Entweder wir verleugnen uns oder wir kämpfen Mein Weg vom Kongo nach Europa

Sachliteratur

11. Januar 2016

Die Geschichte einer Flucht, die sowohl die persönlichen und unermüdlichen Kämpfe Einzelner als auch den zynischen Kreislauf der europäischen Abschottungspolitik sichtbar macht.

Verkäufer in den Strassen von Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratische Republik Kongo.
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Verkäufer in den Strassen von Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratische Republik Kongo. Foto: IsoldeB (CC BY-SA 4.0 cropped)

11. Januar 2016
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Korrektur
Emmanuel Mbolelas autobiographisches Buch ist in sieben Kapiteln eingeteilt. Es umfasst seine politische Arbeit im Kongo seit den frühen 1990er Jahren, seine Flucht nach Mali bis Marokko und schlussendlich einen kurzen Einblick in sein jetziges Leben in Europa. Gleich zu Beginn des Buches, wenn Mbolela über sein Heimatland schreibt – damals noch unter Diktator Joseph-Desiré Mobutu – wird vielen europäischen Leser_innen womöglich klar, wie wenig sie doch über dieses afrikanische Land und seine Politik wissen, immerhin ist es flächenmässig ja das zweitgrösste Land des Kontinents. Die politischen Entwicklungen, die Rolle der einzelnen Politiker sowie die Zeitenfolge verschwimmen und es lässt sich nur erahnen, was zu der Zeit passiert ist. Die Neugier an der Geschichte des Kongos ist jedoch geweckt.

Schon der Bruder von Mbolela bot in seinem kleinen Laden in Kananga oppositionelle politische Zeitungen an und wurde dadurch Opfer von Repression. Mbolela war damals gerade dabei seine Handelsausbildung abzuschliessen, mit den Einnahmen aus dem Geschäft wollte ihn sein Bruder ins Ausland studieren schicken. Die Plünderung der Soldaten machte diese Pläne jedoch zunichte, doch der Bruder gab nicht so schnell auf: „Die Soldaten konnten das Geschäft plündern, aber nicht unsere Köpfe.“ Er ermutigt Mbolela an der Universität von Mbujimayi Wirtschaft zu studieren. Im Jahr 1994 schloss sich Mbolela dann der UDPS, der Union für Demokratie und sozialen Fortschritt, an und wurde politisch aktiv. Bei einer Grossdemonstration am Uni-Campus 2002 kam es zu Ausschreitungen, das Militär erschoss mehrere Studierende und schlug den Protest nieder. Mbolela sowie viele andere wurden verhaftet. Nur durch die Unterstützung seiner Familie kam er frei, war aber gezwungen ins Exil zu gehen.

Mbolela gelangte nach Kamerun, Nigeria, Benin, Burkina Faso und Mali. Später weiter nach Algerien und schlussendlich landete er in Marokko. Ab diesem Kapitel ist es schwierig mehr als zwei oder drei Seiten des Buches auf einmal zu lesen. Immer wieder erlebte Mbolela auf dem Weg seiner Flucht schreckliche Menschenrechtsverletzungen. Alleine die Vorstellung davon, was hier alles passiert ist, lässt den Atem stocken. Zum Beispiel wenn er darüber schreibt wie die Fahrer auf dem Weg durch die Sahara immer wieder darauf achteten, dass auf jedem Pick-Up auch Frauen mitfuhren. Bei Strassensperren nahm man allen Geld ab, und die Frauen aus der Gruppe wurden fortgeführt und erst einige Zeit später wieder zurückgebracht. Oder wenn Mbolela schildert, wie in einem Krankenhaus in Algier bei schwarzen Migrant_innen anstelle von Ärzt_innen die Polizei auftaucht. Es braucht Zeit, das Gelesene zu verarbeiten, Wut und Trauer zu überwinden und wieder ein paar Zeilen zu lesen.

Das Leben in Algerien ist beschwerlich. Immerhin ist es dort noch möglich, dass Migrant_innen eine Arbeit auf den Baustellen oder andere Gelegenheitsjobs finden. Regelmässig kommt es jedoch zu Razzien und damit verbundenen Rückschiebungen in die Wüste. Es ist kaum möglich, sich als Migrant_in frei in der Stadt zu bewegen.

