Clemens Heni: Der Komplex Antisemitismus Eine deutsche Idee

Sachliteratur

15. März 2020

Die Diskussionen über BDS und die Arbeitsdefinition Antisemitismus laufen Gefahr, die Spezifik des Antisemitismus in Deutschland aus dem Blick zu verlieren.

Hannover Mahnwache gegen Antisemitismus nach Anschlag in Halle, Oktober 2019.
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Hannover Mahnwache gegen Antisemitismus nach Anschlag in Halle, Oktober 2019. Foto: Stobaios (CC BY-SA 4.0 cropped)

15. März 2020
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„Mit Blick auf die Karriere und das mentale Wohlbefinden ist es keine sonderlich gute Idee, Antisemitismusforschung zu betreiben. Der Forschungsgegenstand selbst bietet wenig Erfreuliches. Inzwischen ist aber auch das Arbeitsumfeld jener, die den Antisemitismus beforschen, von schonungslosen Auseinandersetzungen gezeichnet“, schreibt Mathias Berek in einem Diskussionsbeitrag für die Jungle World (49/2019). Gegenstand der Kontroverse, die in mehreren Ausgaben der Wochenzeitung geführt wurde, ist die Bewertung der Arbeitsdefinition Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance und die Einschätzung der Kampagne zum Boykott, Desinterventionen und Sanktionen (BDS) gegen Israel. Die Fokussierung der Debatte auf diese beiden Aspekte birgt allerdings die Gefahr, dass die Spezifik des Antisemitismus in Deutschland dabei aus dem Blick gerät.

Am Beginn der Antisemitismusdebatte in der deutschen Linken, die mit dem Zusammenbruch der DDR an Bedeutung gewonnen hatte, drehte sich die Auseinandersetzung nicht primär um das Verhältnis zu Israel, sondern um deutsche Geschichte und Ideologie. Parolen wie „Deutschland denken heisst Auschwitz denken“ kündeten davon. Damals hatte sich Clemens Heni, der in Bremen, Innsbruck, Tübingen und Berlin Philosophie, Geschichte, Politik- und Kulturwissenschaften studierte, bereits an der Debatte beteiligt.

Seit dieser Zeit hat er immer in die Auseinandersetzung um den Antisemitismus interveniert. Dabei sparte er oft nicht mit Polemik und steht damit in einer Reihe mit Kritiker*innen der deutschen Verhältnisse wie Eike Geisel, Wolfgang Pohrt und dem Herausgeber der Monatszeitschrift konkret, Hermann L. Gremliza. Ihm und einer proisraelischen Linken hat Heni auch das in 10 Kapitel gegliederte Buch „Der Komplex Antisemitismus“ gewidmet. Auf 760 Seiten dokumentiert er seine Interventionen in die Antisemitismusdiskussion der letzten 20 Jahre. Es handelt sich um Grundlagenforschung in den Bereichen Ideologiekritik, der Textanalyse und der politischen Kultur Bundesdeutschlands.

Auch für Leser*innen, die Henis Argumenten für eine proisraelische Linke nicht zustimmen, ist das Kompendium mit Gewinn zu lesen. Erinnert er doch daran, dass die Genese der Antisemitismusdiskussion hierzulande in der Kritik an den deutschen Verhältnissen und nicht im Nahen Osten lag. Das könnte man leicht vergessen, wenn man die aktuellen Beiträge zum Antisemitismusdiskurs liest. Da geht es fast nur noch um die Frage, wo Kritik an Israel ins Regressive oder gar ins Antisemitische umschlägt und ob es legitim ist, der von jüdischen Linken gegründeten Organisation Stimme für einen Gerechten Frieden Räume in öffentlich geförderten Einrichtungen zu verweigern, weil sie sich nicht von der BDS-Kampagne distanzieren. Heni geht es in dem Buch dagegen um die Analyse und die Kritik des historischen und des gegenwärtigen deutschen Antisemitismus.

