Barbara Bachmann / Franziska Gilli: Hure oder Heilige Frauen zwischen Vatikan, Berlusconi-TV und Covid-19

Sachliteratur

28. April 2021

Das Rollenbild der Frau in Italien könnte nicht gegensätzlicher und widersprüchlicher sein: Hure oder Heilige.

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(c) Franziska Gilli Foto: zVg

28. April 2021
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Wie gehen Frauen damit um? Wie sollen Jugendliche sich hier einordnen? Regt sich Widerstand? Solche Fragen motivierten die Reporterin Barbara Bachmann und die Fotografin Franziska Gilli dazu, sich für ihr bei Edition Raetia erschienenes Buch „Hure oder Heilige“ auf Spurensuche zu begeben. Sie gewähren ausgewählte Einblicke in je-nes Land, in dem alle drei Tage eine Frau von einem Mann ermordet wird. Sie zeigen aber auch die Vielfalt des gelebten Frauseins und entdecken einen neu aufkommenden Feminismus.

Nicht dass Italien keine Feministinnen hätte, aber nach dreijähriger Recherche müssen die Autorinnen feststellen, dass immer noch vor allem die Macht des Fernsehens und des Vati-kans für das Frauenbild prägend sind. Immer noch tanzen leicht bekleidete Frauen lasziv durchs Hauptabendprogramm, immer noch tradieren Frauen selbst ein konservativ-christliches Rollenverständnis, sexistische Stereotype erscheinen festgefahren. Dies führt dazu, dass junge Frauen den im Fernsehen gezeigten Showgirls nacheifern, wie eine ergrei-fende Reportage über die immer wieder mit Magersucht kämpfende Francesca im Buch zeigt.

Die Autorinnen hatten auch die einmalige Gelegenheit, hinter die Kulissen der Nach-richten-Satire-Show „Striscia la notizia“ zu blicken: Ausgestrahlt im TV-Sender des ehemali-gen Ministerpräsidenten und Medienmoguls Silvio Berlusconi formen die sogenannten Ve-line das Frauenbild mit: Leicht bekleidet sind sie nur Staffage ohne tragende inhaltliche Funktion. Doch eben dieses Frauenbild wird seit mehr als 30 Jahren an sechs Abenden die Woche ausgestrahlt und erreicht im Schnitt je Folge 4,5 Millionen Menschen − nicht ohne Auswirkungen.

Ein weiterer Beitrag im Buch widmet sich den Frauenmorden. Im Januar 2020 wurden in einer Woche, also an 7 Tagen, 7 Frauen tot aufgefunden. Man hat sie vergewaltigt, zu Tode getreten und geprügelt, erwürgt, erstochen oder erschossen. Gemeinsam war allen eine Tatsache: Die Frauen kannten ihre Mörder. Rund 85 Prozent der Gewaltverbrechen finden in Italien zu Hause statt, hinter verschlossenen Türen, verübt von Ehemännern, Lebensgefähr-ten, Ex-Partnern. Auch wenn der Süden als besonders konservativ gilt, ist geschlechtsspezifi-sche Gewalt in Italien ein gesamtstaatliches Problem, in Mailand genauso wie in Palermo.

Aktuell und kein rein italienisches Phänomen: Auch in aufgeschlossenen und auf Gleichbe-rechtigung bedachten Partnerschaften und Familien hat die Covid-19-Pandemie die hart er-kämpfte Rollen- und Lastenverteilung wieder zu Ungunsten der Frauen verschoben. Sie sind es, die fast selbstverständlich für die Kinderbetreuung und das Homeschooling zuständig sind.

Ganz nahe an den Protagonisten ist hier die Fotoreportage „Gleiche Rechte, gleiche Pflichten“, die eine Familie nahe Turin in der Zeit kurz nach dem Lockdown im Frühjahr 2020 begleitet. „Vor Kurzem übernahm ich einmal einen Vormittag lang die Hausaufgabenbe-treuung unserer Töchter. Gleichzeitig bekam ich laufend Anfragen von Kunden und versuch-te, nebenher ein wenig zu arbeiten. Es war grässlich“, so das Fazit der als selbstständige PR-Agentin arbeitenden Marianna.

„Hure oder Heilige“ versammelt eine Vielzahl an Frauenporträts, eingefangenen Stimmen von Männern über Frauen, Beispiele aus Werbe-Sujets und Zitaten von italienischen Persön-lichkeiten der vergangenen 100 Jahr und weitere Reportagen wie etwa über ein Nonnenklos-ter oder die feministische Bewegung „Non una di meno“.

pt

Barbara Bachmann / Franziska Gilli: Hure oder Heilige. Edition Raetia, Bozen 2021. 224 Seiten. ca. 27.00 SFr. ISBN: 978-88-7283-731-3