Abdullah Öcalan: Manifest der demokratischen Zivilisation. Bd. II Der gefährliche Öcalan

Sachliteratur

30. Mai 2019

Aus dem Hauptwerk des inhaftierten Spritus Rector der kurdischen Freiheitsbewegung lassen sich wichtige Lehren für die linken Kämpfe von heute ziehen – weltweit.

Newroz-Fest in Nord-West-Kurdistan, März 2017.
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Newroz-Fest in Nord-West-Kurdistan, März 2017. Foto: Ekinklik (CC BY-SA 3.0 cropped)

30. Mai 2019
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Korrektur
Abdullah Öcalans „Manifest der demokratischen Zivilisation“ umfasst insgesamt fünf Teile. Teil zwei ist nun erschienen. Allerdings nicht mehr im kleinen Mezopotamien-Verlag, wie noch der erste Band, sondern bei Unrast. Bei ersterem wäre die Veröffentlichung nicht mehr möglich gewesen: Der Mezopotamien Verlag wurde am 12. Februar 2019 zusammen mit der Musikgesellschaft MIR Multimedia per Anordnung von Innenminister Horst Seehofer als „Teilorganisation der 1993 in Deutschland verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK)“ geschlossen und verboten.

Tausende Bücher waren schon im Jahr zuvor beschlagnahmt worden. Nicht nur Bücher von Öcalan, sondern auch von Noam Chomsky, sowie kurdische Kinder- und Sprachbücher. Es war ein massiver Einschnitt in die Freiheit des geschrieben Wortes, der bundesweit nur für wenig Aufregung sorgte - genauso wie das jüngst erfolgte Verbot. Die Terror-Keule wirkt noch immer. Die Schriftstellerin Mely Kiyak schrieb im Anschluss an die erste Durchsuchung in ihrer Theaterkolumne: „Adolf Hitler darf man lesen. Aber Öcalans Theorien zur demokratischen Konföderation nicht“ (Kiyak 2018).

Schreiben unter widrigsten Bedingungen

Doch nun geht es weiter – dank Unrast und der internationalen Initiative „Freiheit für Abdullah Öcalan“, die die Übersetzung seiner Werke organisiert. 2017 erschien der erste Band „Zivilisation und Wahrheit“ – von mir als „der andere Öcalan“ rezensiert [Schamberger 2018] – , nun also der zweite, von Reimar Heider übersetzt. Geschrieben hat Öcalan sein Opus Magnum bereits vor mehr als zehn Jahren zwischen 2008 und 2010. Über 2000 Seiten füllte der seit 1999 in Isolationshaft sitzende Gründer der kurdischen Freiheitsbewegung in diesen Jahren. Ohne Computer, ohne Internet, ohne dauerhaften Zugang zu Büchern. Oft gezwungen, aus dem Kopf zu zitieren. Es ist erstaunlich, dass Öcalan trotz dieser erschwerten Bedingungen ein Werk auf einem theoretisch solch anspruchsvollem Niveau geschaffen hat. Ein Werk, das immer wieder auf aktuelle Diskussionen in der weltweiten Linken Bezug nimmt.

Im vorliegenden Buch wird insbesondere in den letzten Kapiteln der nahöstliche Blick des Theoretikers deutlich. Öcalan schaue weniger auf unüberbrückbare Antagonismen, sondern pflege ein „nicht-dualistisches Denken“ (S. 21), hebt die Autorin des Vorworts, Radha D'Souza, hervor. Es sei eine „Philosophie der Vielseitigkeit“ (ebd.), die ihm manche Marxist_innen als Abkehr von der streng dialektischen Methode vorwerfen könnten.

Was lässt die Feder seines geschriebenen Wortes aber nun so gefährlich werden, dass sie abgeschnitten werden muss? Wer erwartet, im zweiten Band des Manifests eine Auseinandersetzung mit der PKK, einen Aufruf zum bewaffneten Kampf oder auch nur das Wort „Kurdistan“ zu finden, der wird vergeblich suchen. Wie ein roter Faden zieht sich stattdessen eine generelle Staats- und Kapitalismuskritik durch das Buch, die auch auf den Westen anwendbar ist.

