Svende Merian: Der Tod des Märchenprinzen Notizen zu einem feministischen Roman

Belletristik

26. September 2019

In meiner Umgebung wurde kürzlich ein Buch herumgereicht und vielfach gelesen, welches bald 40 Jahre auf dem Buckel hat.

Svende Merian: Der Tod des Märchenprinzen.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Svende Merian: Der Tod des Märchenprinzen. Foto: Contaminadas (CC BY-SA 4.0 cropped)

26. September 2019
6
1
8 min.
Drucken
Korrektur
Nun ist dies kein Kriterium dafür, dass es sich um ein schlechtes Buch handeln muss – obwohl die Autorin dies im Nachwort selbst und selbstkritisch so sieht. Die Bibel ist beispielsweise auch eine Zusammenstellung von Märchen, die vor 3200 bis 1900 Jahre entstanden sind – und dabei können uns gute Märchen durchaus auch für unser Leben heute etwas sagen. Oder auch nicht. Mensch liest sie auf jeden Fall immer von der jeweiligen Zeit aus und projiziert Vorstellung auf die Vergangenheit zurück... Im Gegensatz zur Bibel ist Svende Merians Buch nicht patriarchal orientiert, sondern stattdessen klar feministisch positioniert.

Die Vorstellung vom Märchenprinzen, der kommt und seine Erwählte bis zum Lebensende glücklich macht, hat die junge linke 24-jährige Frau aus Hamburg – wie viele, vielleicht sogar die meisten – in der bürgerlich-kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts nach wie vor verinnerlicht. Und das trotz fünf Jahren Frauengruppe und diversen, zweifellos richtig beschissenen Erfahrungen mit Typen von denen sie sexuell ausgebeutet, dumm gemacht und abhängig gehalten wurde.

Svende gibt zu Beginn des Romans eine Annonce auf und möchte damit einen „unmännlichen Mann“ kennenlernen. Es meldet sich Arne, ein autonomer Anti-AKW-Kämpfer, der sich ziemlich schnell als zärtlicher und bindungsängstlicher „Chauvi“ entpuppt. Sie fährt voll auf ihn ab und fühlt sich wie im siebten Himmel, obwohl er ihr gleich versucht zu vermitteln, dass er nicht viel von festen Bindungen – zumal nicht mit ihr – hält. Das spricht für ihn keineswegs dagegen, ihr dennoch sexuell zu begegnen, mal einen Spaziergang mit ihr zu machen oder in eine Kneipe zu gehen. Damit verhält er sich weitestgehend der Norm der damaligen linken Szene konform, auch wenn es ihm gut anstehen würde, sich mit der „Frauenfrage“ zu befassen.

Sie hingegen geht davon aus, dass sie nach drei Tagen nun eine „Beziehung“ hätten, auch wenn Svende ihn noch überhaupt nicht kennt. Und das, was sie von ihm kennenlernen wird, bleiben fortan hauptsächlich ihre romantischen Sehnsüchte einerseits und ihre Vorurteile und den Hass, den sie auf ihn projiziert andererseits. Arne distanziert sich ziemlich unbeholfen, versucht ihr aus dem Weg zu gehen; ist erst genervt und bekommt dann langsam Angst vor Svende. Und er verhält sich ihr gegenüber auch Arschloch-mässig und unsensibel, wobei sie ihm abspricht überhaupt ein Gefühl dafür zu haben, wie er auf andere wirkt.

Nachdem er ihr schliesslich ganz direkt sagt, dass er wirklich nicht in sie verliebt ist, steigert sie sich in ihre Sehnsucht hinein, akzeptiert seine Gefühle nicht, verfolgt ihn stattdessen, spioniert ihm nach, lauert ihm auf und will ihre „Beziehung“ aufarbeiten – mit Hilfe einer Genossin aus der Bürgerinitiative, ihres Mitbewohners und Arnes ehemaligen Freundin Sabine, mit der er zwischendurch wieder anzubandeln versucht. Dazu sucht sie keinen zeitlichen, räumlichen und emotionalen Abstand. Deswegen zeigt sich bald, dass ihre Forderung nach Aufarbeitung (mit dem Ziel, dass er erkennt, ein chauvinistisches Schwein zu sein) vorrangig ihrem Wunsch entspricht, ihn doch verliebt zu machen. Weil das nicht gelingt (bzw. gar nicht gelingen kann), will sie sich fast stärker noch bei ihm dafür zu rächen, dass er keine vergleichbaren romantischen Gefühle ihr gegenüber empfindet.

