Im Auftrag der Partei-Mission: Tod der Mittelschicht Chance 2000

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8. Juni 1999

Das Leben lehrt uns: wahre Visionen ergeben sich oft aus dem Diktat des Augenblicks... Bis ich dem halb entmenschten Chance-2000 Publikum begegnete, wusste ich nichts von meiner Sendung als Prophet Missionar und Visionär der APPD.

Chance 2000.
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Chance 2000. Foto: roanokecolleg (CC BY 2.0)

8. Juni 1999
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Ein einziger Abend im Frühsomer des unseligen Wahljahres schockierte mich mit der bitteren Wahrheit über Studenten, Demokratie und Mittelschichtsideologie! Der Absturz in das Herz der Bestie begann mit einer Einladung auf der Chance-2000-Wahlparty der Breisgaumetropole Freiburg etwas aus meinen Abhörprotokollen aus höchsten Kreisen dieser merkwürdigen Republik vorzutragen.

In der gebotenen Hast stürzte ich von meiner Brotarbeit zum Austragungsort dieses Spektakels. Das Ganze sollte im "Vorderhaus" stattfinden, ein Platz, wo sich etwas vorgealterte Protest- und Katholikentagslinke normalerweise ihre Dosis Kabarett und Kleinkunst verpassen.

Bei der Ankunft stellte sich heraus, wenig war organisiert, alles viel zu spät und diverse Jungkünstler heftig an einer überaus soliden Dosis Lampenfieber laborierend. Die Veranstalter glänzten durch Abwesenheit und langsam füllte sich die Halle mit einem etwas fies wirkenden Mob. Mich fröstelte! Wenn sich meine Instinkte noch nicht völlig verstumpft hatten wehte aus dem Publikum eine heftige Prise Duft der Pädagogischen Hochschule! Da sich nichts zu tun schien, regte ich die Diskjockeys zu einem kleinen Einsatz an.

Nach gutem Zureden trauten sie sich, da man normalerweise nichts ohne konkreten Befehl tut, eine schwere, aber lohnende Geburt. Der Abend nahm seinen Lauf. Irgend jemand schaffte nach einiger Zeit moderner Beschallung einen Film in Gang zu setzen.

Leider traten wohl technische Probleme oder etwas in dieser Grössenordnung auf, so dass die Betrachtung einen Einsatz erforderte, den das Publikum auch nicht im entferntesten zu leisten bereit war. Der Film wurde gestoppt. Das Publikum zischelte und buhte, verwechselte es Zeit und Raum, sah es sich plötzlich im "Sportpalast" verortet? Es drohte ein Infotainment-Vakuum. Unterhaltungskünstler wurden in Marsch gesetzt.

Der Teufelsgeiger von der Kaiser-Joseph-Strasse erinnerte sich an Willi Brandt, von dem er in Schulbüchern gehört hatte. "Demokratie wagen!" war die Eingebung des Augenblicks. Man stimmte ab. Mehrheit für kein Film, also kein Film.

Aus der Bühnentür betrachte ich die Szenerie. Dieses merkwürdige aggressiv-nihilistische Publikum, um Unterhaltung der Massen bemühte junge Menschen, das Dunkel der Bühne, nur selten von gleissenden Strahl eines Scheinwerfers unterbrochen. Plötzlich wird es vor meinem inneren Auge manifest: diesen bedauernswerten Kreaturen muss ich die frohe Botschaft bringen! Ich trete hinaus in das Licht und beginne Zeugnis abzulegen. Ich berichte von den Essentials.

Von der Balkanisierung Deutschlands, von der Jugendrente, von der dringend nötigen Ankurbelung der Wirtschaft durch die Ausgabe von Bargeld an alle interessierten Kreise.

