Autor*innenkollektiv nous: nous – Konfrontative Literatur Und plötzlich stürzte mein Vater bei der Arbeit

Belletristik

5. August 2020

Wie steht es um den Anspruch eines jungen Redaktionskollektivs, neuer klassenbewusster Literatur und politischer Ästhetik eine Bühne zu bieten?

Henkel Fabrik Gerresheimer Strasse 171, Düsseldorf, 1916.
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Henkel Fabrik Gerresheimer Strasse 171, Düsseldorf, 1916. Foto: Fotograf unbekannt (PD)

5. August 2020
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„Während ich den Löffel aus dem Mund zog, blickte ich aus dem Fenster und bemerkte die schiefe Haltung von Vater. Zwischen den Mietgaragen, die wir uns nicht leisten konnten, warf er seinen Fuss mit einer Eigenart nach vorn, als wäre sein rechtes Bein knieabwärts aus Pappe. (…) Mit jedem Schritt konnte er umknicken und stürzen. Das erschütterte mich. Ich spürte eine Mischung aus Scham und Wut.“ (S. 183)

Ein Junge sieht seinen Vater zur Nachtschicht in die Fabrik gehen und verliert auf einmal den kindlichen Glauben an dessen Unverwundbarkeit. Mit dieser Anekdote beginnt das Manifest des Schriftsteller*innen- und Autor*innen-Kollektivs nous in der zehnten Ausgabe ihrer gleichnamigen Zeitschrift, niedergeschrieben von Mesut Bayraktar, einem Redaktionsmitglied. Es widmet sich der Frage: Warum konfrontative Literatur? Der kurze Einblick legt einen persönlichen Bezug zur Arbeiter*innenklasse nahe und gibt der Literaturproduktion die Funktion einer Zeugenschaft als Nachkommen.

Das schockierende Eingeständnis der Verletzlichkeit des (arbeitenden) Vaters ist ein Motiv, das wir auch bei anderen zeitgenössischen Autor*innen wie dem französischen Schriftsteller Édouard Louis vorfinden. Dieser Schock führt zu Scham und zu Wut: Scham darüber, dass sich der Vater nicht wehrt und Wut über die ungerechten Ausbeutungsverhältnisse. Das Motiv dient dazu, die Zerstörungskraft der kapitalistischen Klassengesellschaft mittels der zerstörten Körper, Psychen und Beziehungen der (Gast)Arbeiter-Väter darzustellen. Zugleich manifestiert es die persönliche Suche nach diesen Vätern, zu denen die Verbindung wegen sozialem Aufstieg oder Sprachbarrieren abgebrochen oder zerrüttet ist. Auch beim Manifest von nous ist dieses Thema zentral.

Konfrontative oder politische Literatur soll, wie das Kollektiv schreibt, den Kampf gegen diese Ungerechtigkeit aufnehmen, die den Vätern – und mit ihnen auch den Frauen, den Migrant*innen und allen anderen Entrechteten – widerfahren ist; die sie entfremdet, ausgebeutet und vergessen hat. Mit erhobenem Stift wollen sie sich wehren, anklagen, aufzeigen – konfrontieren. Werden sie ihrem Anspruch gerecht?

Für eine klassenbewusste Literatur

Neben dem Manifest, mit dem sich das Kollektiv selbst eine klare Richtung und Haltung geben möchte, versammelt die Ausgabe eine ganze Bandbreite von Texten verschiedener Genres, die nicht alle politisch und nicht alle von gleicher Qualität sind. Die meisten von ihnen sind aus der Redaktion selbst, es gibt wenige Gastbeiträge. Es zeugt zum einen von der unorthodoxen Arbeitsweise des Kollektivs, dass die Ausgabe es ermöglicht, sowohl Geschichten über einen Grafen aus dem Mittelalter als auch über intellektuelle Selbstreflexionen mit marxistischen oder ideologiekritischen Analysen zusammenzubringen. Gleichzeitig weicht es aber die politische Haltung des Bandes und des Kollektivs insgesamt etwas auf.

In einer Zeit, in der die linken Parteien international um ihren Bezug zur Klasse ringen, den sie seit Jahren (oder auch Jahrzehnten) an die rechtspopulistischen Formierungen verlieren und in der die Kulturproduktion zunehmend marktgerecht sein muss, erscheint es wichtig und richtig, sich nous' Vorschlag einer neuen klassenbewussten Literatur genauer anzuschauen. Das Manifest enthält im Wesentlichen sechs Punkte. Aus den philosophischen Kokons herausgeschält könnte man sie wie folgt fassen:

I. Ausgangspunkt des Schreibens von konfrontativer Literatur ist der persönliche Bezug, die persönliche Konfrontation.

II. Es geht darum, eine materialistische Sprache zu finden. Nicht die Sprache soll die Welt definieren, sondern die Sprache soll die Welt und die Lebenszusammenhänge in einer Klassengesellschaft wiedergeben. Und zwar speziell dort, wo Ohnmacht der Sprache – bei den migrantischen Eltern oder verstummten Arbeitenden – herrscht, soll sie Verständnis schaffen und die trennende Sprachlosigkeit überwinden.

