A.G. Grauwacke: Autonome in Bewegung Militant und unsterblich?

Sachliteratur

13. Mai 2021

Was für ein Glück: Ein Klassiker über die autonome Bewegung in Deutschland wurde neu aufgelegt.

Tränengas in Berlin, 1991.
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Tränengas in Berlin, 1991. Foto: Neil Hester (CC BY-NC 2.0 cropped)

13. Mai 2021
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Im Frühjahr 2003 erschien ein üppig bebilderter Band mit dem Titel „Autonome in Bewegung – Aus den ersten 23 Jahren“. In einer ganzen Reihe von Besprechungen fand er schon damals eine ausserordentlich freundliche Aufnahme. Es sei die „Erfolgsgeschichte einer politischen Praxis“ (jungle world), „eine wahre Fleissarbeit [...], die man unbedingt lesen sollte“ (Terz), ein „Klasse Buch!“ (Plastic Bomb) und die „Gelungene Geschichte der Autonomenbewegung“ (taz).

Vier Jahre nach seinem Erscheinen wurde das Buch auch von den Sicherheitsbehörden zur Kenntnis genommen. Unter explizitem Verweis auf das Buch beförderte die Bundesanwaltschaft am 9. Mai 2007 die fünf mutmasslichen Buchverfasser zu Führungskadern einer terroristischen Vereinigung. Ihnen wurde die Durchführung von zwölf Brandanschlägen angedichtet mit Bezug auf die damals anrollende G8-Gegenmobilisierung in Heiligendamm. Nach umfangreichen Observationen folgte dann eine Welle von Hausdurchsuchungen. Das Ermittlungsverfahren wurde im September 2008 schliesslich eingestellt. Das Buch war seit 2012 vergriffen.

Der Verlag Assoziation A hat sich nun dazu entschlossen, eine aktualisierte Neuauflage zur Verfügung zu stellen. Das bedeutet: Eine neue Redaktion hat sich die Freiheit genommen, den „längst vergriffenen Klassiker der autonomen, subjektiven Geschichtsschreibung“ noch einmal mit 100 zusätzlichen Seiten zu bereichern. So kommen also zu den bereits erzählten 23 Jahren Geschichte der Autonomen weitere 17 Jahre hinzu. Hut ab vor so viel autonomer Chuzpe! Allerdings wird der Untertitel des Buches ungültig, präzise müsste es heissen: „Aus den ersten 40 Jahren“. Diese werden hier in sechs langen Kapiteln mit 51(!) Unterkapiteln chronologisch geordnet, beschrieben und analysiert. In grauen Infokästen finden sich eingeschobene Berichte von ZeitzeugInnen.

Alltag und Militanz der 80er

Das Buch handelt die autonome Bewegung hauptsächlich aus West-Berliner, um genau zu sein, aus Kreuzberger Perspektive ab. Den Kämpfen um die Hamburger Hafenstrasse ab Mitte der 1980er Jahre, ein wichtiger Kulminationspunkt autonomer Politik und Praxis, oder auch den tödlichen Schüssen an der Frankfurter Startbahn West im November 1987 wird kein grösseres Interesse geschenkt. Hier geht es zu Beginn der 1980er Jahre mit den Hausbesetzungen los und fast 500 Seiten später endet alles nicht ganz zufällig mit einer Verabredung, sich „morgen Abend [beim] Bier im Görlitzer Park“ zu treffen – um das „Älter werden“ gerade in Bezug auf die Aufstandstheorie zu besprechen.

Die in dem Buch präsentierten Bilder, Karikaturen, Icons, Comics und Plakate sind wesentlich aus dem Alternativbewegungsdesign und der Berliner Strassenkampf-Praxis der 1980er und 90er Jahre hervorgegangen. Hier wird ganz sinnbildlich gezeigt, was autonome Bewegung in ihren besten Momenten immer auch war und ist: Militanz und Alltag, Spass, Sound, soziales Leben und Optimismus. Auch so unternehmen die fünf Kreuzberger Verfasser den Versuch, „die Geschichte der Autonomen“ gerade nicht durch „soziologische Forschung und akademisches Quellenstudium“, sondern „streng subjektiv“ aus der Perspektive derjenigen zu erzählen, „die dabei waren und sind“ (S. 7).

Auf dem unteren Sechstel der Seiten findet sich ein Zeitstrahl mit weit über 1.000 ausgewählten zeitgeschichtlichen Daten. Zwar wird dabei nicht immer ganz klar, warum diese Einträge ausgewählt wurden, sie besitzen aber gegenüber der Gegenwart einen Verfremdungseffekt. Der erste Zeittafeleintrag zu diesem Geschichtsband der Autonomen lautet: „13.01. (1980) Karlsruhe: Die Grünen konstituieren sich auf einem Kongress als Bundespartei“ (S. 14). Irgendwie gab es wohl vor 40 Jahren noch politische Verflechtungen zwischen Autonomen und Grünen, der Partei, die später Angriffskriege und Hartz IV billigte.

