Claudia Brunner: Epistemische Gewalt Das System der Gewalt

Sachliteratur

3. Dezember 2020

Gewalt umfasst mehr als rohe körperliche Übergriffe. Auch Wissen ist Macht und kann gewaltsame Folgen haben.

Deutscher Kolonialherr in Togo (ca. 1885), damals deutsche Kolonie, nach dem Ersten Weltkrieg französisches Mandatsgebiet.
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Deutscher Kolonialherr in Togo (ca. 1885), damals deutsche Kolonie, nach dem Ersten Weltkrieg französisches Mandatsgebiet. Foto: Autor unbekannt (PD)

3. Dezember 2020
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Ob in Wissenschaft, Politik oder Popkultur: Wer sich heute mit dem Thema Gewalt auseinandersetzt, ist mit einer Fülle an Theorien, Methoden und Materialien konfrontiert. Die Autorin Claudia Brunner nähert sich dieser in Tiefe und Breite weit fortgeschrittenen Diskussion aus einer Doppelperspektive, nämlich der Konflikt- und Friedensforschung einerseits und den Gender- und Postkolonialen Studien andererseits. In dieser Synthese steckt eine Erweiterung vor allem des ersteren Felds um einen Gewaltbegriff, der ideologische, kulturelle und ideengeschichtliche Traditionen miteinbezieht. Ihr Hauptanliegen ist es, die Zusammenhänge zwischen Gewalt und Wissen zu ergründen: „Was ist epistemische Gewalt und wie wirkt sie?“ (S. 10) fragt sich Brunner in ihrer Abhandlung „Epistemische Gewalt. Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne“.

Auffassung von Gewalt und ihren Folgen

Brunners Thematisierung von „Gewalt“ im Zusammenhang mit „Wissen“ ist sicherlich nicht neu. Bereits seit den 1960er Jahren setzen sich postkoloniale, intersektionelle, queerfeministische und poststrukturalistische Autor*innen mit sprachlichen und diskursiven Gewaltpraktiken auseinander. Hegemoniale Machtstrukturen wurden dabei auf ihre Normen, Erzählweisen, Mythen, Ausschluss- und Widerstandsmechanismen untersucht. Was macht also Brunners Ansatz besonders? Die Qualität liegt weniger in dem Anschluss an die lange machtkritische Tradition in den Geisteswissenschaften, als vielmehr in dem Versuch, deren Erkenntnisse für die internationale Friedens- und Konfliktforschung fruchtbar zu machen.

Zunächst zeigt die Autorin auf, wie bereits die Definition von Gewalt tiefgreifende Auswirkungen auf deren Analyse hat. Die Friedens- und Konfliktforschung geht nach wie vor von einem Gewaltbegriff aus, bei dem Gewalt ausschliesslich physisch verstanden wird. Brunner aber unterscheidet zwei Grundformen von Gewalt: die „enge“ oder „direkte“ Gewalt einerseits und die „weite“ oder „indirekte“ Gewalt andererseits.

Während direkte Gewalt auf einem „auf direkte und physische Verletzung begrenzten Verständnis“ (S. 13) beruht, werden unter „indirekter“ Gewalt Prozesse der Legitimierung/Delegitimierung genannt, die in Formen von Theorien, Klassifizierung, Normierung oder Institutionalisierung auftreten. Epitstemische Gewalt als indirekte Form ist demnach gängigerweise in als „Wissen“ angesehenen Bereichen angesiedelt. Während die Friedens- und Konfliktforschung ihre Begriffsbildung allein auf der direkten Gewalt und damit auf einem „auf direkte und physische Verletzungen begrenzten Verständnis“ (ebd.) gründet, möchte die Autorin diesen „engen“ Gewaltbegriff um ein solches Konzept der „epistemischen Gewalt“ erweitern.

Dies entsteht „im Sinne einer erneuten Problematisierung der Relevanz und Wirkungsweisen von Wissen(schaft) im Kontext globaler Macht-, Herrschafts-, und Gewaltverhältnisse“ (S. 15). Hier weist die Autorin auf die eurozentristische Prämisse der Friedens- und Konfliktforschung hin, da deren enger Gewaltbegriff , wie die Autorin argumentiert, dazu eingesetzt wird, ein spezifisches Narrativ von Moderne zu reproduzieren. Um es mit der Terminologie von Stuart Hall auszudrücken, „The West“ wird so als freie, gewaltlose Moderne konstruiert in Abgrenzung zu einem gewaltvollen, ja „barbarischen“ „The Rest“.

