Kernpunkt: dezentrale Rätedemokratie Gerd Stange: Die libertäre Gesellschaft

Sachliteratur

15. März 2013

Es war eine grundlegende Gemeinsamkeit zwischen den sich ansonsten so dramatisch gegenseitig kritisierenden Marx und Bakunin, dass beide – sich darin von den sogenannten FrühsozialistInnen absetzend – das Konzipieren eines kohärenten sozialistischen Systems als autoritär ablehnten.

Besetztes Haus an der Brunnenstrasse 183 in Berlin.
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Besetztes Haus an der Brunnenstrasse 183 in Berlin. Foto: Jotquadrat (CC BY-SA 2.0 cropped)

15. März 2013
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Korrektur
So kritisierte Bakunin, dass „die Reglementierungswut (…) die gemeinsame Leidenschaft aller Sozialisten vor 1848“ gewesen sei: „Cabet, Louis Blanc, Fourieristen, Saint-Simonisten, alle waren sie davon besessen, sich die Zukunft gefügig zu machen und sie im voraus zu gestalten, allesamt waren sie mehr oder minder Autoritäre.“ (Bakunin 1868: 48) Und auch Marx verwahrte sich noch 1880 dagegen, jemals „ein ‚sozialistisches System' aufgestellt“ zu haben (Marx 1880: 357). Da man nun nicht so recht ohne jegliche Vorstellung vom Künftigen handeln und denken kann, besetzte bei Marx allerdings das zumeist nebulös gehaltene Konzept der „Diktatur des Proletariats“ diesen leeren Raum – und wirkte sich vielleicht gerade aufgrund seiner Unkonkretheit historisch so furchtbar aus. Im Anarchismus hingegen war man sich über diese Problematik durchaus bewusst.

Bezeichnend hierfür sind die Ausführungen Schwitzguébels, der einerseits meinte: „Wenn es um die Zukunft geht, sind wir mehr noch als in allen anderen Dingen Gegner absoluter Festlegungen. Deshalb müssen wir begreifen, dass die wahre Konzeption die der historischen Erfahrung ist.“ (Schwitzguébel 1880: 213) Andererseits aber betonte er, dass die Gefahr der Entstehung einer autoritären Gesellschaft während und nach der Revolution das Vorzeichnen der „grossen Linien einer neuen Gesellschaftsordnung“ verlange (ebd.).

Mittlerweile scheint man sich auf Seiten der Linken weitgehend dieser Problematisierung angeschlossen zu haben und ein rigide gefasstes „Bilderverbot“ findet wohl deutlich weniger AnhängerInnen als zu Zeiten sozialdemokratischer Kladderadatsch-Theorien.

Beispielhaft für diesen Trend ist auch das kleine Bändchen „Die libertäre Gesellschaft“ – von der Berliner „Buchmacherei“ veröffentlicht –, in dem Gerd Stange seine „Grundrisse einer freiheitlichen und solidarischen Gesellschaft jenseits des Kapitalismus“ zur Diskussion stellt.

Ausgangspunkt: Krise und Neubeginn

Den Ausgangspunkt von Stanges Ausführungen bildet die Diagnose, dass wir etwas grundsätzlich Neues versuchen müssten: „Wir wollen auf kein altes (sozialistisches, kommunistisches, anarchistisches oder sozialdemokratisches) Konzept der Gesellschaftsveränderung zurückgreifen oder alte Kontroversen wiederkäuen. Sie sind alle dem 19. Jahrhundert verhaftet und theoretisch überholt.“ (S.9) Etwas Neues zu tun sei umso dringlicher, als wir in einer Zeit sich vollziehender und anstehender Katastrophen leben: „Die Konfliktlinien eines dritten Weltkriegs beginnen sich abzuzeichnen.“ (S.14) Also gelte: „Die aktuelle Krise fordert zum Handeln auf, damit wir nicht weiterhin von Katastrophe zu Katastrophe taumeln.“ (S.23) Gekennzeichnet sei diese „vielfältige Krise“ durch folgende Aspekte: „Krise der Arbeitsgesellschaft“, „der gesellschaftlichen Instanzen“, „der Werte“, „der Beziehungen“, eine „Konsumkrise“ und „Legitimationskrise“ (S.23).

