Zum Tod von Nanni Balestrini «Wir wollen alles»

Belletristik

21. Mai 2019

Nanni Balestrini war Redakteur der Zeitschrift Il Verri, Mitbegründer der Gruppe Potere operaio und wichtiger Unterstützer der Autonomia-Bewegung. Am 20. Mai 2019 ist der Schriftsteller und Chronist in Rom verstorben. Ein Nachruf auf den politischen Aktivisten.

Nanni Balestrini.
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Nanni Balestrini. Foto: PD-ITALIA

21. Mai 2019
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Es gibt Angelegenheiten, die sind so unmittelbar, so unvermeidlich, dass sie schon irreal scheinen. Noch am Sonntagnachmittag sass ich im Kreuzberger Mehringhof am Rande der Linken Buchtage mit meinen Verlegern von Bahoe Books zusammen und wir haben über Nanni Balestrini gesprochen. Ich hatte ihn gemeinsam mit einem Genossen angeschrieben, ob er sich vorstellen könne, einen Beitrag zu der Geschichte des antagonistischen Widerstandes in Italien für unseren geplanten Sammelband zu schreiben. Er hatte zu meiner Überraschung geantwortet, dass er sich das gut vorstellen könne, es ihm aber zurzeit gesundheitlich nicht so gut gehe.

Ich wusste darum, dass er angeschlagen war, hatte nicht einmal damit gerechnet, dass er uns überhaupt antworten würde. Die vage Vorstellung, einen Beitrag von Nanni in unserem Buchprojekt veröffentlichen zu dürfen, trieb mir schon die Tränen in die Augen. Heute Vormittag, nur einige Stunden nach dem Gespräch im schattigen Innenhof in Kreuzberg, erreichte mich dann die Nachricht, dass Nanni gestorben ist.

Ich habe in meinem Leben nicht besonders viele Bücher besessen. Mir schien es immer unnötiger Ballast, die vielen Bücher, die ich gelesen habe, fein säuberlich aufgereiht in Regalen in meinen Wohnungen zu stapeln. Viele der Bücher, die ich mir dann doch gekauft habe, befinden sich nicht mehr in meinem Besitz. Ich habe sie irgendwann verliehen, ganz vergessen, dass ich sei einmal besessen habe. Bei dem einem oder anderen Buch fällt mir das Fehlen dann nach Jahren auf, weil ich mich an etwas erinnere und das Buch dann vergeblich in meinem Bücherregal suche. Im Allgemeinen ist es dann aber ganz in Ordnung, wenn ich es nicht finde, weil ich davon ausgehe, dass es jemanden anderes dienlich ist.

Unter den Büchern, die sich noch oder wieder in meinem Besitz befinden, weil sie den Weg zu mir zurückgefunden haben, gibt es ein Buch, dass sich in einem bedauerlichen Zustand befindet. Es ist völlig abgegriffen, wenn man es aufschlägt, fallen einem lose Blätter entgegen. Ich habe dieses Buch nur ein einziges Mal verliehen und diese Tatsache an keinem der Tage vergessen, an denen es sich nicht in meinem Besitz befand. Manchmal, wenn ich etwas schreiben oder recherchieren will und mich Ohnmacht oder Ratlosigkeit überkommt, gehe ich zum Bücherregal und hole "Die goldene Horde" von Nanni Balestrini und Primo Moroni hervor und lese darin.

Vielleicht, nein sogar sicherlich, hätte ich mein erstes Buch "Begrabt mein Herz am Heinrichplatz" ohne Nanni Balestrini nie geschrieben. Nicht dass ich über die sprachliche Brillianz oder gar die politische und analytische Tiefe von Nanni verfügt hätte. Und doch wollte ich mit meinen bescheidenen Mitteln dafür sorgen, dass nicht in Vergessenheit gerät, wer wir einmal waren, wie viele wir waren und wie es sich damals angefühlt hatte, als wir nach den Sternen griffen. Nanni besass die Fähigkeit, einen teilnehmen zu lassen an der Unmittelbarkeit der Kämpfe. Er erzählte u.a. in „Wir wollen alles“ von der umfassenden Revolte der Jugend im Italien der 70iger, die nicht länger bereit war, ihr Leben sinnlos an einem Fliessband des industrialisierten Nordens zu fristen, er liess uns teilhaben an der Revolte der Stadtindianer und Frauen, die sich auch und gerade gegen all die leninistischen Parteien und Organisationen der radikalen italienischen Linken richtete.

Später dann folgte die Erzählung „Die Unsichtbaren“, ein Versuch, die Härte der Niederlage der 77iger Bewegung in Worte zu fassen. Nach der Entführung und Hinrichtung von Aldo Moro, dem damaligen Vorsitzenden der italienischen Christdemokraten durch die Roten Brigaden, brach eine unglaubliche Repressionswelle über die radikale Linke herein, die damals hunderttausende von Anhänger hatte. Über 20.000 Menschen wurden inhaftiert, Tausende mussten ins Ausland fliehen, unter ihnen Nanni Balestrini.

Viele der Inhaftierten schworen im Knast ab, einige wurden auch zu Verrätern. Unter den Gefangenen herrschte eine unglaubliche Härte, Einige, die Aussagen gemacht oder abgeschworen hatten, wurden im Knast von den eigenen Leuten umgebracht. Von all dem, aber auch dem Versuch im Knast Mensch zu sein, von Solidarität und Revolte erzählte Nanni Balestrini wie kein anderer. Auch von der Leere und der Einsamkeit, die auf die Jahre der Revolte folgten, die sich hinter Gittern noch umso so trostloser und grausamer anfühlten.

Nanni Balestrini hat später einmal in einem Interview gesagt, er verstehe sich nicht mehr als politischer Aktivist, sondern als Schriftsteller und Chronist. Er experimentierte mit Sprache wie kaum ein anderer, in seinem 1992 auf Deutsch erschienenen Buch „Der Verleger“ verzichtete er konsequent auf Satzzeichen, spielte mit den Erwartungen an Grammatik und Satzbau. Nun wird er keine Erzählungen und Gedichte mehr veröffentlichen, wird keine Interviews mehr geben, wird auf keinen Veranstaltungen mehr auftreten, nicht mehr bei Kaffee und Wein mit Genoss*innen diskutieren und berichten.

Er hat uns allein gelassen mit all unseren gescheiterten Träumen und Hoffnungen. Aber er wird uns immer daran erinnern, dass wir glücklich waren, in jenen Jahren, als wir jeden Tag revoltierten, als wir Supermärkte geplündert haben und ohne Eintritt zu zahlen ins Kino gegangen sind. Als wir nicht wehrlos unseren Todfeinden gegenüberstanden. Er wird immer ein Teil von uns bleiben, weil diese Leerstelle, die er hinterlässt, nicht und niemals gefüllt werden kann. Ciao Nanni.

Sebastian Lotzer

Nanni Balestrini: Wir wollen alles. Assoziation A, Berlin 2003. 168 Seiten. ca. 28.00 SFr., ISBN: 978-3935936231