Sebastian Lotzer: Die schönste Jugend ist gefangen Auszug aus dem Buch

Belletristik

7. April 2020

Über 100 Texte, Erklärungen, Zeitungsartikeln, Büchern und Filme zur Geschichte des Bewaffneten Kampfes, der antiimperialistischen Front, aber auch zum Aufstand in Syrien und dem Elend in den palästinensischen Flüchtlingslagern. Auszug aus dem Buch.

Sebastian Lotzer: Die schönste Jugend ist gefangen.
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Sebastian Lotzer: Die schönste Jugend ist gefangen. Foto: Rijndaal (CC BY-SA 4.0 cropped)

7. April 2020
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Eins

Paul kannte das Gesicht nicht mehr. Seit langem hatte er kein Fahndungsplakat mehr gesehen, sie waren in den letzten Jahren rarer geworden. Und wenn er eines gesehen hätte, hätten ihm die Gesichter auch nichts mehr gesagt. Fremd waren ihm die abgebildeten, gejagten Genossen und Genossinnen geworden. So fremd wie ihre Politik.

Er erinnerte sich an den letzten grossen Hungerstreik 1989, kurz vor dem, was später «Die Wende» genannt wurde. zusammenlegung in interaktionsfähige gruppen, keine eskalation zischte es durch alle informellen Kanäle: Richtungsänderung, neue politische Linie, kommentarlos geschluckt von denen, die immer alles nachplapperten, sich sonnten im Glanz der Nähe zu den illegalen. Die, die denen, die nun ihre Körper als Waffen einsetzten, am nächsten standen, oder sollte man besser sagen, stehen sollten, hüllten sich in Schweigen. Von der Kommandoebene keine Stellungnahme, keine Aktion, nichts. Woche für Woche warten.

Die Meldungen machten Angst und Sorge, um Jene, mit denen Paul keine politische Übereinstimmung mehr verband, aber eine Nähe, die sich aus etwas speiste, für das er keinen Namen fand. Als es so aussah, als wenn es jeden Tag den ersten Toten geben könnte, hatte er es nicht mehr ausgehalten. Scheiss auf die ausgegebene politische Linie, die neue gesellschaftliche breite, die lahmen Besetzungsaktionen. Sie waren zu zweit losgezogen, mussten improvisieren, ein Ziel ohne wirkliche Relevanz, aber sie konnten einfach nicht mehr Zuhause sitzen und abwarten. Zwei Tage zuvor war eine Gruppe von Leuten am helllichten Tag in die Frankfurter Börse eingedrungen und hatte Molotowcocktails auf die zentrale Rechneranlage geworfen. Irgendwie war ihnen noch die halsbrecherische Flucht aus dem Gebäude 6 7 gelungen, aber die Polizei nahm wenig später drei von ihnen in der Innenstadt fest.

Paul und Gerd hatten etliche Essentials über Bord werfen müssen: Sie mieteten einen Wagen für die Aktion, weil ihnen die Zeit fehlte, einen zu klauen. Auch fehlte es an der Zeit, eine saubere Wohnung zu besorgen, und ein genaues Auschecken war auch nicht möglich. Aber scheiss drauf. Scheiss auf die Sicherheit, scheiss auf die neue politische Linie. Die Nächte waren noch ziemlich kühl, sodass es nicht auffiel, als sie auf dem Weg zum Objekt ihrer Wahl die Gesichter in den hochgezogen Krägen ihrer Jacken verbargen. Der Zaun, der das Firmenareal umgab, war kein wirkliches Hindernis und bald standen sie nun vor den dunklen Fenstern des Bürogebäudes.

Langsam und vorsichtig holten sie die Flaschen mit dem Benzin-Ölgemisch aus dem Rucksack und reihten sie sorgfältig auf dem Boden auf. Gerd zog einen Zimmermannshammer unter seiner Jacke hervor und wiegte ihn in der Hand. Sie sahen sich beide wortlos an. Paul bückte sich und nahm eine der Flaschen vom Boden, zog ein Feuerzeug aus der Aussentasche seines Blousons und zischte leise: «Jetzt». Merkwürdigerweise fiel die grosse Bürofensterscheibe fast lautlos in sich zusammen. Paul setzte den mit Benzin getränkten Lappen des Molotowcocktails in Brand und schleuderte die Flasche in Richtung der Büromöbel. Die Flasche zerschellte und ein kleiner Feuerball fegte über einen Schreibtisch hinweg. Hastig warf er die restlichen Flaschen, die sie nun nicht mehr entzünden mussten, hinterher. Er stupste Gerd, der fasziniert auf die Flammen starrte, dann sprinteten sie los, sprangen über den Zaun und verschwanden in der Nacht.