Für Svende ist es unmöglich, ihre eigenen Gefühle zu verstehen, auch wenn – oder möglicherweise: eben weil – sie sich die ganze Zeit darum kreist. Sie macht sich ihre Gedanken – nur eben ohne ihn. Und wo ihr seine Gedanken oder Verhaltensweisen nicht passen, ignoriert sie diese, verzerrt sie oder wird aggressiv – wie es nun einmal ist, wenn jemand den auf ihn projizierten Vorstellungen und Sehnsüchten nicht entspricht. Letztendlich ist Arne nicht nur für ihre konkrete Enttäuschung verantwortlich, sondern zieht all den Hass, die Verachtung und die Vorurteile auf sich, welche sich aus Svendes früheren Begegnungen mit Typen angesammelt haben. Diese waren tatsächlich erniedrigend, ekelhaft, ausbeuterisch, entmündigend und alles in allem Ausdruck patriarchaler Verhältnisse.

Das Patriarchat manifestiert sich wie alle Herrschaftsverhältnisse selbstverständlich in konkreten Beziehungen und deswegen erst recht in Liebesbeziehungen. Insofern muss eine Bearbeitung und ein Abbau dieses Herrschaftsverhältnisses auch auf der direkten Beziehungsebene geschehen und nicht durch irgendwelche abstrahierenden politischen Kämpfe. Dies kann Svende jedoch nicht gelingen, weil sie Arne nicht kennt und dessen Grenzen, eigenen Schäden, seine Bindungsangst usw. erst nach Monaten ihres Hinterherlaufens zumindest erahnt. Stattdessen will sie ihn in ihr romantisches Märchenprinz-Bild pressen und fordert gleichzeitig, dass er einem von ihr gestecktem Ideal entsprechend vollständig emanzipiert werden müsste. Sie interessiert sich nicht für seine Themen, verlangt aber Interesse für ihre. Dass er sich vor allem von ihr zurückzieht, weil sie ihn von Beginn ihrer Bekanntschaft an mit Methoden emotionaler Erpressung zu Verhaltensänderungen zwingen will, kann sie nicht nachvollziehen.

Damit ist nicht gesagt, dass sich beide auf gleicher Ebene begegnen, denn ihren Cis-Geschlechterrollen entsprechend, stehen sie nun einmal an verschiedenen Polen eines strukturellen Ungleichheitsverhältnisses. Um aber dieses Verhältnis reflektieren und abbauen zu können, wäre eine wirkliche Beziehung und der Wunsch nach ihrer gemeinsamen Gestaltung erforderlich, was durchaus eher einer sozialen Freiheit entspricht als die „autonome“ Ungebundenheit und vermeintliche Unabhängigkeit voneinander. Arne möchte keine Beziehung mit einer Frau, die sich vorrangig sexuell für ihn interessiert, ihn ansonsten mit Vorurteilen und Vorwürfen überzieht und anfängt ihn zu stalken. Er ist kein Masochist, sondern ein Eigenbrötler, der versucht sich gern zu haben, auch wenn er selbst viel Scheisse erlebt hat.

Das rechtfertigt selbstverständlich nicht, dass er sich gelegentlich wie ein Arschloch verhält und vor Svendes direkter und ehrlicher Art den Schwanz einzieht. Hingegen täte es ihm selbst gut, sein Mackerverhalten zu reflektieren und abzubauen. Doch möchte Svende wirklich eine Beziehung und eine Beziehung zur Arne? Oder dient ihr die Auseinandersetzung mit ihm nicht vor allem dazu, ihren (sicherlich berechtigten) Frust und Hass gegenüber Männern im Allgemeinen loszuwerden und sich dafür einen herauszupicken, der nun wirklich lieb mit ihr war? Geht es Svende nicht vielmehr um die Aufwertung ihres Selbstbewusstseins, wozu sie Arne abwertet und somit das strukturelle Herrschaftsverhältnis auf verkürzende Weise personalisiert und darum auch nicht abbauen kann?

Auch fast 40 Jahre nach Svende Merians Buch „Der Tod des Märchenprinzen“ bleibt Emanzipation schwierig. Ich finde es problematisch, wenn sie vor allem als individuelle Selbstbearbeitung angesehen wird und als solche Typen aufgezwungen werden soll. Es ist möglich den Roman zu lesen und festzustellen, dass sich auch in der linken Szene in vielerlei Hinsicht nichts geändert hat – Immer noch gibt es die gleichen Polit-Macker, eine Vorstellung von individualisierter Freiheit, welche eigentlich auf Bindungsängste verweist, Sehnsüchte nach Märchenprinz*essinnen, unausgesprochene Erwartungen aneinander, Enttäuschungen aufgrund schlechter Kommunikationsformen und dementsprechend auch zurecht radikale Feministinnen.