Für einen kurzen Augenblick in ihrem Leben bekommen die bedauernswerten, hoffnungslosen einen Schimmer der Hoffnung zu fassen. Einen Moment verstummen die krankhaft-hyperkinetischen Effekte. Ahnen sie etwas von der Grösse des ihnen soeben offenbarten? Aber ich bin noch aus einem anderen Grund hier. Elektronische Abhörmethoden vermögen Ausblicke zu eröffnen wie sonst nur Radioteleskope in den dunklen Nachthimmel.

Mir liegt brisantes Material aus hochrangigen Kreisen vor. Die Menschen müssen doch erfahren, was vor sich geht! Ich beginne einen Vortrag aus einem mir vorliegenden Mitschnitt eines Gesprächs des Kanzlerkandidaten der SPD, Gerhard Schröder. Fast als fürchte sich der Mob mit einer Ansteckung durch die Wahrheit herrscht sofort grösste Unruhe. Man tobt! Der Tumult ist ungeheuer. Ich muss abbrechen.

Ich versuche einen Dialog mit diesen Persönlichkeiten zu führen. Man beteuert nur, man wolle sich über die Ansichten von Christof Schliengensief informieren. Ein merkwürdiges Ansinnen, bekanntermassen lehnt dieser Mensch alle handfesten, nachvollziehbaren Statements ab. Bei allen Streitigkeiten in der Sache ist doch allgemeiner Konsens, diesem Künstler gehe es um die Inszenierung, Theatermensch, der er ist, und nicht um irgendwelche politischen Handlungsmuster. Mehr ein unbestimmtes Allen-Wohl-und-Keinem-Weh.

Ich hole Personen aus dem Publikum auf die Bühne und versuche Wünsche und Wollen der Anwesenden zu ergründen. Die Aussagen sind niederschmetternd. Man redet davon, einzig und allein die Langeweile vertrieben haben zu wollen. Junge Menschen und Langeweile? Welche Ausgeburten haben sich hier und heute in die Räumlichkeiten des "Vorderhauses" verirrt? Kennen sie keine Drogen, zum Beispiel den guten alten Vater Alkohol, keine Räusche, Ekstasen, bretternde Musik, das Tosen sich leidenschaftlich vereinigender Körper? Sind es etwa alle Angehörige der Jungen Union? Burschenschaftler?

Selbst Katholische Pfadfinder haben in aller Regel mehr Spass am Leben und mehr Ideen für eine beschwingte Lebensgestaltung! Ich setze meine verzweifelte Suche nach geringfügigsten Symptomen von Grosshirnrindentätigkeit fort. Die Befragten versuchen leicht übergriffig zu werden. Ein hässlicher zwirbelschnauzbärtiger Kerl will das Mikrofon zerlegen.

Mühsam unterdrücke ich meine gesunden Aggressionsreflexe, eingedenkt der Tatsache, hier nur Gast zu sein und mit den Ereignissen nur am Rande zu tun zu haben.

Luke der Teufelsgeiger geigt unverdrossen. Jede Bestie des wilden Dschungel hätte sein einschmeichelndes, anheimelndes Violinenspiel wohl besänftigt. Soloeinlagen ohne Sprachdarbietungen werden gewagt, vergeblich. Ein mutiges junges Mädchen stürmt auf die Bühne. Auch sie hat in den Schulbüchern von Willi Brandt gehört und wagt mit diesem Mob Demokratie. "Ich finde scheisse was ihr macht!" beginnt sie ihre Rede an das Volk. Ihre Versuche, alles auf dem Abstimmungsweg zu regeln gehen unter.

Dafür will sie mit den Massen singen. Kurze Pausen nutzen einfallslose Guido-Westerwelle artige Studenten dazu, ohne jede Skrupel die Idee, auf einer Parteiveranstaltung die Vorstellungen einer Konkurrenzpartei zuführend, hemmungslos und ohne rot zu werden, zu kopieren.