Jetzt, wo Paul in der Zeitung die Bilder sah, diese Bilder des Genossen, dessen Name ihm nicht wirklich etwas sagte und dessen Gesicht ihm nicht vertraut war, erinnerte er sich plötzlich an jedes kleine Detail dieser kühlen Nacht im April 1989. Er riss sich aus den Erinnerungen, zwang sich dazu, seine Aufmerksamkeit auf die Porträts in der Zeitung zu richten. Paul konzentrierte sich auf jenes Bild, das den Toten zeigte. Der Kopf mit den üppigen Locken und einem deplatziert wirkenden Schnurrbart lag auf eine ihn befremdende Art und Weise fast aufgebahrt auf dem kahlen Metall einer Eisenbahnschiene. Es hiess, er habe sich selber gerichtet, als er, von mehreren Kugeln aus den Waffen eines GSG 9 Kommandos durchsiebt ins Gleisbett stürzte. Das hiess es immer, das musste es heissen und würde es immer heissen.

Für Paul spielte das keine Rolle. Er spürte ein Verlangen, sich diesem Menschen, dessen Name ihm bis vor ein paar Stunden zwar bekannt, aber nicht vertraut war, näher zu fühlen. Er fühlte eine Schuld aufkommen, dass er diesem toten Genossen in der Vergangenheit nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt und sich in den ruhigen Momenten des Abends nicht das eine oder andere Mal gefragt hatte, wie es denen gerade geht, die vor langer Zeit ein Stück des Weges begleitete. Auch wenn es jetzt andere Menschen waren, die diesen Weg fortsetzten. Weil all Jene, mit deren Gesichtern er vertraut war, schon seit langer Zeit entweder im Knast sassen oder tot waren. Er schaute auf das Bild des toten Genossen und ertappte sich dabei, wie seine Finger zärtlich über das Papier streichelten.

Fünf

Während der Zugfahrt nach Zürich wechselten sie kaum ein Wort. Paul schaute aus dem Fenster, sah die Landschaft vorüber ziehen. Bäume, Wiesen, ab und an eine Ortschaft. Es sagte ihm nichts. Nichts sagte ihm etwas. Er hätte aufgeregt sein müssen, Angst haben, irgendetwas. Aber da war nur diese Leere. Gerd sass ihm gegenüber, blätterte sichtlich gelangweilt in einer Illustrierten. Ab und zu trafen sich ihre Blicke, dann huschte ein Lächeln über Gerds Gesicht. Paul hatte Gerd in all den letzten Monate selten lächeln sehen. Genau genommen nur ein einziges Mal, als sie seinen Geburtstag gefeiert und er etwas theatralisch die Geschenke der Genossen ausgepackt hatte. Und auch dieses Lächeln schien nur der Tatsache geschuldet zu sein, dass er annahm, es werde von ihm erwartet.

Heute aber lächelte er aufrichtig und Paul entdeckte das erste mal feine Fältchen am Rande der Augenpartie. Etwas schien in ihm vorzugehen, etwas zum Vorschein zu bringen, das sonst nur im Verborgenen in ihm schlummerte. Paul wusste nicht viel darüber, was sie erwartete. „Aus Sicherheitsgründen.“ Er wusste nur, dass sie in der Schweiz Genossen treffen sollten. „Aus dem Ausland. Mehr musst du jetzt noch nicht wissen“ Er hatte nicht protestiert, obwohl er sich schon etwas von oben herab behandelt gefühlt hatte. Aber die Rigorosität der Beiden hatte ihn irgendwie eingeschüchtert. Er war auch davon ausgegangen, dass sie zu dritt fahren würden, aber Manfred hatte offensichtlich andere Angelegenheiten zu regeln. Er war darüber nicht wirklich betrübt, denn mit Manfred war er einfach nicht warm geworden. Er strahlte eine Unzugänglichkeit aus, von der Paul nicht wusste, ob sie sich aus einer arroganten Haltung speiste oder ob Manfred sich mit anderen Menschen einfach schwer tat.

Mit einem Ruck glitt die Schiebetür des Abteils auf und riss Paul aus seinen Gedanken. „Die Pässe bitte, meine Herren.“ Der Uniformierte schaute sie freundlich an. Was Paul irritierte, denn es war lange her, dass er so von einem Bullen so förmlich angesprochen worden war. Er zog sein Portemonnaie aus der Gesässtasche, was etwas umständlich war, weil der Grenzschutzbeamte direkt vor ihm stand und er deshalb nicht einfach aufstehen konnte. Er nestelte seinen Pass aus der Brieftasche und reichte ihn dem Uniformierten. Dieser blätterte gelangweilt darin herum. Gab das Dokument an Paul zurück und wandte sich Gerd zu. Paul spürte sein Herz bis in den Magen schlagen, ihm wurde übel und er hatte Angst sich übergeben zu müssen. Ihm war völlig klar, dass diese urplötzliche Panik völlig unangemessen war.