III. Die Konfrontation der Klassen soll im Geschriebenen dargestellt werden. Es soll um die Orte und Geschichten gehen, wo Klassen und Klassenkampf sichtbar und spürbar ist. Konfrontative Literatur muss fragen: Wer ist heute die Klasse? Nur so kann Literatur einen Beitrag zur Vision einer klassenlosen Gesellschaft leisten.

IV. Konfrontative Literatur soll auch die Leser*innenschaft konfrontieren und sie zum Nachdenken über ihre eigenen Klassenposition anregen. Sie soll investigativ vorgehen, Wirklichkeit darstellen und Empathie schaffen für ihre Held*innen und die von ihnen erlebte Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung aufzeigen.

V. Subjekte der Geschichten sind die „Besiegten, die Geschlagenen, die Gedemütigten“.

VI. Die konfrontative Literatur lernt aus ihrer Geschichte, der Geschichte der klassenkämpferischen Literatur.

Das Manifest mit seinen Überlegungen ist ein wichtiger Beitrag zu einer Diskussion der gegenwärtigen politischen Ästhetik. Spätestens mit der Corona-Krise besteht kein Zweifel mehr an der Krisenanfälligkeit des Kapitalismus und daran, dass sie am Ende mit der Aufforderung „Seid solidarisch!“ auf die Lohnarbeitenden abgewälzt wird. Vielleicht aber ist es sogar diese Krise, die der neoliberalen Ära ein Ende bereitet. Wir brauchen Geschichten über die sozialen Zerwürfnisse und die Kämpfe dagegen. Wir brauchen eine klassenbewusste Kultur. Und dieses Manifest fordert die Rückkehr zu einem politischen und sozialen Realismus! Das ist ein wichtiger Vorstoss.

Allerdings enthält das Manifest sehr viele philosophische Anspielungen, die den Text unnötig verkomplizieren. Das Kollektiv, das aus sechs Männern und zwei Frauen besteht, gendert nicht und es erwächst zudem der Verdacht, dass die Autor*innen neben der Klassenfrage und ihrer Beschäftigung mit den Vätern die Geschlechterfrage und die Beziehungen zu ihren Müttern und Freundinnen* vergessen, die als Frauen* doppelt ausgebeutet werden. Man müsste das Manifest daher dringend auch um den Punkt der Intersektionalität ergänzen.

Die Klasse ist noch nicht besiegt

Ein schönes Gedicht im Band ist „Es ist stickig drinnen“ von Andrej Bill, in dem es um gehorsames Schweigen geht. Es beschreibt das Gefühl, innerhalb eines Betriebes einer Art Sprachzensur, also permanenter dicker Luft, ausgesetzt zu sein. Wer hier Kritik am Chef, am Arbeitgeber oder gar den Arbeitsbedingungen äussert, kann schon mal den Job riskieren. Das ist zwar kein direktes Verbot, aber eine marktförmige, demokratietaugliche Aufforderung zur Selbstzensur. Dem Arbeiter im Gedicht scheint es unmöglich, daraus auszubrechen. Diese Ohnmacht ist an mehreren Stellen des Bandes zu lesen.

Im Manifest ist die Klasse mit den Worten „die Besiegten, die Geschlagenen, die Gedemütigten“ umschrieben. Daran knüpft auch der Beitrag von Mesut Bayraktar mit dem Titel „Besiegte“ an. Die Geschichte erzählt von einem türkischen Familienvater der „Gastarbeiter*innen“-Generation der 60er Jahre und der Demütigung, die er auf dem Arbeitsamt erlebt. In der Geschichte geht es weniger um den Grund, warum er, Yürekli, überhaupt zum Arbeitsamt muss, als vielmehr um seine Empfindung von Ohnmacht gegenüber dem bürgerlichen bürokratischen Apparat und seiner Resignation und Vereinzelung als Arbeiter.

Er fühlt sich wie ein gebrochener Bittsteller, nicht wie einer, der ein Recht auf Arbeitslosengeld hat. Der Erzähler beschreibt an seinem Beispiel die Gefühlswelt eines Arbeiters – mit marxistischen Kategorien. Dadurch wirkt dieser Yürekli stellenweise eher wie eine Abziehfigur, anstatt einer Person aus dem realen Leben. Er wolle „doch nur ein guter Vater sein und ein guter Ehemann, ein Held (…) für seine Kinder“ (S. 118), will er zuhause seinem Sohn erklären. Doch statt ihm entgegenzutreten, schweigt er, betrachtet seinen Körper im Spiegel und betäubt dann seine Entfremdung im Alkohol.

Eine traurige Geschichte. Doch wo ist hier die Konfrontation? Woher kommt dieser allwissende Erzähler, der sich in den Vater einfühlt und ihn irgendwie bemitleidet? Kurzum: Warum ist die Geschichte nicht aus der Sicht des Sohnes erzählt? Würde das nicht mehr Widersprüche zulassen; würde es nicht die tatsächlich relevante Frage stellen, was wir, die wir noch nicht aufgegeben haben, heute aus diesem Schicksal lernen? Nicht zuletzt liesse dies auch eine andere Perspektive zu: eine, in der wir nicht die Besiegten sind, sondern den Kampf noch vor uns haben.

Maja Tschumi
kritisch-lesen.de

Autor*innenkollektiv nous: nous – Konfrontative Literatur. 10. Ausgabe, 2020. 198 Seiten. ca. SFr. 14.00. ISBN: 978-3-9821581-0-5

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