Worum es Stange dabei geht, ist eine Gesellschaft anzuvisieren, in der es möglich wird, „das Individuum mit der Gesellschaft gleichberechtigt zu entwickeln, Autonomie und Solidarität als notwendige Ergänzungen zu begreifen“ (S.16). Hierfür gelte es „Fehler zu analysieren“ (S.25), nicht zuletzt die der eigenen Praxis: „Wir haben in egalitären Projekten gearbeitet, Gesundheitszentren aufgebaut, in Wohngemeinschaften gelebt und so getan, als ob die Absicht genügt, Hierarchie und Macht abzuschaffen. Die Selbstveränderung in einer Umwelt, die andere Werte durchsetzt, war schwerer, als wir dachten. Wir haben uns überschätzt, und trotzdem war der Versuch lohnenswert und hat uns stärker gemacht, den Widerständen zu begegnen. Wir müssen diese Erfahrungen aufarbeiten, um Irrwege zu vermeiden. Wir suchen erst einmal Zwischenschritte, um weiterzugelangen. (…) Wir brauchen konkrete Ziele“ (S.12)

Es gehe dabei auch darum bisherige „Tätigkeiten und Aktivitäten (…), die ohne Lohnarbeit auskommen würden“ zu „entfalten“, sowie sich andere Möglichkeiten zu erobern, was meint: „Freiräume zu erkämpfen“ (S.24)

Kernpunkt: dezentrale Rätedemokratie

Die Basis von Stanges „Skizze wie das Neue aussehen könnte“ (S.27) ist die radikal-demokratische Föderation: Die „Grundpfeiler der libertären Gesellschaft bestehen aus der basisdemokratischen Orientierung und Organisierung unseres alltäglichen Lebens und der Vergesellschaftung unserer Lebensbedingungen.“ (S.34) Als „Fundamente“ werden genannt: „Individuelle Emanzipation“, „Persönliche Autonomie“, „Vergesellschaftung“, „Basisdemokratie“, „Grundeinkommen“, „Lebensarbeitszeit“, sowie „Zeit, unsere Wünsche und Bedürfnisse zu leben“ (S.34). Gewährleistet werden soll dies durch ein „konsequent überall eingeführt[es]“ Rätesystem (S:65), gipfelnd in einem „Netzwerk von Delegiertenräten“ (S.45). Grundprinzip desselben soll sein: „Wir bauen die Gesellschaft von unten nach oben, jedes höhere Gremium hat weniger zu entscheiden als das darunter.“ (S.51) Denn: „Unser Grundprinzip der Basisdemokratie ist: Alle Probleme werden an der Basis, d.h. auf der niedrigst möglichen Ebene behandelt.“ (S.48)

Die Möglichkeit hierzu liege in der Dezentralisierung des Bestehenden: Ökonomisch geht es um die „Zergliederung grösserer Konzerne in Einheiten, die sich verwalten lassen, weil diese Megamaschinen die Menschen zu Anhängseln eines Molochs machen, der strukturelle Gewalt auf sie ausübt“ (S.43); politisch im Anvisieren von Städten mit ca. 125.000 BewohnerInnen, „um lebenswert, überschaubar und regierbar zu sein. Millionenstädte müssen in Stadtbezirke aufgefächert werden, die für sich jeweils eine Einheit von etwa 125.000 Menschen bilden, sich wie eine selbständige Stadt organisieren und ihre Repräsentanten wählen“ (S.51). Es sollen also Verhältnisse geschaffen werden, in denen „gemeinschaftliche Aufgabe[n] (…) nicht mehr Angelegenheit der abgehobenen politischen Sphäre“ sind, „sondern kontrollierbar und korrigierbar“ (S.72).

