Abdullah Öcalan: Manifest der demokratischen Zivilisation. Bd. III: Soziologie der Freiheit Öcalan, der Ideengeber

Sachliteratur

12. Oktober 2020

Der kurdische Vordenker Öcalan wendet sich in seinen Schriften gegen das Machtgefüge im Nahen Osten und macht klar, was das mit Soziologie zu tun hat.

Demonstration von Kurden in Köln, Oktober 2014.
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Demonstration von Kurden in Köln, Oktober 2014. Foto: Bernd Schwabe (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

12. Oktober 2020
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Noch kann diese Rezension von „Soziologie der Freiheit“, Öcalans drittem Teil des fünfbändigen Opus Magnum „Manifest der demokratischen Zivilisation“, nicht mit „Der freie Öcalan“ überschrieben werden. Immer noch sitzt der Vordenker der kurdischen Freiheitsbewegung auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali in Haft. Immer noch hat er so gut wie keinen Zugang zu Literatur und Computer. Wenigstens seine Totalisolation konnte im letzten Jahr durch einen weltweiten Hungerstreik tausender Menschen durchbrochen werden, allen voran der kurdischen Politikerin Leyla Güven, sodass seine Anwälte ihn nun das erste Mal seit acht Jahren sprechen konnten.

Doch auch diese Anzeichen des Aufbruchs sind wieder vorbei. Die Mauer der Isolation steht wieder, Leyla Güven wurde ihr Abgeordnetenmandat entzogen und während diese Zeilen geschrieben werden, bombardiert die türkische Luftwaffe dutzendfach Gebiete in Südkurdistan, in denen KurdInnen und EzidInnen leben. Alles also wie gehabt.

Gegen den Nationalstaat

Öcalans Schriften sind nach wie vor gefährlich für die Herrschenden und Mächtigen, da sie den Erhalt des 100-jährigen Status quo im Nahen Osten in Frage stellen und auf die Emanzipation der Menschen setzen.

Der Band „Soziologie der Freiheit“ liest sich wie die theoretische Vorlage für die Revolution von Rojava, die im Juli 2012 in Nordsyrien begann – also nur drei Jahre nachdem das Buch erstmals auf Türkisch erschien. Diese Revolution hat die politischen Verhältnisse in der Region gehörig durcheinandergebracht und Öcalan kann mit Fug und Recht als zentraler Ideengeber hierzu bezeichnet werden.

In seinem Werk beschreibt er drei Dimensionen gesellschaftlicher Veränderung als Gegenentwurf zum Kapitalismus. Die erste ist eine Gesellschaft, in der „ohne Zwang zur Einheitskultur und zur Staatsbürgerschaft jede gesellschaftliche Gruppe auf der Grundlage der Unterschiedlichkeiten, die sich um ihre eigene Kultur und Identität herum ergeben, koexistieren“ (S. 317) kann.

Die zweite Dimension beschäftigt sich mit Fragen der Ökologie: „Die Bildung von Öko-Gemeinschaften in der Landwirtschaft ist eines der fundamentalen wirtschaftlichen Prinzipien der demokratischen Moderne“ (S. 329). Und die dritte Dimension handelt von der Organisierung einer demokratisch-konföderalistischen Gesellschaft, von partizipativer und direkter Demokratie, in dem jedes „Dorf oder ein Viertel konföderale Einheiten brauchen wird“ (S. 335).

Darin geht es auch um gesellschaftliche Selbstverteidigung vor Angriffen jeglicher Art. Die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ sind heute weltweit bekannt. Dabei stellen sie, so Öcalan, das Gegenteil von Militarismus dar, der ein inhärenter Bestandteil von Nationalstaaten ist. Die Selbstverteidigung diene „dem Schutz der Identitäten, der Gewährleistung der Politisierung und der Verwirklichung der Demokratisierung“ (S. 337). Es findet sich hier, wie in seinen anderen Büchern auch, eine prinzipielle und schonungslose Kritik des Nationalstaatsprinzips, das zur Lösung der kurdischen Frage als auch anderer gesellschaftlichen Probleme, wie des Sexismus und der Zerstörung der Umwelt, abgelehnt wird.

Rojava zeigt, dass sich die Theorie dort in Praxis verwandelt. Bei den Wahlen zu regionalen Räten nahmen im September 2017 immerhin knapp 70 Prozent der Wahlberechtigten teil. Wie sich die Probleme und Mühen der Ebene nach acht Jahren Revolution auf das theoretische Konzept des von Öcalan entworfenen demokratischen Konföderalismus rückkoppeln werden, bleibt noch auszuloten. Es ist bedauernswert, dass ein Dialog zu diesen Fragen mit dem in Haft sitzenden Autor nicht möglich ist.

Gelebte Realität statt Utopie

Der Begriff des Gesellschaftsentwurfs ist vielleicht ein falscher Begriff für das Ansinnen Öcalans. Er hat nach eigener Aussage nicht im Sinn, nach früheren sozialistischen und anarchistischen Vorstellungen, eine weitere Utopie zu entwerfen. Es geht ihm viel mehr um die Beschreibung einer sich „augenblicklich in Denken und Handeln verwirklichenden Lebensweise“ (S. 313), die in unseren Gesellschaften immer schon vorhanden ist. Er macht dabei zwei widerstreitende Tendenzen aus, zwischen offizieller (Zentral-)Zivilisation und einer moralischen und politischen Gesellschaft.

