Rezension zum Buch von Gareth Stedman Jones Karl Marx: Die Biographie

Sachliteratur

5. Februar 2018

Das Bekannte ist darum – weil es bekannt ist – nicht erkannt. Ein besonderes, grossartiges Buch mit einer unbedingten Leseempfehlung!

Karl Marx (1818-1883).
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Karl Marx (1818-1883). Foto: an (PD)

5. Februar 2018
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Innovative Sozial-und Kulturgeschichte, Revolution und Theorie, radikale Denkformen: Die Sozialgeschichte Englands besitzt eine starke marxistische Tradition mit – um nur die zu nennen, die auch durch Übersetzungen ins Deutsche bekannt wurden – Autoren wie E.P. Thompson, Eric Hobsbawm, Christopher Hill, Perry Anderson und auch Gareth Stedman Jones.

Einen ersten Hinweis auf das Projekt dieser Marx-Biografie findet man in einem Interview, das der Historiker Peter Schöttler 1988 mit Stedman Jones führte. Er spricht von „einem kleinen Buch über Marx“ (Stedman Jones 1988, S. 315). Daraus geworden ist die grosse Biografie eines Werks, die ein menschliches Subjekt entwickelte, veränderte, korrigierte, anschloss und anschlussfähig machte und dessen Werden entfaltet wird. Die wissenschaftliche, parteiförmige, gewerkschaftliche Vermittlung des Marxismus im 20. Jahrhundert zeigte einen Marx, der nur sehr entfernt mit dem konkreten Marx des 19. Jahrhunderts zu tun hatte: „Die Person, die dabei entstanden war, war ein furchteinflössender bärtiger Patriarch und Gesetzgeber, ein Denker von gnadenloser Konsequenz mit einer bestechenden Zukunftsvision“ (S. 13).

Marx' Inspirationen

In welchen Kontexten entstanden die Ideen von Marx?

„Es gab die Schönheit der griechischen polis, die Inspirationen der Dichter und Dramatiker aus Weimar, [… ] die Wunder der romantischen Liebe. Aber Karl war nicht nur Produkt der Kultur, in die er hineingeboren wurde. Er war von Anfang an auch fest entschlossen, der Welt seinen Stempel aufzudrücken.“ (S. 14)

Ausserdem „die Macht der deutschen Philosophie“ (ebd.) (die Junghegelianer, besonders Feuerbach); und die sozialen (Industrialisierung), politischen (die Revolutionen in Europa), persönlichen Bedingungen. Frühe Dichtungs-Aspirationen und Schriftstellerei zeigen den jungen Karl (wie er von Stedman Jones genannt wird, um wirklich deutlich zu machen, dass er nicht über eine Ikone schreibt) auf der Suche nach seinen ganz besonderen eigenen Fähigkeiten, nach seiner Selbstbeauftragung.

„Karl gehörte einer Generation von Autoren an, die in ihren Arbeiten zum Übergang von der alten zur modernen Gesellschaft der Wirkung Darwins vorausgingen. [...] Sie waren alle Juristen, ihr Blick auf archaische Gesellschaften war nicht naturhistorisch, sondern rechtswissenschaftlich – auch die politische Ökonomie wurde im 19. Jahrhundert dem Gebiet des Rechts zugeschlagen.“ (S. 715)

Seine Zeitgenossen sahen wie er Geschichte, Entwicklung und Fortschritt als gleich an, als eine „progressive Bewegung von niedrigen zu höheren Stufen“ (ebd.). Zum Beispiel lässt die von Stedman Jones sorgfältig entwickelte Berliner Auseinandersetzung mit den Denk- und Begreifenswerkzeugen, die sich an der Religionsfrage schärften, den Bruch, den alle, die je von Marx hörten, irgendwie kennen, in seiner Radikalität erfassen: Wie aus der Frage nach der Selbstentfaltung des Menschen, durch Religion und Gesellschaft verhindert, jene nach Klassen wird.

