Frauenbewegung). Die Frauen aus der Arbeiterklasse „verwiesen [letztlich darauf], dass die tragende Grundlage für soziale Gleichberechtigung des ‚weiblichen Geschlechts' die Berufsarbeit bildet, weil ‚ohne wirtschaftliche Unabhängigkeit des Weibes vom Manne, von der Familie, die Emanzipation unmöglich wird'“ (S. 68).

Besonders hebt Notz die Sexualreformerin Helene Stöcker hervor, die gegen das Abtreibungsverbot kämpfte. Ihre „Theorie der neuen Ethik“ verlangte neben der vollen Gleichberechtigung entgegen der Rassenhygiene auch die Gleichstellung „ausserehelicher Kinder“ mit ehelichen Kindern. Sie gründete 1905 den „Bund für Mutterschutz und Sexualreform“ für ledige Mütter mit Kindern und wandte sich gegen deren „Minderwertigkeit“.

Verlogenes Familienbild

Schonungslos wird in dem Buch „die gute alte Zeit als Schimäre“ (S. 30) entblösst. Wegen des unzureichenden Männerlohns arbeiteten Frauen und Kinder in vorindustrieller Zeit in Bergbau, Spinnerei und Weberei. Auf dem Land sah man in Frauen vornehmlich unsichtbare Haushälterinnen. Folgten sie nicht dieser „Bestimmung“, galten sie als „unnormal“. Die Verlogenheit dieses Sittengemäldes trat im Kaiserreich klar zutage. Anspruch und Realität klaffen weit auseinander: Wenn etwa unverheiratete Frauen schwanger wurden und Kinder bekamen, wurden sie als „unmoralisch“ stigmatisiert und bestraft, die Kinder als „Bastarde“ beschimpft. Auch der Erste Weltkrieg vermittelt ein obsoletes Familienbild: Frauen, Soldatenwitwen und Waisen arbeiteten in Rüstungsfabriken, versorgten Kriegsinvalide, machten die Aufbauarbeit und kamen für den Familienunterhalt auf, wenn Ehemänner oder Söhne „im Felde“ blieben. Doch mit den Kriegsheimkehrern wurden die Frauen aus der Arbeit an den Herd zurück entlassen, da die stimmangebende SPD und die Gewerkschaften Ehe und Familie befürworteten.

In der Verfassung der Weimarer Republik waren Frauen gleichberechtigt, doch die Frauendiskriminierung im bürgerlichen Recht blieb. Unter Anderem mussten LehrerInnen ab 1923 ihren Beruf wieder aufgeben, sobald sie heirateten. Unverheiratete Lehrerinnen mussten ausserdem eine "Ledigensteuer" zahlen und verdienten weit weniger als ihre männlichen Kollegen. Die Ehefrau wurde bis 1977 verpflichtet, den Haushalt zu führen. Frauen durften bis 1958 überhaupt nur mit der Erlaubnis ihres Ehemannes einen Beruf ausüben. Für eine kurze Zeit hatten sehr wenige Frauen die Möglichkeit, im Reichstag soziale und politische Fragen zu thematisieren.

Ab 1933 verschärfte die NS-„Rassen“-Politik den Familismus. Frauen wurde das passive Wahlrecht entzogen. Sie sollten „ihren Platz in der Familie“ einnehmen, um für die „Volksgemeinschaft“ um jeden Preis „völkisch wertvollen Nachwuchs“ (S. 49) zu gebären – gefördert durch Steuererleichterungen, Kredite für Kinder und Wohnungseinrichtungen. Andererseits wurde in der folgenden Zeit der aussereheliche Verkehr zwischen „wertvollen Volksgenossen“ zur „militärischen Nachwuchssicherung“ und zur Bewahrung „wertvollen“ Blutes wiederum durch die NS-Führung unterstützt. Was bei Notz zu kurz kommt: Mit dem „Ariernachweis“ wurden jüdische oder andere Einflüsse in der Familie oder bestehende „Erbkrankheiten“ aufgespürt. Wenn das Ehetauglichkeitszeugnis versagt wurde, wurden die Beziehungen verboten, verfolgt und ihre Fortführung mit Haft unterdrückt. Der Straftatbestand „Rassenschande“ sanktionierte ausserdem den Verkehr mit „Nichtariern“ mit dem Tode beziehungsweise der Verschickung in ein Konzentrationslager.

Erwerbslose Frauen galten als „asozial“; sie mussten bis Kriegsende bei strengen Kontrollen ihrer Arbeitsbereitschaft Pflichtarbeit leisten; ein Fehlen auf der Arbeit wurde mit KZ-Haft sanktioniert. In der sozialrassistischen NS-Regimepolitik galten im Kontext der Fortpflanzungsauslese strikte Gebärverbote für „Nicht-Arier“ und „minderwertige Arier“. Zwangssterilisierungen, Arbeitshäuser und Zwangsarbeit in Lagern, „Vernichtung durch Arbeit“ beziehungsweise „Euthanasie“ verhinderten die Fortpflanzung von Sinti und Roma, „Asozialen“, „Kriminellen“, nicht nur von „Behinderten“ und Juden, die Notz kurz erwähnt. Nach dem Zweiten Weltkrieg meisterten mehrheitlich Frauen den Aufbau. In der Adenauer-Ära reaktivierte die BRD rückständige Familienmuster. Beim politischen Tauziehen um ein Gleichberechtigungsgesetz wurden von CDU-Familienministerien und Kirchen die Weichen gestellt.

Doch die 1968er brachen mit Ehe und Familie. Die neuen Aktivistinnen verachteten Hierarchien und Autoritäten, gründeten in Europa bedeutsame feministische Bewegungen und saugten feministische Ideen aus dem Ausland auf. Diese Entwicklungen würdigt Notz in Kapitel fünf ihres Buches ausdrücklich. Einige Aspekte sind Gemeinschaftsprojekte als Alternativen zur bürgerlichen Kleinfamilie, antiautoritäre Kinderläden, Frauenhäuser, Kommunen und (Frauen)-Wohngemeinschaften. Die Positionen von KommunistInnen, AnarchistInnen, Verbänden und Initiativen fehlen im Buch. DDR-Frauen wird im sechsten Kapitel ökonomische Selbständigkeit wegen Berufstätigkeit bei paralleler Haus- und Reproduktionsarbeit und straffreie Abtreibung unter patriarchaler Ägide bescheinigt.

Und heute? Reaktionäre meinen, dass die Familie die Einsparungen sozialer Leistungen kompensieren muss. Unter der stillschweigenden Annahme, Familien würden sich untereinander helfen, fördert die AfD die Familie nach dem Leistungsprinzip zum alleinigen Reproduktions-, Versorgungs-, Pflege- und Unterhaltsinstitut und will Sozialversicherungen abschaffen.

Anne Allex
kritisch-lesen.de

Gisela Notz: Kritik des Familismus. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2015. 222 Seiten, ca. 14.00 SFr. ISBN 3-89657-681-X

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