Aber solche Ideen und Positionen sind gefährlich. Vor allem dann, wenn sie, frei nach Marx, zur materiellen Gewalt werden und die Massen ergreifen. Wie in Rojava, wo derzeit der sogenannte Islamische Staat als territoriale Entität in seinen letzten Zügen liegt und Kämpferinnen der Frauenverteidigungseinheiten mit Öcalan-Fahnen in der Hand am 8. März das von ihnen erkämpfte Ende des Kalifats feiern. Öcalans glaubt an die Möglichkeit der Veränderung: „Die Gesellschaft kann ändern, was sie selbst konstruiert hat, und neue Konstruktionen verwirklichen. (…) Gesellschaftliche Wirklichkeiten sind konstruierte Wirklichkeiten und weder natürlich noch gottgegeben“ (S. 334). In Rojava wird deutlich, dass dies unter schwersten Bedingungen gelingen kann. Auch das ist gefährlich für diejenigen, die den Status Quo der gesellschaftlichen Machtverteilung erhalten wollen.

Staat, Macht und Kapital

Das Zusammenspiel von (National-)Staat, Macht und Kapitalismus ist das Hauptanliegen des Bandes. Öcalan appelliert, den „Staat in Zusammenhang mit Macht zu definieren“ (S. 225), der dafür da sei, das von der Gesellschaft produzierte Mehrprodukt zu „entwenden“ (S. 227). Seine Kritik ist dabei historisch angelegt, hergeleitet im Sinne Braudels „longue durée“. Er nutzt die Darstellung historischer Prozesse, um daraus den modernen Nationalstaat und den damit zusammenhängenden Kapitalismus zu analysieren. Eine kritische Untersuchung des Nationalstaats ist ein Ansatzpunkt, der für viele deutsche Linke in der theoretischen Diskussion eher unterbeleuchtet ist und mehr Aufmerksamkeit verdient hätte.

Für Öcalan stellt der Nationalstaat „die Einheit der Machtinstrumente“ (S. 225) dar, die sich im Kapitalismus herausgebildet habe: „Der Staat (…) organisiert sich über der Gesellschaft mit Instrumenten von Ideologie bis Zwang als Institution des Überbaus und macht sich zum Monopol“ (S. 227). Nationalismus sei ein automatisches Produkt des Nationalstaates und wirke als Religion der Moderne. In letzter Konsequenz führe die nationalstaatliche Idee zu Faschismus, weil die Grundlagen dafür schon in jeglicher Form des Nationalstaats angelegt seien, so seine Schlussfolgerung. Für ihn sind Vorkommnisse wie das Verbot des Mezopotamien-Buchverlags deshalb „normale“ Verhaltensweisen des Nationalstaats an sich, dessen Aufgabe eben darin bestehe, Macht auszuüben. Eine Macht, die sich bis in alle Poren der Gesellschaft, bis zum letzten Individuum ausbreite.

Dem Staat stellt Öcalan dabei die Begriffe der „Gesellschaft“ und der „Demokratie“ als „ein völlig anderes System“, als „eine nicht-staatliche Regierungsform“ (S. 230) gegenüber. Die Bedeutung von Demokratie als Gegenstück zum Staat bleibt jedoch im Verlaufe des Buches recht undeutlich und wird zu wenig konkretisiert. Öcalan kritisiert (zu Recht) das der Marx-Exegese entnommene Konzept der „Diktatur des Proletariats“, weil dieses nur auf die Erlangung von Macht und nicht auf die Demokratisierung der beteiligten Individuen gerichtet sei.

Doch: auch in demokratisch organisierten Gesellschaften kommt es zur Ansammlung von (zumindest informeller) Macht. Wie wird diese kontrolliert? Wie werden monopolistische Kapitaleigner freiwillig davon überzeugt, dass ihre Konzentration des Eigentums nicht der Gesamtheit dient? Nur durch Bildung und eigene Einsicht in die Notwendigkeit? Das mag auf Gesellschaften zutreffen, in denen der Kapitalismus noch nicht so tief Fuss gefasst hat, in denen es keine monopolisierte Industrie gibt, wie dies in Teilen des Nahen und Mittleren Ostens der Fall ist (besonders in Nordsyrien/Rojava). Wie sieht es mit den Zentren aus, also zum Beispiel in Europa? Dies wären mögliche Diskussionspunkte einer Linken in Deutschland, die nicht nur solidarisch sein, sondern auch lernend und lehrend gemeinsam weiterkommen will.