Klassenkampf statt Liberalismus

In welchen Verkennungszusammenhängen Marx während der „Revolutionen der Jahrhundertmitte“ theoretisierte, kann im 8. Kapitel studiert werden. Marx sah – vor allem in der Februarrevolution – einen offenen Kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat „losbrechen“ (S. 305), einen „Klassenkampf“, der als Begriff – so Stedman Jones – auch im 20. Jahrhundert zu wenig kritisch hinterfragt wurde. Die Reformprogramme der Liberalen in Europa forderten individuelle Rechte, Meinungs-, Koalitions-, Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit, hinter denen sich Arbeiter und Bourgeoisie versammelten. Sie wurden von Marx nicht ernst genommen.

„Diese Geringschätzung politischer und rechtlicher Aspekte setzte sich fort, doch ab 1845 änderte sich die Begrifflichkeit. Nun stand das Proletariat nicht mehr im Gegensatz zum Privateigentum, sondern es befand sich im Klassenkampf gegen die ‚Bourgeoisie'. Das war eine neue Auffassung von der historischen Bedeutung der Arbeit“ (S. 372).

Es ist interessant, wie starr und ausdauernd Marx – gegen alle Zeitgenossen – in seinen Artikeln zur europäischen 1848er Revolution an seinem Desinteresse an der politischen Verfasstheit (besonders an der Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer) der Gesellschaft und den Motiven der Revolutionäre bezogen auf die staatliche und gesellschaftliche Teilhabe festhielt. Die nicht zu Ende gebrachten und im besten Fall schwankenden „Umrisse“ von staats- und politiktheoretischen Schriften können in ihrer Rekonstruktion als ernstzunehmendes Problem fehlender beziehungsweise verkennender Eingriffsmöglichkeiten aufgehoben werden. Ein festes Rückgrat (Begriffsensemble) und elastische Extremitäten (Verarbeitung politisch-sozialer Konstellationen) – um ein Bild zu gebrauchen – sind für eingreifende Theoriebildung überlebensnotwendig.

Wir können an Verunsicherungen teilnehmen, die durch Schreibprobleme (der Folgebände des 1. Band des Kapitals) entstehen: Marx hat Schwierigkeiten, die Zirkulationssphäre auszuarbeiten als ihm durch Lektüreerfahrungen Zweifel kommen, ob die kapitalistische Produktionsweise tatsächlich weltweit durchgesetzt sein muss oder nicht eher als Phänomen der westlichen Länder gewertet wird; und wenn ja, was bedeutet das für Russland, in der eine erste marxistische Gruppierung 1883 gegründet wurde, die in Briefkontakt mit Marx Probleme der theoretisch-politischen Entwicklung diskutierte?

Im Dialog mit Zeitgenossen

Schon um die Verschiebungen, die Marx in die philosophischen und theoretischen Diskurse brachte, in ihrer Besonderheit aber auch in ihren vorausgesetzten Leistungen anderer einordnen zu können, werden die Zeitgenossen ausführlich zum Reden gebracht. Stedman Jones sieht die Schriften von Marx als Interventionen in politische und philosophische Kontexte, die es zu rekonstruieren gilt. Ohne den Filter, den die Ikonisierung (so der Prolog des Buches) von Marx/Marxismus Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts herstellte, werden die Äusserungen und Texte der Zeitgenossen, von denen nicht wenige als Konkurrenten wahrgenommen wurden (z.B. Bruno Bauer, Proudhon, Bakunin, Lassalle) so intensiv untersucht wie die von Marx selbst.

Es ist (auch noch einmal) interessant nachzulesen, wie stark die Auseinandersetzungen mit und gegen Hegel, durch Feuerbach entzündet, das menschliche Wesen, Naturrecht, Entfremdung, Freiheit und vor allem bei Marx das frühe Beharren auf der Selbsttätigkeit des Menschen (auch gegen die Evolutionslogik von Darwin) innerhalb und gegen religiöse Denkformen anphilosophierte. „Der Mensch macht sich selbst zum Opfer der Abstraktionen, die er geschaffen hat“ und deshalb bewahre er sich „die Fähigkeit, sich von der entfremdenden institutionellen Struktur zu befreien, die mit dem Patriarchat, dem Privateigentum und der Religion entstanden war“ (S. 244). Die Kontextualisierung der Konzepte hat – da das fordernde, mehr als 900 Seiten starke Buch für Interessierte und nicht nur für den wissenschaftlich gebildeten und arbeitenden Verstand geschrieben ist – ein methodisches mitlaufendes Dauerthema: kein Gegenstand kann für sich allein untersucht werden: Religion nicht ohne Patriarchat, Privateigentum muss im Verhältnis anderer gesellschaftlicher Formen begriffen werden.

