TerrorZones: Gewalt und Gegenwehr in Lateinamerika Die dunklen Seiten des Menschseins

Sachliteratur

23. Mai 2016

Das Buch spürt der Grausamkeit, dem Sadismus, dem Terror von Menschen an anderen Menschen einerseits und dem Schmerz und der Verzweiflung der zurückbleibenden Angehörigen andererseits nach.

Protestaktion in Mexiko gegen den Feminicid in Ciudad Juárez.
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Protestaktion in Mexiko gegen den Feminicid in Ciudad Juárez. Foto: Carlos Adampol Galindo (CC BY-SA 2.0 cropped)

23. Mai 2016
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„TerrorZones“ beleuchtet das mexikanische Leben in Terrorgefahr. Gezeigt werden verschiedene Gesichter des Terrors: Feminicid (Mord an Frauen) in Ciudad Juárez, Mord an jungen indigenen Männern und TransitmigrantInnen, die Grausamkeiten von Jugendbanden. Der Untertitel des Buches mit Bezug auf das gesamte Lateinamerika ist allerdings irreführend. Denn es geht ausschliesslich um die Bewertungen kolumbianischer, salvadorianischer und guatemaltekischer AutorInnen zu Mexiko (Zentralamerika). Das Buch folgt den im Jahr 2014 erschienenen Band „NarcoZones“, der sich insbesondere mit der Rolle der Kartelle in Kolumbien und der medialen Inszenierung des Drogenkriegs auseinandersetzte.

Im neuen Band kommen FreundInnen ermordeter Menschen ebenso zu Worte wie Angehörige, Verletzte, JournalistInnen, JuristInnen und PolitologInnen. Der Sammelband enthält Sachartikel und Reportagen, die den mörderischen Atem der Szenerie spüren lassen. Politökonomische Ursachen des Terrors in Mexiko bleiben allerdings ausgeblendet. Das Bemerkenswerte am Buch „TerrorZones“ sind die detaillierten Schildungen von Abwehrformen, traditionellen und neuen Erinnerungskulturen, der autonome Forensik und – mitunter – stummen Protesten von ProtagonistInnen zur Durchsetzung der menschlichen Würde trotz Morddrohungen.

Die Verschwundenen von Ayotzinapa

Den Ausschlag für die Veröffentlichung gab das „Verschwinden“ von 43 Lehramtsstudenten und der Mord an sechs Studierenden aus der Landwirtschaftsschule für indigene Studierende in Ayotzinapa. Berührend beschrieben ist die physische Verlassenheit des Lehramtsstudenten Bernado aus Ayotzinapa: Intensiv erleben die LeserInnen Bernado im leeren Schlafsaal und seine trotzige Hoffnung auf die Rückkehr der „verschwundenen“ Freunde.

Was veranlasste die Polizei des Bundesstaates Guerrero zur Entführung junger Studierender aus der winzigen Gemeinde und ihre Übergabe an die Drogenmafia? Fast zwei Drittel der BewohnerInnen konnten in den 1960er Jahren dort weder lesen noch schreiben. Deshalb wurde in Ayotzinapa die Lehrerschule eingerichtet. Gleichzeitig waren die Menschen in Guerrero mit grösseren Übeln wie sozialer Ungerechtigkeit, Macht der Kaziken, der Korruption der Lokalregierung, der Repression, der Straflosigkeit der Polizeigewalt und dem wachsenden Einfluss des Drogenhandels konfrontiert. Da Menschen durch Bildung politisiert werden, wird der LehrerInnenberuf zum Hochrisikoberuf. Gerade in Ayotzinapa kämpften immer wieder Volksbewegungen gegen das Unrecht eines unzureichenden Bildungszugangs. Im Vorfeld der zwei beschriebenen Gewaltakte gab es nachweisbare Kontakte zwischen Guerilla und LehrerInnen. Deshalb wurde die Gewalt systematisch von Massakern durch die Armee und Paramilitärs angeheizt und begleitet.

Ein Beitrag unterstreicht die Bedeutung des mobilen Internets. Über Twitter konnten sich in höchster Geschwindigkeit die Informationen zu Ayotzinapa über den Hashtag #YaMeCanse – #IchBinEsLeid in Mexiko und der ganze Welt ausbreiten. Die Informationen mündeten zeitnah in digitalen Protesten, Massendemonstrationen in Mexiko und die Berichterstattung in internationalen Nachrichten.