Eine gute Gelegenheit Witz, Originalität und geistiges Leistungsvermögen dieses anthropomorphen Schleims zu überprüfen. Weder die FDP-Visagen noch die Gelegenheit zum gemeinsamen Singsang können die versammelten banalstudierenden Massen überzeugen.

Der Mob will den Meister! Und der Meister lässt sich bitten! Mit dem Gefühl, genug für das Gelingen des grossen Ganzen geleistet zu haben, ziehe ich mich in die Garderobe zurück.

Eine Delegation ist gerade dabei zur Abholung des Meisters auszuziehen. Er wohnt standesgemäss in einer der besseren Hoteladressen der Stadt. Das Programm dümpelt weiter vor sich hin. Jungliteraten versuchen ihr Glück und scheitern. Der Versuch das hungrige Volk zu unterhalten, scheitert. Der Mob will den Meister. Das wollen auch zahlreiche junge Damen, die offenbar durch seine televisionäre Präsenz Lust auf amouröse Kontakte mit dem charismatischen Nachwuchspolitiker und Kanzlerkandidaten bekommen haben.

Auch sonst ist alles wichtig und oberwichtig und ein heftiges Gewusel. Nur der eigentliche lokale Kandidat, für das Direktmandat, bohrt seltsam dünne Bretter und ist sich selbst genug. Widerstrebend zwingt man ihn zu einer programmatischen Rede. Die Kandidatenvorstellung findet nicht die Billigung des Wahlvolks.

Der Getränkenachschub in der Garderobe stockt. Im allgemeinen Tohuwabohu geht der Ruf nach kühlendem Nass unter. Freund und Helfer, der ich bin, wage ich einen Ausfall zur benachbarten Tankstelle, nicht ganz uneigennützig, es gab Gerüchte, die APPD habe sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer machtvollen Gegenkundgebung versammelt. Nur dummes Gerede, der verlockende Gedanke, beide Welten zu einer produktiven Fusion zu animieren, lässt sich nicht in die Tat umsetzen.

So muss ein Kasten Bier reichen. Er und der Meister treffen fast simultan ein. Christof Schlingensief erscheint mit einem Kordon adretter Helferinnen und emsig-wichtiger Helfer. Er selbst wirkt wie eine Mischung aus idealem Schwiegersohn und Schwerstbehindertem. Wie er lächelnd Hof hält, traut man ihm tatsächlich nicht zu, einen Schritt ohne diesen Adjudantenstab zu tun. Endlich kann der Mob triumphieren! Sie bekommen ihren Meister.

Der Kanzlerkandidat bezichtigt die Studenten Studenten zu sein. Er redet ungefähr eine knappe halbe Stunde, es ist nicht politisch, es ist nicht scharfsinnig, es wirkt zerfahren, beliebig und könnte auch von Studierenden der Katholischen Fachhochschule für Sozialarbeit formuliert - wenn man es so nennen will - worden sein. Mit dem Ende dieses rhetorischen Grosswerks beginnt der vollends gespenstische Teil der Veranstaltung.

Kaum ist das letzte Wort der Schliengensiefschen Geistesheroenschaft verklungen, drängt sich alles zum Ausgang. Binnen kürzester Zeit ist die Halle verwaist und ein weiterer Film aus dem Oeuvre des Meisters spielt vor leeren Rängen.

Draussen ist eine fast mediterran anmutende Atmosphäre, eine wunderbar warm-laue Sommernacht, viele Menschen sitzen herum und trinken Bier auf den Schreck, wahrscheinlich das Vernünftigste, was sie an diesem Abend bis dahin zustande gebracht haben. Die nicht übel aufspielenden DJs tun es für sich, ihren Herrgott und ein paar liebe Freunde und Freundinnen in der leeren Halle.

Der Lohn der bösen Tat: bei der Bundestagswahl erhält die APPD fast ein gutes Drittel mehr Stimmen als Chance 2000. Beginnt nahe dem neuen Millennium am Ende die Herrschaft der Gerechtigkeit auf Erden?

ub