Synthese des Mainstreams

„Post- und dekoloniale Theorien stellen fest, dass wir auch nach dem Abschluss der politischen Dekolonialisierung […] in einem anhaltenden Zustand der Kolonialität leben, und dass diese die konstitutive Unter- oder Kehrseite der Moderne bildet“ (S. 39) so Brunner. Mit Stars der Südamerikanischen Dekolonialität wie Quintero, Quijano Dussel, Mignolo, Grosfoguel sucht Brunner eine neue theoretische Grundlage für die Konflikt- und Friedensforschung zu schaffen.

Mit Quijanos Konzept der „Kolonialität der Macht“ erinnert Brunner an die drei Komponenten der Modernität und deren engen Zusammenhang mit Kolonialität, nämlich: erstens der Kapitalismus als Ausbeutungsmodell, zweitens der Staat als öffentliche Autorität und drittens der Eurozentrismus als einzige legitime Form von Rationalität. Diese Komponenten wurden zunächst im Rahmen der Modernidad/Colonidad-Gruppe erweitert und innerhalb eines äusserst lebendigen Forschungsfeldes massgeblich weiterentwickelt, woran Brunners eigene Diskussion dann auch anschliesst.

Brunner bedient sich Grosfoguels Konzept der Genozide/Epistemizide. Damit beschreibt der Autor, dass die in Südamerika stattgefundenen und teilweise immer noch stattfindenden Genozide immer auch mit Epistemiziden einhergingen, also dem Auslöschen von Wissen und Wissensständen. Grosfoguel entwickelt sein Konzept, um zu erfassen, auf welcher Grundlage, die Europäer*innen ihre Privilegien nachhaltig aufgebaut haben. Dazu gehören die gewaltsame christliche Expansion, die Massaker an Native Americans Nations, die massive Deportierung und Versklavung von Afrikanischen Menschen, die Maskulinisierung und Exklusivität des Wissens mit den Hexenverfolgungen, die Unterwerfung und Transformation der Natur als Darstellung von Macht.

Nach der Klärung und Diskussion grundlegender Konzepte, wie sie in feministischen und postkolonialen Forschungen erarbeitet wurden, kann Brunner sich der spezifischeren Frage zuwenden, wie „epistemische Gewalt“ in den verschiedenen Forschungsdisziplinen behandelt wird. Für die Friedens- und Konfliktforschung konstatiert sie, dass die theoretische Durchdringung dessen, wie sich „epistemische Gewalt“ als soziale Verhältnisse niederschlägt, gegenüber den Gender und Postcolonial Studies weit zurückbleibe. Dennoch kann sie feststellen, dass in fast allen Konzeptionen epistemischer Gewalt folgendes deutlich wird:

„Entweder wird auf die Frage einer Legitimierbarkeit anderer, insbesondere direkter physischer, Gewaltformen durch spezifisches Wissen fokussiert, oder aber es wird darauf abgezielt, hegemoniales Wissen selbst als epistemisch gewaltvoll verstehen zu lernen. Im besten Falle werden beide Ebenen als miteinander notwendigerweise verschränkte verstanden“ (S. 145).

Brunner hat den Anspruch, eine Grundlage zu verschaffen, anhand derer Gewalt in Zusammenhang mit Wissen erfasst werden kann und die eine Basis für interdisziplinäre Forschung bietet. Für wen aber ist diese Arbeit geschrieben? Die Arbeit besteht zu 90% aus einer Synthese von Dekolonialen, Feministischen und Diskursanalytischen Mainstream-Autor*innen, deren Auswahl teilweise willkürlich erscheint. Ihre eigenen Thesen kommen hingegen erst ganz zum Schluss im fünften Kapitel. Wer einen sozial-, kultur- und geisteswissenschaftlichen Hintergrund hat, wird hier keine neuen Erkenntnisse gewinnen.

Wer aber aus der Friedens- und Konfliktforschung kommt, wird eine kanonorientierte Einführung in das Thema epistemische Gewalt wertschätzen. Eine differenzierte Präsentation des Kanons mag aus Sicht von Einsteiger*innen ins Thema ein Plus sein. Zur Weiterentwicklung der Theorie bei der Erforschung ihrer Ausgangsfrage trägt das aber nur bedingt bei. Sieht man genauer darauf, welche Ansätze zu „Gewalt und Wissen“ für Brunner relevant und fruchtbar sind, fällt auf, dass wesentliche Beiträge etwa aus dem deutschsprachigen Raum fehlen.

Dr. Dr. Daniele Daude
kritisch-lesen.de

Claudia Brunner: Epistemische Gewalt. Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne. transcript Verlag, Bielefeld 2020. 336 Seiten, ca. 39.00 SFr. ISBN 978-3-8376-5131-7

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