Zu den Lehren des kolumbianischen Paramilitarismus bezüglich Mexiko gehören: Paramilitärs sind Teile von Drogenbanden, die vom Staat beziehungsweise von zur Regierung strebenden Parteien rekrutiert werden oder desertierte Soldateneinheiten, die von transnationalen Konzernen eingesetzt werden. Doch selbst die autodefensas als Selbstverteidigungskräfte von BürgerInnen nehmen paramilitärische Züge an. Als Paramilitärs haben autodefensas mitunter direkte oder indirekte Verbindungen zu Staat, Polizei, Justiz und Mafia oder werden direkt kolumbianisch beeinflusst, wie Alke Jenss erklärt.

Die Kooperation zwischen Polizei (Staat) und Drogenmafia beim Verschwinden der 43 Lehramtsstudenten steht aber ausser Zweifel. Ein Junge rief per Handy kurz vor der „Übergabe“ einen Schulfreund an und schilderte die Entwicklungen. Wolf-Dieter Vogel untersucht die aus der Selbstverteidigung entstandenen der – oft indigenen –Bürgermilizen, die gegen Morde und Entführungen durch die Drogenkartelle zusammen fanden in ihren inneren Strukturen und hinsichtlich ihrer Ziele. Autodefensas werden auch mit Revolutionären verglichen.

Autonome Forensik

Vorgestellt wird die Autonome Forensik aus Argentinien, die vertrauensvoll mit Hinterbliebenen zusammenarbeitet. Sie begleiten Angehörige mit subtilen Methoden bei der Suche nach Massengräbern, um das Finden ihrer „Verschwundenen“ zu beschleunigen. Wichtig sind ihre Grundsätze bei der Identifizierung von Resten ermordeter Menschen. Für sie ist unerheblich, was die Menschen zu ihren Lebzeiten getan haben. Es geht um die Achtung der Trauer der Angehörigen und nicht um die Bewertung der Toten aufgrund ihrer Taten im Leben.

Trotz extremer Gewalt in Kolumbien und Mexiko durch Paramilitärs und Drogenmafia und El Salvador, unter anderem auch durch die Mara Salva Trucha (Jugendbanden) entstehen solidarische Trauer-Phänomene aus der Religiosität, den Litaneien der Anklage der Wehrlosigkeit, den beharrlichen Beistand für die Toten, trotz Todesdrohungen gegen die Beteiligten selbst oder auch angesichts der Gefahr ihrer Ermordung beginnen Menschen mit der Bergung und Beerdigung von Leichen. Ein Dorfarzt begann beispielsweise, die im Rio Magdalena angespülten Leichen zu sezieren, einige Reste ihrer Knochen zu nummerieren und einzufrieren, ihre Besonderheiten in einem Kataster zu sammeln und die unbekannten Leichen auf dem dörflichen Friedhof zu bestatten. Denn jeder Knochenrest Skelettteil birgt die Chance einer späteren Identifizierung. Es wird erzählt, wie die AnwohnerInnen trotz Mordandrohungen die Gräber dieser namenlosen Toten für sich entdecken, persönliche Patenschaften über sie übernehmen, ihre Gräber schmücken, mit ihnen sprechen und singen, und auch ihre Kinder in diese „Adoption“ beziehungsweise Aneignung der fremden Toten einbeziehen.

Nana Heidhuess nimmt in ihrem politischen Grundsatzartikel wichtige Fragen des Erinnerns, des Widerstehens und des Versöhnens am Beispiel von Menschen in Kolumbien auf, die Angehörige verloren haben. Dies gestaltet sich für die Personen oft besonders schmerzvoll, da sie an Orten leben, an denen Opfer und TäterIn mitunter aus einer Familie stammen. Sie arbeitet den Charakter der kolumbianischen Übergangsjustiz unter dem Präsidenten Juan Manuel Santos heraus, der die Friedensverhandlungen im November 2012 mit der FARC-Guerilla begann. Öffentlichen Diskussionen kreisen um materielle und symbolische Wiedergutmachung und die Bedeutung öffentlichen Erinnerns an die mindestens 220.000 Toten, die 45.200 gewaltsam Verschwundenen, und die Hilfen für mindestens 6 Millionen Vertriebenen im eigenen Land.

