Aus Sage und Überlieferung Krawatten-Geschichten aus Süddeutschland

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25. März 2000

Krawatten-Geschichten aus Süddeutschland.
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Krawatten-Geschichten aus Süddeutschland. Foto: Brian Kohn (CC BY-SA 2.5)

25. März 2000
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I. Der leidende Angestellte

Der leitende Angestellte hat Depressionen. Er sieht seine Ehe in Gefahr. Durch die beruflichen Anspannungen fühlt er sich seiner Ehe nicht mehr gewachsen. Seine Frau braucht Zuneigung. Zärtlichkeit. Zuwendung. Den ganzen Zinnober. Er steht unter zunehmender Anspannung. Seine Libido lässt stark zu wünschen übrig. Er hat schlecht geschlafen. Am Morgen vergisst er seine Krawatte anzulegen. Seine Gattin versäumt, ihn auf diesen Umstand hinzuweisen. Inzwischen hat sie einen Liebhaber.

Verdenken kann man es ihr nicht. Viel los ist bei ihnen wirklich nicht mehr. Vielleicht ist sie in Gedanken bei ihm. So geht er nichtsahnend ohne Krawatte in sein Büro.

Dort erkennt ihn ohne Krawatte niemand. Alle Augen sind immer auf Höhe der Krawatten, nur der Chef darf seinen Kopf geradeaus in die Höhe halten. Gesichter kennt man dort nicht.

Niemand erkennt den leitenden Angestellten. Als er lästig wird und immer wieder die selben hilf,- und haltlosen Beteuerungen wiederholt, ergreifen sie ihn, schlagen ihn in Bande, geben ihm Essig zu trinken, geisseln ihn, binden eine Dornenkrone um sein Haupt und schlagen ihn an ein Kreuz. Nachdem sie ihn den ganzen Nachmittag bespien haben wird der Chef streng und lässt die Zeit nacharbeiten, was ihren Hass nur bestärkt, sie werfen das Kreuz hinaus, neben den Betriebsmülltonnen bleibt der ganze Kladderadatsch liegen.

Die Firma kann den Verlust leicht verschmerzen.

II. Eros

Verschlafen wachte der leitende Angestellte auf. Ihm hatte geträumt sein Chef hätte ihn befördert und mit seiner Tochter verheiratet. Diese war blond und überhaupt wunderschön. Und wahrscheinlich eine Naturgewalt in der Horizontalen.

Alles war unkompliziert ververlaufen: genau wusste er nicht mehr wie er wieder ledig geworden war, vermutlich hatte ein Blitz seine bisherige Gattin erschlagen, oder sie warbedauerlicherweise in einen Brunnenschaft gefallen, oder am Ende hatte eine ekelhafte und leider nicht heilbare Krankheit sie hinweggerafft.

Es stand ihm also nichts mehr im Weg, um mit der Tochter des Chefs mal was loszumachen wie er es immer in seinen geilen Wichsheftchen studieren konnte.

Hatte er sich auch nach all den Jahren mit im Durchschnitt (langjähriges Mittel) einem Geschlechtsverkehr pro Woche (seine Frau und er nannten das Ganze wirklich immer "Geschlechtsverkehr" weil ihnen dieser Ausdruck durch seine Distanziertheit emotionale Beklemmungen und Peinlichkeiten ersparte) wirklich verdient, dass es mal richtig abging und so. Heiter stand er auf. Leider sind Träume Schäume, dachte er bei sich.

Zum Bad und pflichtbewusst mit dem Elektrorasierer durch das Gesicht. Sorgsam auf die optimale Haarentfernung achtgebend. Aftershave mit routiniertem Handgriff verteilen wenn nichts mehr bekleckert werden kann, anziehen. Irgendwie war er noch nicht ganz auf dieser Welt angekommen. Seine Gedanken kreisten um die komplexen Leiberverknotungen mit mit seiner zweiten Gattin.

Er griff nach seiner Krawatte. Etwas rührte sich bei ihm. Psychologen würden vermutlich von einer Objektübertragung gesprochen haben.

Die Krawatte wanderte nicht um den Hals. Komplizierte Vorgänge im Unbewussten liessen ihn das Kleidungsstück nebst dem zugehörigen hochprofessionellen Knoten zwischen seinen Beinen ausführen. Jäh hatte ihn die Wirklichkeit wieder. Gellend schrie er auf. Mit einem Ruck hatte er sich seine immer noch recht pralle Angestelltenmännlichkeit stranguliert.

Die brutale Blutabschnürung quittierten die hochsensiblen Organe mit spontanem Gewebstod. Wimmernd wand er sich in der Diele der Angestelltenwohnung. Mit seiner beruflichen Karriere war es in der Folge, vorbei. Durch das Ausbleiben der in den bewussten Organen gebildeten Hormone veränderte sich seine Stimme sehr sehr unangenehm.

Was ihn aber für sein bisheriges Umfeld gänzlich untragbar werden liess, war eine nun einsetzende fast groteske Verfettung.

Für seine angestammte Position war er, da in keiner Weise präsenabel, vorbei. Ihm wurde gekündigt. Die sozialen und Statusbedürfnisse seiner Frau waren durch ihn nicht mehr befriedigen. Sie liess sich scheiden und fand bald wieder einen anderen Angestellten in leitender Position. Er vermochte mit der Schmach des beruflichen und sozialen Abstieges in seiner sozialen Umgebung nicht weiter zu leben. Er verliess das Land und siedelte nach Marbella über. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten schaffte er es, eine Hausmeistertätigkeit in einer Ferienhaussiedlung anzunehmen,

III. Thanatos

Heute Morgen war der leitende Angestellte verschlafener als es sonst für gewöhnlich der Fall zu sein pflegte. Normalerweise beflügelte der Gedanke an seine geliebte Arbeit ihn bei seinem Erwachen ganz ungemein.

Heute kam er sich vor, als sei er nicht ganz bei der Sache. Er verrichtete seine üblichen Handgriffe, allerdings fast leblos, mechanisch. Sorgfältig wählte er eine Krawatte aus und begann sie anzulegen.

Wie er die Wohnung verliess, verspürte er Atemnot und Beklemmungen. Er musste das Kleidungsstück wohl etwas zu fest zugezogen haben.

Er hatte jedoch keine Zeit mehr, er war schon später als gewöhnlich. Keuchend hastete er zu seinem Fahrzeug, einem grün-metallic Audi Quattro, ein Fahrzeug wie man es für gewöhnlich in seiner sozialen Position zu benutzen pflegte.

Eben wollte er den Wagenschlag öffnen, da stockte sein Atem. Er lief grün und blau an und brach zusammen.

Mit letzter Kraft und erlahmendem Willen versuchte er den Krawattenknoten aufzuzurren. Fast war es, als lebte dieses Kleidungsstück. In dem Masse, wie er daran zerrte, schien es seinen Widerstand zu verstärken. Wie eine mit gewaltigen Kräften ausgestattete Schlange. Seine Hand wurde schlaff und kraftlos. Seine Augen wurden starr und blicklos.

ub