Diese Textstruktur als Selbstaufklärungswerkzeug wird gestützt durch die Mitarbeit von Stedman Jones an den „History Workshops“ mit Arbeiter_innen und Gewerkschaftsmitgliedern seit den 60er Jahren. Mit ihnen sollten „Arbeitsformen“ gefunden werden, „die ihren intellektuellen Fähigkeiten entsprechen und ihr Selbstbewusstsein stärken“ (Stedman Jones 1988, S. 282), ohne zu „oral history“ zu werden, denn die Schreibenden sollten lernen, ein theoretisches Erkenntnisinteresse zu formulieren.

Lebenstätigkeiten von Marx, die seinen Alltag betreffen, sein Familienleben, seine (vielen, teils lebensbedrohlichen) Krankheiten, die Tode mehrerer seiner Kinder, seine teils (vor allem in London) elenden Wohnverhältnisse und so weiter kommen immer wieder vor, kompakt eingestreut; die Bedingungen, unter denen gedacht und geschrieben, um Geld gebettelt und häufig nicht ausreichend gegessen wurde, der überraschende Optimismus in finsteren Zeiten, Zweifel und das Hadern mit ungelösten theoretischen Problemen werden angeleuchtet; der Habitus des Protagonisten wird durch die Jahre durch Kommentare von Freunden und Feinden gespiegelt; immer wiederholt wird der autoritäre Gestus von Marx: „Er sprach nicht anders als in imperativen, keinen Widerspruch duldenden Worten, die übrigens noch durch einen mich fast schmerzlich berührenden Ton [...] verschärft wurden.“ (zit. nach Pawel Annenkow, S. 275)

Mit der Konstruktion des Marxismus – wie bekannt und noch einmal konkret nachlesbar – durch Engels, streitet Stedman Jones implizit gegen die passive Rezeption von Begriffen. Was er als Komplexitätsreduktionen und Reaktion auf konkrete politische Anforderungen in den Engelschen Vermittlungen des Marxschen Werkes – anhand des Klassenbegriffs, des Staatsverhältnisses, des notwendigen Zusammenbruchs des Kapitalismus vorführt, können wir verlängern in die im Alltagsverstand angekommenen und somit dem Ressentiment anheimgegebenen Wörter Hegemonie, Populismus, Gender ... (ist zu erweitern). Sie alle bedeuten etwas, sind nicht einfache heuristische Instrumente ohne Konsequenz.

Einige deutsch- und englischsprachige Rezensionen, die einfach im Netz aufzufinden sind, lesen sich wie Kommentare aus einem Oberseminar: es gäbe nichts Neues zu lesen, bestimmte Materialien und Themen seien nicht berücksichtigt worden; es fehlten Hinweise auf einen erneuerten Marxismus und so weiter. Ein Wettbewerb des Besser-Wissens, der keinen Zugewinn an Erkenntnis birgt und darüber schweigt, dass der Text für Viele geschrieben wurde und besonders gelungene Geschichtsschreibung ist.

Wenn man bedenkt wie radikal – und gegen Darwin – Marx den Menschen schon im 19. Jahrhundert als selbsttätigen philosophierte, indem er die Natur des Menschen als seine Geschichte definierte, die keinen Rückgriff auf eine andere Natur ermögliche und innerhalb derer er sich als Vernunft auf sich selbst beziehen kann, erscheinen die aktuellen Gender-Debatten, die erneuerten rassifizierten Nationalismen, ebenso radikal in ihrer Verdunkelung des schon zu Wissenden. Der marxistische Marx des 19. Jahrhunderts ist entlassen und der Marx, der brilliant-intelligente Problemformulierungen und deren Bauweise lehrte, kann mit Stedman Jones erstmalig oder erneuert angeeignet und eingelassen werden.

Kornelia Hauser
kritisch-lesen.de

Gareth Stedman Jones: Karl Marx. Die Biographie. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017. 896 Seiten, SFr ca. 38.00, ISBN 9783100366108

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