Sie waren völlig sauber, hatte keinerlei sie belastende Sachen dabei.Aber jetzt kamen all die unterdrückten Gefühle, die insgeheime Anspannung hoch. Der Bulle hatte unterdessen auch Gerd das Personaldokument zurück gegeben und ging nun in den Gang zurück. Als er die Abteiltür zuschob traf sich durch das Glas der Schiebetür hindurch sein Blick mit dem von Paul. Paul hätte schwören könne, dass der Bulle ganz kurz zusammenzuckte, zögerte. Aber dann nickte er Paul nur kurz zu und ging den Gang hinunter zum nächsten Abteil. Gerd musterte ihn sorgenvoll. „Was ist denn mit dir los?“

„Ich weiss nicht, mir ist mit einmal schlecht geworden. Vielleicht ist mir das Hackepeter Brötchen im Speisewagen nicht bekommen.“ Gerd steht auf und wechselt die Seite, setzt sich neben Paul. Legt ihm die rechte Hand auf den Unterarm. Ein leichter Druck, nicht unangenehm, aber auch nicht mitfühlend.

„Ich mag dich gerne, aber wenn dir die ganze Geschichte eine Nummer zu gross ist, muss du das rechtzeitig begreifen. Und Konsequenzen ziehen. Wir brauchen jeden, der mit uns diesen Weg geht. Aber nicht, wenn er sich dabei übernimmt.“

Paul schämt sich. Ist wütend. Wütend auf sich selbst, wütend auf Gerd. Wütend auf alles mögliche. Auf das Chaos in seinem Kopf, wo sonst alles an seinem Platz ist. Er will das hier. Will nicht wieder in diese Szene mit all ihren Halbheiten und Unaufrichtigkeiten zurück. Vieles was er in den letzten Monaten gelesen hat, ist ihm trotz aller Anstrengungen fremd geblieben. Besonders die Texte aus Italien. Die Biene und der Kommunist. Er hatte nicht einmal die Hälfte nur ansatzweise verstanden. Aber hier ging es darum, wirklich zum Angriff zu kommen. Das faszinierte ihm. Darum war es doch auch in ihrer Bewegung gegangen. Nicht um eine andere Wohnungspolitik oder alternative Lebensformen.

Sondern um den unbedingten Willen zur Konfrontation, das Schweinesystem anzugreifen. Mit allen Mitteln. Mit aller notwendigen Entschlossenheit. Deshalb war es ihnen gelungen, den Kudamm in Scherben zu legen, den Bullen in Kreuzberg und Schöneberg die Hölle heiss zu machen. Aber die Bewegung war Geschichte. Jetzt gab es fast nur noch Klüngel und Kriegsgewinnler, die mit Senatskohle ihre ehemals besetzten Hütten aufpolierten. Die Kleinbürger kehrten zu ihren Wurzeln zurück, war bei den 68igern nicht anders gewesen.

Zurück blieben Jene, für die es nicht einfach ein Zurück in ein bürgerliches Leben geben konnte, weil es ihnen schon per se verwehrt worden war. All die jugendlichen Streuner und Entwurzelten, die an diese Bewegung geglaubt hatten, die gehofft hatten, dass es endlich auch einmal um sie gehen würde.

Und jene, denen es nach wie vor um Alles ging. Die nicht an eine wirkliche Umwälzung hier in diesem Lande glauben mussten oder zu hoffen wagen, aber die Notwendigkeit der Anstrengung sahen.

Es kann keine perspektive zur zerstörung des imperialistischen systems geben, solange die perspektive der zerstörung in seinen macht-, kommando- und produktionszentren nicht eröffnet ist. das heisst, solange die politik nicht materielle gestalt geworden ist, die als relevante kraft im internationalen kampf, in ihrer realen bewegung, den zielen und der kontinuität, den willen und die möglichkeit zum ende des systems zeigt. erst dann wird ein revolutionärer sprung denkbar. der imperialismus bricht nicht an sich selbst zusammen.

Nein, er wollte diesen Weg gehen. Er sah keine andere Möglichkeit für sich. Er würde seine Angst in den Griff bekommen. Bei der ersten Strassenschlacht hatte er auch Angst gehabt. Angst war okay. Sie machte wach, sie hielt einem am Leben. Man musste nur lernen, mit ihr umzugehen. Sie verstecken zu können,wenn es notwendig war.

Er sah Gerd direkt in die Augen. „Ich krieg das hin. Vertrau mir.“

Der schien erleichtert, stand auf und ging ans Zugfenster. Zog das obere Drittel hinunter und lugte hinaus. Der Fahrtwind spielte mit seinem kurzen Haar und ein Lächeln umspielte seine Lippen. Paul stand ebenfalls auf und gesellte sich zu ihm, hielt auch sein Gesicht in den Wind. Spürte, wie sich Gerds Arm um seine Schulter legte, ihn leicht an sich zog. Soviel Körperkontakt hätte er ihm gar nicht zugetraut. Er fühlte sich wohl neben ihm, seinem Genossen, der vielleicht, nein sicher, auch sein Freund werden würde. All die Angst war verschwunden, der Bauch war nun warm und entspannt. Er war glücklich auf dieser Reise ins Ungewisse.

Sebastian Lotzer

Auszug aus dem Buch - Sebastian Lotzer: Die schönste Jugend ist gefangen. bahoe books 2019. 200 Seiten. ca. 18.00 SFr. ISBN: 978-3903290037