Kritische Anmerkungen

Das erste, was bei der Betrachtung dieser Skizze überrascht ist, dass sie kaum neue Gedanken enthält. Im Grunde knüpft Stange hier recht nahtlos an Vorstellungen von Dezentralisierung und Föderation an, die der Anarchismus seit jeher vertreten hat. Insofern ist seine Ablehnung von allem Alten durchaus nicht so ohne weiteres gerechtfertigt, zumal man nicht unbedingt sagen kann, dass Stange das Niveau der Problematisierung solcher Konzepte erreicht, wie sie in der Vergangenheit bisweilen geleistet wurden. Insgesamt erscheint alles ein wenig einfach, wenngleich Stange durchaus auch meint, dass der anvisierte Prozess „nicht reibungslos verlaufen“ (S.39) und es „in jeder Gesellschaft abweichendes Verhalten geben“ (S.65) werde – worauf man sich einzustellen habe.

Wenn er meint, „dass eine neue Gesellschaft nur mit neuen Menschen aufgebaut werden kann und dass sich neue Menschen nur in einer neuen Gesellschaft entwickeln können“ beschreibt er aber nur die klassischer Zirkelproblematik vieler revolutionärer Konzepte, stellt aber auch die grundsätzliche Frage: „Wie kommen wir mit den jetzigen Menschen in die zukünftige Gesellschaft? Aus der Pariser Kommune, aus Spanien 1936 oder eigenen Projekten haben wir ein Prinzip gelernt: In dem Prozess, in dem wir gemeinschaftliche neue Strukturen schaffen, um andere Werte zu leben, entsteht das Neue.“ (S.26) Nun, ist es aber so einfach?

Nun legt Stange bewusst eine Skizze vor und es wäre wohl falsch, von einer solchen mehr zu erwarten, als sie leisten kann. Vieles jedenfalls bleibt unklar und dass an Stellen, an denen eine Diskussion vielleicht gerade beginnen müsste. Beispielsweise ist fraglich, was genau unter „gesellschaftliche[m] Allgemeininteresse“ (S.30) zu verstehen ist und wer dieses verkörpert. Oder es heisst, dass ich „während meines Arbeitslebens (…) meinem Leben einen neuen Sinn geben“ müsse (S.40). Wieso „muss“ ich das? Ist das nicht meine Sache, weil mein Leben? Als Form des Ausschlusses im Heute erwähnt Stange: „Wenn sie zuhause Musik hören oder feiern, kommt die Polizei im Namen der Nachbarschaft. Für alles gibt es im Kapitalismus Orte, aber man muss bezahlen.

Wer nicht konsumiert, wird ausgeschlossen.“ (S.32) Nun wird das Problem, dass man aufeinander Rücksicht nimmt, auch in einer libertären Gesellschaft von Bedeutung sein. Und mit dem Abschaffen des Kapitalismus wird wohl kaum das Problem der Lautstärke absterben. Auch Stanges Aversionen gegen Formen des Sports, bei denen es GewinnerInnen und VerliererInnen gibt, kann ich nicht folgen (52f.). Ist es möglich, überhaupt wünschenswert jedes agonale Moment aus dem Alltag der Menschen zu verbannen? Braucht man nicht vielleicht vielmehr solche Formen, zur Entlastung, zum Abreagieren oder einfach zum Spass? Lauert hier nicht im Hintergrund ein zutiefst problematisches Bild einer „Diktatur der Freundlichkeit“? Und wie ist das mit dem Geld: „Geld als Vermittlungsinstrument, als Zirkulationsmittel von Waren und Werten bleibt weiterhin nützlich.

Geld ist seit Jahrtausenden Zirkulationsmittel. Wir haben keine Probleme damit, dass Menschen unterschiedliche Bedürfnisse und somit unterschiedlich viel Geld brauchen. Wichtig ist, dass es Reichtum in der bisherigen Form nicht mehr geben soll.“ (S.61) Ohne gleich bei den Wörtern „Geld“ und „Waren“ die wertkritische Alleszermalmende Berserkeraxt herauszuholen, werfen diese Sätze dennoch viele Fragen auf. Auch neigt Stange zu einer wesentlichen Psychologisierung der künftigen Gesellschaft: „Teams aus Juristen, Pädagogen, Psychologen und Sozialpädagogen sollen Menschen, die gegen gesellschaftliche Regeln verstossen, helfen.