Es funktioniert eben leider nicht so, nur hier und da mal einen Kommentar zum Macker-Verhalten zu machen, einen Hinweis auf die andauernde strukturelle Ungleichheit fallen zu lassen oder bescheiden anzuregen, dass auch konkrete Verhaltensweisen verändert werden sollten, wenn Menschen sich als „progressiv“ oder „links“ verstehen. Vielen Typen tat und tut es gut, mal einen saftigen Kommentar zu fangen, ohne dass sie erwarten sollten, dass Frauen* sich in sie „hineinversetzen“ oder noch Mitleid mit ihnen haben. Ansonsten sollte sich von selbst verstehen, dass FLTI*-Personen sich ohne Männer absprechen, verbünden oder organisieren können - und wo es ihren Bedürfnissen entspricht auch tun sollten.

Schliesslich stimmt auch, was Svende im Schlusswort schreibt, nämlich, dass Typen nicht beurteilen können oder gar bestimmen dürfen, wie sich Frauen* zu emanzipieren haben, sondern dass sie ihre eigenen Wege finden und gehen können. Anstatt sich aber gegen jene zu wenden, die man entweder liebt oder mit ihnen politisch verbündet ist, finde ich es entscheidend gemeinsame Wege zur Veränderung zu suchen, Menschen einen Vertrauensvorschuss zu geben und sie mit ihren jeweiligen Grenzen, Ängsten und Macken zu akzeptieren, eine Blick für strukturelle Herrschaftsverhältnisse einerseits, aber auch die konkreten Personen darin andererseits zu entwickeln und anzuerkennen, dass Veränderungsprozesse sehr viel Zeit brauchen und es keinen Masterplan dafür geben kann.

Die Emanzipation die wir anstreben sollte mit einem individuellen Gefühl von Freier-Werden, Genuss und Selbstliebe einhergehen. Sie setzt voraus, romantische Vorstellungen loszulassen, möglichst kollektiv positive Normen zu setzen, ohne sie anderen aufzuzwingen oder sie danach zu bewerten. Das ist meistens auch mit Schmerzen verbunden, was umso mehr bedeutet, dass derartige Prozesse gemeinsam zu vollziehen sind. Die dafür hilfreiche Distanzierung ist besser durch involvierte Selbstironie zu erlangen, anstatt durch die Emotionen abspaltenden Zynismus. Leider ist es erforderlich, dass dazu immer wieder ähnliche feministische Kritiken angebracht und anstrengende Gespräche geführt werden. In diesem Sinne bietet dieser Text hier nichts Neues im Wesentlichen, sondern stellt lediglich einen Ausdruck weitergehender Reflexionsprozesse von einem bestimmten, veränderbaren Standpunkt mit seiner subjektiven Vorgeschichte dar.

Wäre das Patriarchat überwunden, bräuchte es keine feministischen Kämpfe. Dass gilt umso mehr für Zeiten, in denen die antifeministische Reaktion erstarkt. Darüber hinaus ist es jedoch auch wichtig, überhaupt Veränderungen zu sehen, diese anzuerkennen und sich nicht endlos und ziellos im Kreis zu drehen. Dies gilt ebenfalls für unsere Gefühle, die wir nicht „natürlicherweise“ in uns haben, sondern Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse sind, in denen wir leben. Aus diesem Grund ist „Der Tod des Märchenprinzen“ gleichzeitig hoch aktuell und zum Zeitpunkt seines Erscheinens schon überholt gewesen.

Der Roman ist eine wertvolle historische Milieu- und Subjektivitätsstudie, der in seiner Offenheit, Ehrlichkeit und seiner eingestandenen Prozesshaftigkeit überrascht, allerdings auch viele Fragen aufwirft. Letztendlich schrieb Svende ihn, um über ihre eigenen Gefühle, Ansprüchen und Sehnsüchten zu reflektieren, mit diesen klarzukommen und somit ihren Teil dazu beizutragen, den Märchenprinzen zu töten. Ich vermute, dass ist ihr nach mehr als 300 Seiten und den jahrelangen Gesprächen mit Anschluss daran auch weitestgehend gelungen.

Simone

Svende Merian: Der Tod des Märchenprinzen. Rowohlt Taschenbuch Verlag 1983. 348 Seiten, ca. 14.00 SFr., 978-3499151491