Mit seinem profunden historischen Wissen befasst sich der Autor in den ersten vier Texten mit deutscher Geschichte. Die Studie über den Bund Neudeutschland ist eine historische Fundgrube. Dicht gespickt mit historischen Fakten beschreibt Heni eine Gruppe christlicher Konservativer, die in der Weimarer Republik die Überwindung von Parteienstaat und Liberalismus zugunsten eines hierarchisch aufgebauten Führerstaats propagierten und Adolf Hitler als deutschen Messias feierten. Nach 1945 stilisierten sich die Neudeutschen zu NS-Gegner*innen und gelangten bald in wichtige Positionen der BRD. Zu den bekanntesten Neudeutschen gehörte der langjährige Ministerpräsident von Baden-Württemberg Hans Filbinger, der 1978 zurücktreten musste, nachdem bekannt geworden war, dass er als Militärrichter Todesurteile gegen Deserteure noch nach der bedingungslosen Kapitulation des NS vollstrecken liess. Unter der Überschrift „Natur und Heimat“ seziert Heni die braunen Wurzeln in der Umweltbewegung – ein äusserst aktuelles Thema.

Erinnerung an die Goldhagen-Linke

In einem weiteren Kapitel erinnert Heni ausführlich an die heute fast vergessene Goldhagen-Debatte, die Mitte der 1990er-Jahre nicht nur die Linke sondern auch die Historiker*innenzunft in Deutschland beschäftigte. Mit „Goldhagen hat die Parole Deutschland denken heisst Auschwitz denken ergänzt und präzisiert“ (S. 99), begründet Heni, warum die Debatte für die israelsolidarische Linke in jenen Jahren eine so grosse Bedeutung gewonnen hatte, dass der Terminus Goldhagen-Linke gebraucht wurde.

„Goldhagen hat geschafft, was selbst radikale Linke in der BRD jahrzehntelang nicht geschafft haben: die Vernichter der europäischen Juden als das zu bezeichnen, was sie waren: Deutsche. Nicht bloss SS-ler und von Hitler Verführte“ (S. 100)

Allerdings geht Heni nicht auf die Schwachstellen dieses Ansatzes ein, die mit dazu führten, dass nicht wenige der Goldhagen-Linken 20 Jahre später doch noch den Frieden mit einem Deutschland gemacht haben, das sich als Aufarbeitungsweltmeister gerierte. Goldhagen bescheinigte der BRD einen Prozess der Angleichung an die westliche Zivilisation, die er relativ unkritisch mit der Politik der USA gleichsetzte. So sprach er sich vehement für militärische Angriffe im Namen der Verteidigung der Menschenrechte aus und konnte so zum Stichwortgeber für ein wiedergutgemachtes Deutschland werden, das in der Ära Schröder-Fischer als besondere Form der Vergangenheitsbewältigung Kriege führt, um ein neues Auschwitz zu verhindern. Es ist bedauerlich, dass Heni auf diesen Aspekt nicht eingegangen ist. Schliesslich gehört er nicht zu den Goldhagen-Linken, die ihren Frieden mit Deutschland gemacht haben.

In dem Kapitel „Antisemitismus im EU-Mainstream: Rot ist braun“ setzt er sich kenntnisreich und polemisch mit der aktuellen Totalitarismusvariante auseinander: „Diese ganze strukturelle Gleichsetzung von Holocaust und politischen Verbrechen der Sowjetunion, an die somit nicht als Befreier vom SS-Staat, sondern als Täternation erinnert werden soll, ist seit vielen Jahren, ja seit Jahrzehnten Mainstream in Europa und weltweit“ (S. 548). In mehreren osteuropäischen Ländern geht es längst nicht mehr nur um eine Gleichsetzung von Rot und Braun. In den baltischen Ländern aber auch in Ungarn und Rumänien wird die Rote Armee als Besatzungsarmee betrachtet, während NS-Kollaborateure, die gegen sie kämpften, als Helden gefeiert werden.

Peter Weiss und Kolonialismus

Auch mit einem Säulenheiligen der Linken wie dem Schriftsteller Peter Weiss setzt sich Heni in einem Kapitel kritisch auseinander. Ausgerechnet der Literat, der sich in seinen Werken mit den Nachwirkungen des NS sehr intensiv auseinandersetzte, hat in seinen Notizbüchern zwischen Juli und November 1964 geschrieben:

„Was spielt das für eine Rolle wie die Orte aussehen, überall das Gleiche, das universale KZ, Auschwitz, Dresden, Verdun, Hiroshima, Armeniermord usw., wir leben in einer einzigen Grabkammer, reisst sie nieder, reisst sie endlich nieder, damit wir atmen können.“ (S. 637)