Ursachen müssen erforscht, Massnahmen diskutiert werden. Die Menschen sollen die Möglichkeit zur freien Persönlichkeitsentwicklung bekommen.“ (S.65) Das Problem der anscheinend hauptberuflich agierenden „Juristen“ beiseite gelassen, wäre es vielleicht doch zumindest angebracht gewesen, ein wenig auf die möglichen Gefahren solcher Vorstellungen hinzuweisen – lauert im Arzt und der Therapeutin die neue herrschende Klasse der Wissenden? Diese Problematik zeigt sich auch in Stanges Ausführungen zur Erziehung, der, wie Stange zurecht meint, „verantwortungsvollste[n] Aufgabe einer Gesellschaft“ (S.56). Denn, so heisst es: „[D]etaillierte Beurteilungen [müssen] dem Kind helfen, in seiner Entwicklung weiter zu kommen.

Die Rahmenbedingungen und die Lehrkräfte sind verantwortlich dafür, die grundsätzlich vorhandene Motivation der Kinder zu fördern und nicht zu zerstören oder durch Sekundärmotivation zu ersetzen (sogenannte Leistungsanreize). Lernblockaden haben Ursachen, die herausgefunden und verändert werden müssen. Psychologisches Wissen und therapeutische Erfahrung sind gefragt.“ (S.58) Lässt sich dies als eine Art ‚fürsorglicher' Dauerbeobachtung verstehen, die dazu tendiert dem Kind letztlich noch weniger Freiraum zu lassen, als das zu überwindende „Herr-Knecht-Verhältnis in der Schule“ (S.54)?

Dann heisst es denkbar vage: „Das Grundeigentum ist aber nicht bedingungslos, wie manche fordern, weil es Teil eines Gesellschaftsvertrages ist, den wir miteinander eingehen. Alle paternalistischen Versorgungssysteme führen zum Des-Engagement. Die Bereitschaft zur aktiven Teilnahme am gesellschaftlichen Gelingen muss sich konkretisieren.“ (S.38) Die grundsätzlich dahinter stehende Problematik ist nun nicht einfach von der Hand zu weisen, aber wenn eine freie Gesellschaft offenkundig auf solch einen die individuelle Existenz in ihren Grundfesten berührenden Zwang zurückgreifen muss, um Engagement zu fördern, scheint diese Freiheit jedenfalls nicht sonderlich anziehend zu sein.

Fazit

Alles in allem war die Lektüre von Stanges Skizze keine allzu grosse Offenbarung. Aber das muss sie ja auch nicht sein. Und es gibt ja grundsätzlich richtige Dinge, die man ruhig öfter wiederholen kann. Wichtig aber scheint mir vor allem, dass solche Konzepte überhaupt vorgeschlagen und diskutiert werden. Daraus hoffentlich folgende Auseinandersetzungen bringen vielleicht für sich genommen schon mehr als alle Skizzen und Programme dieser Welt. Denn letztlich entscheiden nicht solcherart Vorstellungen, sondern das konkrete Tun in welche Richtung der jeweilige Weg geht. Und eines hat Stange völlig zurecht betont: „Wenn die Macht von oben nach unten geholt wird, müssen alle sehr viel mehr diskutieren und entscheiden, statt zu erdulden. Sie müssen lernen, ihre Interessen selbst zu vertreten.“ (S.39) Auch ein kleines Büchlein wie das vorliegende kann so für das Herausarbeiten aus der eigenen, selbstverschuldeten Unmündigkeit einen wertvollen Beitrag leisten.

Philippe Kellermann

Gerd Stange: Die libertäre Gesellschaft. Grundrisse einer freiheitlichen und solidarischen Gesellschaft jenseits des Kapitalismus. Die Buchmacherei, 2012. 73 Seiten, 6.80 SFr, ISBN 9783000397035