Die Vor- und Nachteile des Hamsterrades Frisch, Fromm, Fröhlich und Frei

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7. Juni 1995

Der Vater, nennen wir ihn Jürg, erfreut sich seit kurzem über die Tatsache, dass ihr gemeinsamer Hausarzt, der sich Dr. Schilling nennt, seiner Frau, der guten Barbara, bei ihrem letzten Besuch eine Packung Valium gegen ihre nervlichen Störungen verschrieben hat.

Frisch, Fromm, Fröhlich und Frei.
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Frisch, Fromm, Fröhlich und Frei. Foto: Diego Delso (CC BY-SA 3.0 cropped)

7. Juni 1995
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Barbara war in letzter Zeit des öfteren so schrecklich ver- und angespannt. Dazu kamen noch die hässlichen Einschlafstörungen, unter denen sie hart leiden musste.

Das Rezept, das ihr der Doktor ausgestellt hatte, hat ihr bis zum heutigen Tag gute Dienste geleistet.

Da sie nach der Einnahme ihrer täglich verordneten Tabletten die Welt plötzlich wieder viel besser verstehen konnte, war die erste Packung dieser Wunderdinger natürlich schnell verbraucht. Und so eilte die brave Barbara geschwind in die naheliegende Apotheke, in welcher ihr das aufgestellte junge Fräulein mit einem schneeweissem Lächeln eine neue Packung der Fröhlichmacher in die Hand drückte.

Trotz gewissen anfänglichen Bedenken von Seiten ihres Mannes ("Schätzli du weisch, Pharmazeutika isch käs Chinderspielzüg"), ist dieser nun aber vollauf begeistert und entzückt über die positiven Auswirkungen, die diese kleinen weissen Dinger auf seine Angetraute ausüben.

Mit Wohlwollen beobachtete er die Veränderung, der sich sein Spätzli in den letzten paar Wochen unterzogen hatte. Auf einmal kann seine Barbara viel mehr Geduld und Anteilnahme aufbringen; nicht nur im Anhören seiner dramatischen Schilderungen des Arbeitstages, sondern auch, und das liegt ihm noch viel mehr am Herzen, in der nervenaufreibenden Erziehung des gemeinsamen Sohnes Lukas.

Jürg entspricht dem Paradebeispiel des sozialkompatiblen Typs, der mit beiden Beinen leistungsorientiert und aufstrebend durch die langen Korridore der anonymen Bürowelt wandelt. Als leitende Führungskraft kann er sich glücklich schätzen, wenn ihn sein neuerstandener BMW mit Seitenaufprallschutz und Bordcomputer vor 21 Uhr in die heimatliche Garage fährt.

Barbara, die jetzt frei und autonom mit dem Audi in ihr Büro fahren kann, wartet dann jeweils vor dem Fernseher mit dem Abendbrot auf ihn, was heissen will dass sie ihm ein Fertigmenü von Linea cuisine in den Mikrowellen schiebt.

So sitzt dann die treue Ehefrau ihrem Mann gegenüber, und schaut ihm gehorsam mit einem unterwürfigen und etwas abwesenden Blick beim Essen zu, während der seine konzentrationsschwache Bettgefährtin mit Anekdoten und Intrigen aus dem spannenden Büroalltag langweilt.

Seit er vor einem Jahr die langersehnte und verdiente Beförderung erhielt, sieht der Arme des Abends doch zusehends mitgenommener aus. Seine Berichte fallen nicht mehr so überschwänglich und enthusiastisch aus wie anno dazumal und auch seine Launen werden mit jedem Tag gereizter.

Überhaupt haben sich seine jugendlichen, frischen Gesichtszüge in den letzten paar Jahren extrem verhärtet; das Gesicht verbittert, kein Lachen, kein ähnlicher Laut, die Miene gefroren, der Mund schmal, vom Ehrgeiz getrieben.

Leider kann er so die neugekaufte Parabolantenne, die endlich unendlich viele TV-Programme über den Bildschirm flimmern lässt, nicht richtig schön auskosten, da er meistens vor dem Fernseher eindöst. Dies tut jedoch ihr ehemaliges Familienglück, Lukas, der damals bei seiner Geburt die bröckelnde Beziehung seiner zerstrittenen Eltern wieder kittete. Er war so ein prachtvolles und rosarot herziges Baby, zum Ansehen und Anfassen und Kuscheln.

Damals. Jetzt sieht er seine Eltern kaum noch, denn seit seine Mutter, die fleissige und ordnungsliebende Barbara, ihre innerliche Leere mit einer ganztägigen Arbeit auffüllt, hat er das schnuckelige Einfamilienhäuschen mit seinen acht Zimmern für sich alleine. Und am Abend sitzt er dann in seinem Zimmer vor dem Computer und spielt lustige Spiele mit ihm oder schaut sich in seiner Glotze tolle Videofilme an.

Mit seinen fünfzehn Jahren ist es nun doch erstaunlich ruhig um ihn geworden. In seinen jungen Jahren war er noch ein aufgewecktes Bürschchen der allerlei Schabernack und Unfug im Kopf hatte, doch Mami und Papi warenüber seine anregende Phantasie meistens eher verärgert als erfreut.

Doch an diese Zeiten erinnern nur noch die alten, verstaubten Aufnahmen von Papi's Videokamera. Und als vor einigen Tagen das ehrenwerte Familienoberhaupt in der guten Stube schmerzerfüllt an einem Herzinfarkt zu Grunde ging, bekam der kleine Sprössling nichts davon mit, weil die Todesschreie seines Herrn Papa von den Kanonengeschützen des Kriegsfilmes, den er sich gerade anschaute, übertönt wurden.

U.v.d.H.