Ansatzpunkte für linke Kämpfe

Es geht Öcalan in seinem Werk um die Wiederentdeckung und -aneignung der eigenen Geschichte. Der Theoretiker zieht bei seiner Analyse viele westliche Denker_innen zu Rate: Braudel, Bookchin, Marx, Weber, Adorno, Gramsci, Nietzsche und Foucault, um nur eine Auswahl zu nennen. Insbesondere die unterschiedlichen Marx-Rezeptionen bekommen ihr Fett weg: Ökonomismus und die Fixiertheit auf Staat und Macht an sich seien die Grundfehler des Marxismus, auch wenn Öcalan zugibt, Marx „nicht intensiv studiert“ (S. 214) zu haben.

Für Öcalan ist die Triebkraft der Geschichte nicht ausschliesslich und primär der Klassenkampf. Heute begreifen die kurdische Freiheitsbewegung und ihre Vordenker_innen „Geschichte als Geschichte der Konflikte zwischen der staatlichen, urbanen, patriarchalen Zivilisation und den kommunalen Widerständen dagegen“, wie Öcalan-Übersetzer Reimar Heider in einem Beitrag zur „Bedeutung von Marx im kurdischen Befreiungskampf“ (2018) schreibt.

Im ganzen Buch finden sich weitere Ansätze, die für aktuelle Diskussionen in der westlichen Linken hochaktuell sind. Etwa, wenn Öcalan über den „Gegenwert der Arbeit“ schreibt, „die eine Mutter aufbringt, bis sie den Proletarier, den sie neun Monate lang in ihrem Leib getragen hat, unter Tausend Mühen zu einer Arbeitskraft macht“ (S. 87), Stichwort: Care-Revolution und die gesellschaftliche Bedeutung unentlohnter Hausarbeit. Oder wenn es um die Kritik an der Konsumgesellschaft geht und „die fast schon kultische Verehrung von Gegenständen (…) als moderne Götzenanbetung“ (S. 243).

Auch den Standortnationalismus der deutschen Sozialdemokratie im Bündnis mit „ihrem“ Nationalstaat spricht er an, wenn er von einer „Absorption durch den Nationalstaat“ (S. 282/283) spricht. Beeindruckend ist, wie sich bei ihm bereits vor zehn Jahren die Debatte um die Rolle des Nationalstaats im Zeitalter des globalisierten Kapitalismus wiederspiegelt: „Auch Kapitalismus, der zu einem Weltsystem geworden ist, kann das nationalstaatliche Monopol nicht endlos unterstützen. Nationalstaatliche Monopole, die zur Abschottung tendieren, werden zum Hindernis für diejenigen Monopole, die global agieren wollen“ (S. 344).

Den Aufstieg rechter und rechtsextremer Parteien beschreibt er als „Reaktionen auf den Globalismus des Finanzzeitalters; es sind ideologisch-politische Vorstösse, die in ihren religiösen und rassistischen Varianten eine stärkere Abschottung des Nationalstaates bezwecken“ (S. 346). Das Unterkapitel „Die Geschichte des jüdischen Volkes – Im Gedenken an den Völkermord“, könnte im deutschen Rahmen für Diskussionen sorgen, weil Öcalan darin den jüdischen Nationalismus als „Urahn aller Nationalismen und Nationalstaaten“ (S. 258) ausmacht und gleichzeitig „entschieden für einen Platz der Juden im Mittleren Osten“ (S. 260) eintritt.

Mely Kiyak kündigte in ihrer Theaterkolumne am Ende folgendes an: „Ich plane öffentlich aus Abdullah Öcalans Schriften zu lesen (…). Bleibt nur die Frage: Wer wird mich als Erstes von der Bühne tragen? Der türkische Geheimdienst oder die deutsche Polizei?“ Jetzt hätte nicht nur sie die Gelegenheit dazu, ihr Vorhaben umzusetzen. Es lohnt sich. 2020 soll dann Öcalans dritter Band erscheinen. Dann folgt hoffentlich einer Buchbesprechung unter der Überschrift „Der freie Öcalan“, um mit ihm selbst in Freiheit über seine Theorien zu diskutieren und so gemeinsam vorwärts zu kommen.

Kerem Schamberger
kritisch-lesen.de

Abdullah Öcalan: Manifest der demokratischen Zivilisation. Bd. II: Die Kapitalistische Zivilisation – Unmaskierte Götter und nackte Könige. Übersetzt von: Reimar Heider. Unrast Verlag, Münster 2019. 384 Seiten, ca. 22.00 SFr. ISBN 978-3-89771-074-0

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