Selbstbezeichnete victimas (Angehörige der Toten) werden mit dem Opfergesetz von offizieller Seite provoziert, da dies festlegt, wer als Opfer anerkannt wird – und wer nicht. Die „vielfach nachgewiesene Verantwortung von Polizei und Armee für Morde und aussergerichtliche Hinrichtungen und die engen Verbindungen ehemaliger Regierungspolitiker zu den Paramilitärs haben ein tiefes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen hinterlassen“. (S. 88) Für die Angehörigen, die sich gegen Landraub oder Grossprojekte wehrten (Kleinbauern, indigene Gemeinden, soziale AktivistInnen), bedeutete memoria über viele Jahre hinweg nur eines: Widerstand und Opposition gegenüber dem Staat.

Aus diesem Grunde sind neben den Formen des staatlichen Gedenkens auch immer wieder spezifische Formen der Wiederannäherung an die Verstorbenen (zum Beispiel Grabplatteninschriften für Ermordete und am Kummer Gestorbene, Pilgermärsche, Bootsprozessionen mit riesigen Portraits den Río Cuca herunter) zu finden. Im Beitrag wird auch danach gefragt, inwiefern sich Opferangehörige mit Mahnmalen identifizieren können oder sollen, etwa wenn diese von damaligen Tätern gestiftet wurden – oder wie sich eine Pastora, die selbst zwei erwachsene Kinder verlor, um Versöhnung in Trujillo (San Carlos) bemüht, da Opfer- und Täter-Zugehörigkeiten mitten durch die Familien und den Ort verliefen. Thematisiert wird auch das Recht auf Nichtverzeihen.

Ein Beitrag untersucht, wie sich Menschen ihren toten Angehörigen nähern können, von denen keinerlei menschliche Reste verblieben. Erzählt wird von einem „Suppenkoch“, der erklärte, dass er an zwei Orten Leichen in Säure auflöste. Das führte, so die Reporterin Marcela Turati , zur völligen Verzweiflung der Familienangehörigen, welche auf die Überreste ihrer Angehörigen hofften. Ihr Versuch, irgendwie mit der Tatsache umzugehen, dass von ihren Angehörigen keine physischen Spuren mehr zu finden waren, führte zu einer ungewöhnlichen Bewältigungsarbeit: Die Trauernden schrieben an den Stätten der Säurebottiche ihre Fragen an die Wände, verwandelten diesen Ort des Grauens zu einem künstlerischen Ort des Erinnerns, der symbolisch alle dort Ermordeten repräsentieren sollte.

Aufarbeiten und Erinnern

Eindrücklich erinnere ich mich an Marcela Turatis Artikel. „Der Horror kommt erst beim Schreiben“. Nach ihrer eigenen psychischen Verfassung bei ihrer Recherche befragt, schreibt sie, dass es ihr letztlich wie all denjenigen gehe, die grausame Menschenrechtsverletzungen akribisch recherchieren und selbst Morddrohungen erhalten: Sie spüre Anfälle anhaltender Traurigkeit, Wut, Allein-Sein-Wollen, Nicht-Rausgehen-Wollen, Paranoia, Angst- und Panikzustände, und auch Bauch- und Schulterschmerzattacken, die sie an eine für sie bedrohliche Situation bei einem Interview mit Tätern erinnern.

Bemerkenswert konstatiert eine kolumbianische Reporterin, dass man auch auf die Lücken in der Erzählung hören muss. Ginna Morelo legt ihr Vorgehen bei Interviews mit Hinterbliebenen offen und weist auf langfristige Prozesse mit eigener harter Recherche hin. Dieser Journalismus der Erinnerungsarbeit fordere die eigene Emotionalität, Sinnlichkeit und das Mitempfinden extrem heraus, damit die Angehörigen das Gefühl der gleichen Augenhöhe haben. Sie spricht von wiederholten Begegnungen mit Angehörigen, die der Ermordung von Frauen und Kindern zusehen mussten, und der Zeit, die sie ihnen zum Erzählen und Erinnern lässt.