Der Glaube an ein besseres Leben in Marokko führte Mbolela weiter nach Rabat. Doch dort erwartete ihn eine weitere böse Überraschung: Migrant_innen dürfen hier nicht arbeiten und werden schwer diskriminiert. Es herrschten prekäre Bedingungen in Bezug auf Wohn, Gesund, Bildung und Arbeit, hinzu kam die tägliche Erfahrung von Razzien und Rückschiebungen. Mbolela erinnerte sich an die Worte eines politischen Mitstreiters während seiner Studienzeit: „Wir haben nur zwei Möglichkeiten: entweder wir verleugnen uns oder wir kämpfen.“

Mit diesen Worten im Gedächtnis startete Mbolela 2005 die Vereinigung der kongolesischen Flüchtlingen und Asylbewerber_innen (ARCOM), der er als Präsident vorsteht. Seine politischen Erfahrungen im Kongo halfen ihm dabei. Gemeinsam mit vielen anderen leistete er Unglaubliches - trotz des diskriminierenden und xenophoben Verhaltens der Polizei. Neben einer besseren Vernetzung von Migrant_innen wurden Konferenzen abgehalten, Demonstrationen organisiert und versucht das UNHCR in seine Pflicht zu nehmen. Unzählige E-Mails wurden an Menschenrechtsorganisationen und karitative Vereine verschickt, um auf die Lage in Marokko hinzuweisen. Ebenso wurde ein schulisches Zentrum für die Kinder der Geflüchteten und Migrant_innen aufgebaut.

Ziel war es neben der Bildung auch, die migrantischen Kinder aus der Unsichtbarkeit zu holen. Denn laut Aussage von vielen Schuldirektor_innen hätten diese nicht das Recht, migrantische Kinder einschreiben zu lassen. Unter viel Mühe und Anstrengung konnte tatsächlich ein autonomes Zentrum gegründet werden, mit dem Erfolg, dass am Ende des zweiten Schuljahres ein Vertrag mit dem UNHCR abgeschlossen wurde, indem vereinbart stand, dass das Hochkommissariat die Miete und den Ankauf von Unterrichtsmaterialien in Zukunft übernehmen werde.

Die Mitglieder von ARCOM schafften es, immer mehr Geflüchtete und Migrant_innen mit Wohnraum, regelmässigem Essen und Bildung zu versorgen. Umso schwerer war es für Mbolela das Land dann zu verlassen. Der gemeinsame Kampf bedeutete ihm viel und er wollte niemanden im Stich lassen. Trotzdem konnte er das Angebot des UNHCR nicht ausschlagen, einen von wenigen Plätzen in einem Resettlement-Programm anzunehmen.

Am 1. April 2008 erreichte Mbolela den Flughafen von Amsterdam. Sein erstes Erlebnis war für ihn befremdlich: Eine Mitarbeiterin der IOM, der Internationalen Organisation für Migration, empfing ihn und seine Mitreisenden. Noch zuvor in Marokko kämpfte er gegen die IOM, da deren Mitarbeiter_innen dort Migrant_innen zur „freiwilligen Rückkehr“ zu überreden versuchen. Der Kreislauf der europäischen Abschottungspolitik schien sich zu schliessen.

In Europa angekommen, hörte Mbolela keineswegs damit auf, sich für die Rechte von Migrant_innen einzusetzen. Er lernte neue Menschen und deren Schicksale kennen. Und er erlebte auch am eigenen Leib, dass es auch an seinem neuen Aufenthaltsort in Europa nötig ist, gegen Diskriminierungen, Rassismus und Menschenrechtsverletzungen zu kämpfen. Das Buch von Emmanuel Mbolela ist aufrüttelnd, erschreckend und motivierend zugleich. Um es mit seinen eigenen Worten zu beschreiben: „Vom Kongo über Marokko bis nach Europa – ich wollte und muss aktiv bleiben und weiterhin für eine gerechte und solidarische Gesellschaft kämpfen.“

Claudia Grobner
kritisch-lesen.de

Emmanuel Mbolela: Mein Weg vom Kongo nach Europa. Zwischen Widerstand, Flucht und Exil. Mandelbaum Verlag, Wien 2014, 234 Seiten, ca. SFr 18.00. ISBN 978-3-85476-456-4

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