Carl Weissner: Aufzeichnungen über Aussenseiter Vagabundage

Sachliteratur

2. Mai 2021

Nach dem Zweiten Weltkrieg formierte sich in den USA eine junge Generation, die die gesamten spiessbürgerlichen Werte in Frage stellte.

Carl Weissner (rechts) im Gespräch mit Klaus Servene nach einer seiner extrem seltenen Lesungen, März 2010.
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Carl Weissner (rechts) im Gespräch mit Klaus Servene nach einer seiner extrem seltenen Lesungen, März 2010. Foto: Eule2020 (CC BY-SA 4.0 cropped)

2. Mai 2021
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Zwischen einer klischeehaften Verherrlichung („Lustig ist das Zigeunerleben…“) oder Charly Chaplins Film „Der Tramp“ (1915) bis zur Verachtung („Betteln verboten!“) gibt es eine gesellschaftliche Ambivalenz gegenüber Menschen, die sich nicht den tagtäglichen Normen anpassen. Zwei neue Bücher beschäftigen sich auf unterschiedliche Weise mit dem Thema.

Die US-amerikanische Punk-Ikone Patti Smith sang auf ihrem Album „Easter“ (1978) in dem Song „Rock n Roll Nigger“: „Outside of society, that's where I want to be“. Sich selbst ausserhalb der Gesellschaft zu stellen und für sich Alternativen zu suchen und zu finden ist das Eine, arbeits- und obdachlos zu werden, weil das „soziale Netz“ nicht funktioniert das Andere. Wir reden aber jetzt hier von Menschen die weitestgehend sich bewusst für eine randständige Existenz entschieden haben, was deren Situation natürlich nicht besser macht.

Der Kunde

Der C. W. Leske Verlag beginnt seine neuen Schriftenreihe „Bibliothek der Archive“ mit dem rührigen Fritz-Hüser-Institut in Dortmund, die als Schwerpunkt „Arbeit und Ökonomie in der Literatur“ hat, und in diesem Rahmen eine einzigartige Sammlung von Literatur und Kunst der Vagabundenbewegung. Statt den diskriminierenden Begriffe von Landstreicher, Penner usw. nannten sie sich selber Kunden. Eine gleichnamige Zeitschrift „Der Kunde“ existierte etwa von 1927 bis 1931 und wurde u.a. von einem der Schlüsselfiguren dieser Bewegung herausgegeben: Gregor Gog (1891-1945).

Mit seinen Mitstreiter*innen wie Jo Mihàly, Arthur Streiter und Rudolf Geist und den Künstlern Hans Tombrock und Hans Bönnighausen u.a., versucht Gog die Vagabund*innen zu organisieren, ihnen ein Sprachrohr und etwa durch Kunstausstellungen ihnen eine Würde zu geben. Der grossformatige Band mit seinen zahlreichen Artikeln, Dokumenten und Illustrationen gibt einen umfangreichen Einblick in die damaligen Versuche das – immer schon – schwere Leben auf der Strasse wieder zu geben. Gregor Gog, der „Anarchist der Landstrasse“, gründete 1927 „Die Bruderschaft der Vagabunden“ und organisierte 1929 den ersten internationalen Vagabunden-Kongress in Stuttgart mit 500 Teilnehmer*innen. Die Losung lautete: „Generalstreik ein Leben lang“.

Dem Fritz-Hüser-Institut und seine über Jahrzehnte zusammengetragenen Dokumente und Archivalien ist es zu verdanken, dass heute die Aktivist*innen dieser Vagabunden-Bewegung der Weimarer Zeit nicht in Vergessenheit geraten sind. Und dieses Buch dokumentiert diese Tatsache aufs Beste.

On the Road

Nach dem Zweiten Weltkrieg formierte sich in den USA eine junge Generation, die die gesamten spiessbürgerlichen Werte in Frage stellte. Der Jazz, bzw. der Bebop wurde zum Soundtrack und das Buch von Jack Kerouac „On the Road“ zur „Bibel“ einer Generation, die sich bewusst ausserhalb der Gesellschaft stellte und sich selbst als „Beat-Generation“ verstand. Der Propagandist dieser Bewegung in Deutschland war der Übersetzer, Literaturagent und Schriftsteller Carl Weissner (1940-2012), der die USA und seinen literarischen Untergrund seit Mitte der 1960er Jahre kannte, wie kein Zweiter.

Weissner übersetzte William S. Burroughs, Bob Dylan, Allen Ginsberg, Andy Warhol, Frank Zappa, aber vor allem auch Charles Bukowski, der mit seiner derben Sprache des Underdogs die gesamte Lyrik-, Musik- und Literaturszene in Deutschland durcheinanderwirbelte und eine Welle der Alternativ-Kultur (mit-)initiierte. Der jetzt vorliegende Sammelband mit Essays und Reportagen von Weissner ist eine Fundgrube aus den Anfängen der Hippie- und 68er-Bewegung.

Die Annahme, die Linke sei anti-amerikanisch eingestellt, ist absurd, kommt doch das gesamte Rüstzeug des (west-)deutschen Widerstandes jener Jahre aus den USA. Sei es nun Musik, Filme, Literatur, die Kommune-Bewegung oder eben das Umherschweifen – das alles ist auch Teil unserer Biographien geworden. Das politische Amerika der Herrschenden wurde und wird bis heute verachtet – zu Recht. Carl Weissners „Aufzeichnungen über Aussenseiter“ dokumentiert nicht nur seine Übersetzertätigkeit, auf die er oft beschränkt wird, sondern bringt uns auch den Literaten und Kenner näher, der bis zum Ende seines Lebens unermüdlich arbeitete. für mich als Fan der Beat-Literatur ist dieser Sammelband eine unabkömmliche und erhellende Lektüre gewesen, die auch ein Stück weit Literaturgeschichte geworden ist.

Ein widerspenstiges Leben äussert sich in unterschiedlichen Formen. Es ist nicht nur der Protest auf der Strasse, der politische Zirkel an der Uni oder das Schreiben von Pamphleten. Es ist auch das Vagabundieren, die Verweigerung von fester Arbeit usw. Eigentümlicher Weise bringt der „neue“ Anarchismus in den USA eine individualistische Strömung hervor, bei der einer ihrer Vertreter sich deutsch Wolfi Landstreicher nennt (aber das wäre jetzt ein anderes Kapitel). In diesem „bewegungslosen“ Sommer 2020 waren diese beiden Bücher genau das richtige.

Jochen Knoblauch
graswurzel.net

Carl Weissner: Aufzeichnungen über Aussenseiter. Essays und Reportagen. Herausgegeben von Matthias Penzel. Verlag Andreas Reiffer 2020. 243 Seiten, ca. 21.00 SFr, ISBN 978-3-945715-67-3

Hanneliese Palm und Christoph Strecker (Hg.): Künstler, Kunden, Vagabunden. Texte, Bilder und Dokumente der zwanziger Jahre. Reihe: Bibliothek der Archive, Band 1: Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, Dortmund. C. W. Leske Verlag Düsseldorf 2020. 240 Seiten, ca. 21.00 SFr, ISBN 978-3-946595-08-3