Das scheint nicht weit entfernt vom viel kritisierten Statement des Extinktion-Rebellion-Mitbegründer Roger Hallam, der in einem Interview den Holocaust als eine Episode in der weltweiten Verfolgungsgeschichte bezeichnete. Nun könnte man zur Verteidigung von Peter Weiss anführen, dass er in seinen Notaten flüchtige noch nicht ausformulierte Gedanken veröffentlichte. Doch auch das berühmte Theaterstück von Peter Weiss „Die Ermittlung“, das den Auschwitz-Prozess mit Mitteln des dokumentarischen Theaters thematisiert und 1965 sowohl in der BRD als auch in der DDR aufgeführt wurde, verfällt der Kritik durch Heni. „Juden kommen in dem Stück, das von Auschwitz handelt, nicht vor. Im Stück werden Krupp, Siemens oder Thyssen erwähnt. Diese Ökonomisierung des Holocaust prägt weite Teile der Linken“ (S. 639). Allerdings könnte man Heni hier entgegenhalten, dass diese und andere Konzerne auch im Vernichtungslager Profite machten, die Ökonomisierung der Shoah also real stattfand.

Auch Henis Kritik an manchen postkolonialen Diskursen, in denen der Kolonialismus im Vergleich zum Holocaust als das grössere Verbrechen bezeichnet wird, fehlt gelegentlich die Differenzierung. So berechtigt die Kritik an Positionen von postkolonialen Theoretiker*innen wie Imani Tafari-Ama ist, die in einen Beitrag für die taz geschrieben hat, dass die Verschleppung der schwarzen Menschen aus Afrika ein grösseres Verbrechen als der Holocaust gewesen sei (S. 367), so problematisch ist es, wenn Heni zu Achille Mbembes Schrift „Kritik der Schwarzen Vernunft“ anmerkt: „Diese Kritik an der Moderne kommt über 70 Jahre zu spät, die Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno von 1944/47 hat dieses Verhältnis von Aufklärung, Regression, Nationalsozialismus und Moderne analysiert…“ (S. 362).

Dabei gab es im Anschluss an Adorno und Horkheimer viele Theoretiker*innen, die sich mit den unterschiedlichsten Aspekten des Themas befasst haben. Das ist durchaus im Sinne der Theoretiker der Frankfurter Schule, die die Debatte mit ihrem Buch nicht abschliessen wollten. Die Perspektive aus der Sicht eines afrikanischen Wissenschaftlers, die Mbembe schon im Titel deutlich macht, ist eine Bereicherung. Es wird nicht klar, was Heni an dieser von ihm zitierten Passage von Mbembe problematisch findet. Wenn er schreibt, dass „diejenigen Aspekte des Antisemitismus, die im kolonialen Denken wurzeln… noch immer weitgehend unbekannt“ sind, argumentiert Mbembe differenziert.

Es geht ihm nicht wie manchen postkolonialistischen Theoretiker*innen darum, sich auf ein Ranking nach dem grössten Menschheitsverbrechen einzulassen. So Recht Heni mit seiner Kritik an einer Gleichsetzung von Kolonialismus und der Shoah hat, so bedauerlich ist, dass erkeine Bezüge zwischen der deutschen Kolonialideologie und dem deutschen Antisemitismus sehen will. Dabei wurde von der deutschen Kolonialverwaltung als Antwort auf den Aufstand der Herrero und Nama 1904 die Vernichtung der gesamten Ethnie angeordnet. Einige der an diesem Verbrechen beteiligten Militärs waren später in der SA und SS aktiv. Hier liesse sich diskutieren, ob nicht in beiden Fällen die völlige Entmenschlichung der zum Feind erklärten Personen eine Voraussetzung für die Politik der Vernichtung war.

Hier wie an vielen anderen Stellen bieten das Kompendium von Heni viel Stoff für Diskussionen. Heni schliesst nach der Menge von Wissen und Polemik fast versöhnlich mit einer Hausregel aus seiner schwäbischen Heimat: „Was Besseres gibt's auf Erden nicht, als Frieden und ein gut Gericht“ (S. 663). Im übertragenen Sinne kann man sagen, er hat mit dem Buch ein opulentes Mahl angerichtet, das nicht leicht verdaulich ist.

Peter Nowak
kritisch-lesen.de

Clemens Heni: Der Komplex Antisemitismus. Dumpf und gebildet, christlich, muslimisch, lechts, rinks, postkolonial, romantisch, patriotisch: deutsch. Edition Critic, Berlin 2018. 764 Seiten, ca. SFr. 33.00. ISBN 978-3-946193-21-0

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