Die unübersichtlichen 90er

Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf den Ereignissen in den 1980er Jahren, in der die Autoren als Protagonisten schreiben. Das vierte Kapitel, über die 1990er, fällt in der Qualität deutlich ab. Nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus entspricht die Militanz autonomer politischer Aktivitäten einfach nicht mehr der Gewaltorganisation des gesellschaftlichen Lebens. Ohne es kenntlich zu machen, haben die Kreuzberger Verfasser für die Kapitel über Antirassismus und Antifa andere aktive Genossen gebeten, Texte zu verfassen. Das merkt man sowohl dem Sound wie auch der programmatischen Grundierung dieser Kapitel an. Und das dementiert natürlich den im Vorwort durch die Verfasser erhobenen Anspruch, auch hier substantiell „dabei“ gewesen zu sein.

Dennoch muss man den Versuch dieses Buchprojektes loben, sich aus autonomer Perspektive erstmals eine Schneise quer durch das unübersichtliche Jahrzehnt der 1990er zu schlagen. Das gleiche kann nun auch für den explizit von einer neuen Redaktionsgruppe gleichfalls kurzweilig zu lesenden Abriss zur autonomen Geschichte zwischen 2003 und 2020 gesagt werden. Auch hier mischen Autonome allerorten mit: Antirassistische Grenzcamps werden durchgeführt, Refugee Camps vorbehaltlos unterstützt, Hartz IV wird entschieden abgelehnt und Jobcenter wie Luxusrestaurants werden ohne vorherige Terminabsprache aufgesucht, Gipfeltreffen der globalen Staatschefs in Heiligendamm und Hamburg werden durcheinandergebracht, in Sachen Antifa sorgen Autonome auch am Gebirgsjägerstandort Mittenwald mit einer Vielzahl von pfiffigen Aktionen für eine Modernisierung des Erinnerungsregimes, die Nutzung der Atomenergie wird in Gorleben und anderswo in die Tonne getreten, Häuser- und Wohnprojekte werden besetzt und so gut es geht politisch wie materiell verteidigt.

Kritisch anzumerken ist, dass manche Texte von einer theoretischen Selbstgenügsamkeit durchzogen sind: „Weder schwebt uns die grosse vereinheitlichende Bewegungstheorie vor, noch der endgültige Rundumschlag zum Zwecke des Beweises, dass wir sowieso alles besser durchblicken“ (S. 380). Die oben zitierte Aussage steht für eine immer wieder bei Autonomen zu findende Tendenz, sich theoretisch selbst zu entmächtigen.

Forever young

Doch Katzenjammer ist die Sache von Autonomen nicht, das zeigt das Buch in überzeugender Weise. Es zeigt, dass eine Ende der 1970er Jahre als Jugendbewegung gestartete politische Formation in einer Dialektik von Kontinuitäten und Brüchen tatsächlich ein paar Generationswechsel hinbekommen hat. Und zwar als eine linke Bewegung auf der Strasse und ausserhalb der Institutionen und hier vor allem ausserhalb der Universitäten. So liefert das Buch einiges an Futter für die spannende These, dass die Autonomen nach 40 langen Jahren zwar definitiv nicht forever young aber eben doch ein bisschen unsterblich sind.

Die Texte und Bilder im Buch sind Geschichten, die aus den Medien ausgeschlossen und von den herrschenden Verhältnissen verdrängt und verhöhnt werden. Sie zeigen linke AktivistInnen in ihrem Versuch, gegen die Verhältnisse zu leben. Und zu bedenken bleibt in Abwandlung eines Gedankens von Ernst Bloch heute mehr denn je: Auf 1.000 Abschiebungen, auf 1.000 Zwangsräumungen, auf 1.000 Kriegstransporte, auf 1.000 Vergewaltigungen, geschlagene Frauen und Kinder, auf 1.000 ertrunkene Flüchtlinge im Mittelmeer, auf 1.000 Nazikundgebungen und auf 1.000 Kürzungen von Hartz IV-Bescheiden kommen nicht 10 Krawalle.

Markus Mohr
kritisch-lesen.de

A.G. Grauwacke: Autonome in Bewegung. Aus den ersten 23 Jahren. Assoziation A Verlag, Berlin 2020. 496 Seiten. ca. 31.00 SFr. ISBN 978-3-86241-468-0

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