Erstere beruhe seit 5.000 Jahren auf Ausbeutung und Unterdrückung und sei geprägt von Macht, dem Patriarchat, Mega-Städten und einem Staat, der diese Ausbeutungsverhältnisse festschreibt. Sie stehe gegen zweitere, eine Gesellschaft, die sich Freiheit, Politik und Demokratie verschrieben habe und schon immer als Gegenentwurf Widerstand gegen die Kräfte der (Zentral-)Zivilisation leiste. Öcalan geht noch weiter, denn eine moralische und politische Gesellschaft sei der eigentliche „Naturzustand der Gesellschaft ohne Kapital- und Machtmonopole“ (S. 208).

Das Begriffspaar „moralische und politische Gesellschaft“ kommt dutzende Male in seinem Werk vor. Was genau Moral dabei bezeichnet und von welchem (Klassen-)Standpunkt aus er dabei spricht, ist nicht ganz klar. Es könnte sich dabei um die Regeln handeln, die sich eine Gesellschaft selber für ein funktionierendes Zusammenleben gibt (S. 130). Was der Gesellschaft dient, ist moralisch und was ihr schadet, ist unmoralisch. Genauer wird es hier leider nicht.

Das Buch ist auch für Menschen, die im akademischen Betrieb arbeiten, sehr spannend zu lesen, da der Autor in mehreren Kapiteln eine Kritik an den Arbeitsgrundlagen europäischer Sozialwissenschaften weiterentwickelt. Er kritisiert den vorherrschenden Positivismus als eine Art Ersatzreligion und Grundlage für „soziologische Methoden, die im Zahlengewirr ersticken, die Wirklichkeit nicht enthüllen, sondern vielmehr verschleiern“ (S. 47).

Es sei zudem falsch, die Gesellschaft in Dichotomien „wie primitiv-modern, kapitalistisch-sozialistisch, […] mit-ohne Klassen“ (S. 192) zu beschreiben. Öcalan geht hier den Weg östlicher intellektueller Denktraditionen des „Nicht-Dualismus“ (D'Souza, 2019, S. 150), in denen „die grundlegende Einheit der Welt“ (ebd.) anerkannt wird. Öcalan tritt für eine Soziologie der Freiheit ein, die die Gesamtheit und historische Gewordenheit der Gesellschaft berücksichtigt und in der nicht Macht- und Staatserzählungen im Mittelpunkt stehen. Für ihn ist die Gesellschaft die bestimmende Natur und der Faktor, der zur Freiheit führen kann.

Staatliche Universitäten sind für Öcalan meistens Orte, an denen „Zivilisationswissenschaften“ (S. 203) gelehrt und praktiziert werden, die vor allem der Aufrechterhaltung des Status quo, von Staat und Macht dienen würden. Er stellt ihnen die Einrichtung von Akademien entgegen, an denen eigener Unterricht und Stoff gelehrt wird, im Sinne einer emanzipatorischen Gesellschaft. Folgerichtig finden sich auch in Rojava Bildungsakademien jeglicher Art wieder, die ein Fundament der Revolution darstellen: Frauen und Männer, die feministische Bildung erhalten, Mitglieder von Basisstrukturen, die Methoden der direkten Demokratie erlernen und vieles mehr. Zugleich wird seit einigen Monaten am Aufbau einer eigenen Rojava-Universität gearbeitet.

Für MarxistInnen sind Öcalans Ausführungen zum Wirtschaftsverständnis interessant zu lesen. So wendet er sich nicht gegen privaten Gewinn, ausser wenn es um Monopolprofit geht (S. 245). Wenn die Befriedigung von Grundbedürfnissen sichergestellt ist, sei ein freier Markt erstrebenswert. Allerdings plädiert er für eine Demokratisierung der Wirtschaft, die nicht auf Privat- oder Staatseigentum, sondern auf gemeinschaftlichem Eigentum beruht.

Also: Kooperativen und Genossenschaften, so wie sie in Rojava entwickelt werden. Öcalans Konzepte scheinen hier vor allem auf die Einsicht zu setzen, dass ein anderes Wirtschaften zu notwendig ist. Dies ist in Krisensituationen wie in Syrien einfacher, wo alles Bestehende zur Debatte steht. Wie allerdings jahrhundertealte Kapitaleigner in den Zentren der kapitalistischen Moderne (Europa, USA) dazu gebracht werden sollen, ihre Macht freiwillig und durch Einsicht aufzugeben, ohne dass es zu massiven Konflikten, also Klassenkämpfen, kommt, bleibt leider unklar.

John Holloway, neomarxistischer Professor aus Mexiko, der das lesenswerte Vorwort für „Soziologie der Freiheit“ geschrieben hat, würde diese und viele andere Fragen gerne mit Öcalan „bei einigen Tassen Tee“ (S. 16) in einer freundschaftlich-solidarischen Atmosphäre diskutieren. Dem kann man sich nur anschliessen.

Kerem Schamberger
kritisch-lesen.de

Abdullah Öcalan: Manifest der demokratischen Zivilisation. Bd. III: Soziologie der Freiheit. Übersetzt von: Reimar Heider und Mehmet Salih Akın. Unrast Verlag, Münster 2020. 488 Seiten. ca. 24.00 SFr., ISBN: 978-3-89771-077-1

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