Liebevoll erzählt sie von ihrer besonderen Beziehung zu ihrem Gesprächspartner Gildardo, der 13 Angehörige verlor, die Toten abholte und bestattete. Er wurde ihr Mentor in der Betrachtung der Dinge. Nachdem sie schliesslich von seiner Ermordung erfuhr, fühlt sie sich wie gelähmt und konnte nur schwer wieder zurück in ihre Arbeit finden. Sie setzte Gildardo wegen seiner unbedingten Hoffnung, Geradlinigkeit und Menschenwürde im Artikel ein Denkmal. Nach ihrem Rückzug rappelte sie sich wieder auf. Was treibt sie an? Wohl eine trotzige, widerborstige Mischung – nicht aufgeben zu wollen, um den Angehörigen und den Opfern zu ihrem Recht zu verhelfen und um wohlmeinenden Aufforderungen zum Selbstschutz und dem Ende der Recherchen nicht nachzugeben.

Der El Salvadorianer Óscar Martínez interviewt Täter. Sein Credo ist: „Es macht nicht viel Sinn, ein Weinen zu beschreiben, wenn damit kein Ziel verbunden ist“. (S.136) Er beschreibt Beispiele der Kontaktnahme mit Tätern und die eigene Gefahr, in der er dabei selbst schwebt. Er erklärt, warum er über Täter und ihre Taten schreibt, und erläutert seine Prinzipien (Ehrlichkeit, Respekt, Realismus) und der unbedingte Wille, die Informationen exakt zu recherchieren und sie einer möglichst grossen Leserschaft zugänglich zu machen. Seiner Auffassung nach lernen andere Menschen aus dem Verhalten der Täter.

Entlarvt wird das „Bäckerei -Wunder“ in Acajutla, dem Waffenstillstand zwischen El Salvador's Jugendbanden. Es wird erkannt, dass die Gesetze der Mara Salva Trucha weiterhin gelten. Faktenreich wird ausserdem die Tödlichkeit des Transits durch Mexiko erörtert. Mit bisher 120.000 Ermordeten und Verschwundenen wurde Mexiko zum Massengrab für TransitmigrantInnen aus Zentralamerika. Beschrieben werden repressive Migrationspolitik, korrupte Beamte und kriminelle Banden als Verantwortliche des Terrors gegen MigrantInnen auf ihrem Weg in die USA. Der Text macht auf Mütterkarawanen auf der Suche nach den Verschwundenen aufmerksam, die tausende Kilometer durch Mexiko laufen und in Gefängnissen sitzenden MigrantInnen helfen.

Am Beispiel einer autonomen Gefängnisverwaltung durch einen noch nicht verurteilten Gewalttäter werden exemplarisch die Zustände in mexikanischen Knästen dargelegt. Das lässt Kräfteverhältnisse im Land erahnen, die Korruption, die Schwäche, die Mitverantwortung der Politik und der Institutionen und die Machtverhältnisse zwischen gewaltsamen Gruppen. Weitere Artikel diskutieren Chancen zur Gewalteindämmung in Mexiko, beispielsweise durch internationalen Druck auf Politik und Justiz oder die Kontrolle oder Abschaffung der Rüstungsexporte, wie etwa von Heckler und Koch.

Das Buch wird unbedingt zum Lesen empfohlen, denn es gibt Aufschluss über die aktuellen Geschehnisse in Mexiko und macht auf den Umgang und die Aufdeckung unterschiedlicher Formen von Terror in anderen Staaten Südamerikas aufmerksam. Es zeigt, was passiert, wenn staatliche Hoheit von den Interessen von Drogenmafia und transnationalen Konzernen unterlaufen wird und erörtert die erheblichen Folgen für die Hinterbliebenen, von denen viele sich nicht mit dem Schweigen über die Opfer abfinden wollen, und deshalb widerständig – bei Todesbedrohung für ihr eigenes Leben – ihre eigenen Toten und fremde Tote ehrwürdig bestatten und sie nicht allein lassen.

Ena Bonar
kritisch-lesen.de

Anne Huffschmid, Wolf-Dieter Vogel, Nana Heidhues, Michael Krämer (Hg.): TerrorZones. Gewalt und Gegenwehr in Lateinamerika. Assoziation A, Berlin/Hamburg 2015. 251 Seiten, ca. 24.00 SFr ISBN: 978-3-86241-447-5

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