Die Schattenseite der Erfolgsgeschichte Stevia - der neue Zuckerersatz

Wirtschaft

Stevia soll der neue Zuckerersatz sein. Immer mehr steviagesüsste Produkte kommen auf den Markt. Die Schattenseite der Erfolgsgeschichte.

Coca-Cola mit Stevia-Extrakt (Steviolglykoside - ersetzt 37% des Zuckers).
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Coca-Cola mit Stevia-Extrakt (Steviolglykoside - ersetzt 37% des Zuckers). Foto: Mike Mozart (CC BY 2.0 cropped)

23. November 2015
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Die indigenen Guaraní in Paraguay und Brasilien, die das Potenzial der Pflanze als Süssstoff vor Jahrhunderten entdeckt haben, drohen dabei leer auszugehen. Doch noch kann sich das ändern.

Auf der Homepage von Coca Cola Deutschland spricht eine Pflanze. Stevia, die «süsseste Latina der Welt». Das ist nicht nur sexistisch, sondern blendet auch aus, wie problematisch dieser Süssstoff ist. Coca Cola hat sein mit Steviolglykosiden gesüsstes Coke-Life nun auch in der Schweiz lanciert – und liegt damit im Trend.

Stevia boomt: Die aus der Pflanze extrahierten Süssstoffe sind bis zu 300-mal süsser als Zucker und fördern weder Diabetes noch Karies. Softdrinks, Schokolade, Bonbons – ständig kommen neue steviagesüsste Produkte auf den Markt. Im Jahr 2015 werden weltweit schätzungsweise bereits acht bis elf Milliarden Franken mit ihnen umgesetzt, Tendenz stark steigend. Eine natürlich süsse Pflanze, die Indigene seit Jahrhunderten nutzen, erobert als gesunde Zuckeralternative den Lebensmittelmarkt. Was für eine Erfolgsgeschichte! Tatsächlich? Ein neuer Bericht der Erklärung von Bern beleuchtet die bitteren Seiten des Geschäfts mit dem süssen Stoff.

Statt Indigener profitieren Konzerne

Die Kommerzialisierung von Stevia ist ein klassischer Fall von Biopiraterie: einer unrechtmässigen Aneignung genetischer Ressourcen und des damit verbundenen traditionellen Wissens. Eigentlich sollte die Biodiversitätskonvention der Vereinten Nationen, die seit 1993 besteht, genau dies verhindern: Sie sieht vor, dass traditionelle Gemeinden einer kommerziellen Nutzung «ihrer» Ressourcen zustimmen müssen (Prior Informed Consent) und dass sie am Geschäft mit dieser Ressource gerecht beteiligt werden (Access and Benefit Sharing). Das heisst: Macht jemand Profit mit Stevia oder Steviolglykosiden, sollten die Guaraní und die Staaten Brasilien und Paraguay diesem Geschäft zustimmen und an ihm beteiligt werden.

Die Realität sieht anders aus. Das liegt einerseits dran, dass die Biodiversitätskonvention und das Abkommen zu deren Umsetzung, das Nagoya-Protokoll, in den einzelnen Ländern noch ungenügend verankert und von einigen – etwa den USA – noch nicht einmal ratifiziert sind; weshalb westliche Firmen nach wie vor ungestraft mit «gestohlenen» Gütern Geschäfte machen können. Den Steviabäuerinnen und -bauern bleibt derzeit also nur die Rolle als Zulieferer, während einige wenige westliche Konzerne mit Patenten um ihren Anteil am einträglichen Geschäft mit der Herstellung und dem Verkauf von Steviolglykosiden kämpfen. Über 1000 Patente in Bezug auf Stevia und Steviolglykoside wurden bis Ende 2014 beantragt, 46 Prozent davon alleine von acht Firmen: unter ihnen etwa der Lebensmittelmulti Cargill und Coca Cola.

Bäuerinnen und Bauern bleiben aussen vor

Auch beim Verkauf von Stevia-Pflanzen an die Verarbeitungsfirmen spielen Paraguay und Brasilien nur eine kleine Rolle. 2011 wuchsen 80 Prozent aller zur kommerziellen Nutzung bestimmten Stevia-Pflanzen in China. Paraguay produzierte nur fünf, Brasilien gar nur drei Prozent. Meist wird Stevia von Kleinbauern in Mischwirtschaft mit anderen Pflanzen angebaut. Eigentlich liegt im kleinbäuerlichen Stevia-Anbau ein grosses Potenzial: er ist zwar arbeitsintensiv, aber auch ertragsreich. Doch schon bald werden Steviolglykoside, die mithilfe von synthetischer Biologie hergestellt wurden, auf den Markt kommen. Setzen sie sich durch, würden die Länder, die Stevia anbauen, komplett leer ausgehen, und der ganze Profit bliebe bei wenigen grossen Firmen im Norden.

Forderungen: Gegen Biopiraterie – für eine faire Lösung

Fieberhaft arbeiten die Unternehmen, die Steviolglykoside herstellen oder verwenden, derzeit daran, dass ihr Süssstoff seinen bitteren Beigeschmack verliert. Es liegt an ihnen, dass dies auch im übertragenen Sinne geschieht: und die Guaraní für ihr traditionelles Wissen entschädigt werden. Noch kann dieser klare Fall von Biopiraterie gelöst und eine faire Übereinkunft mit den Guaraní erzielt werden.

Die Erklärung von Bern und die MitherausgeberInnen der Studie verlangen insbesondere:
  • dass Konzerne wie Cargill oder Coca Cola, die Steviolglykoside herstellen oder nutzen, unverzüglich mit den Guaraní Verhandlungen darüber aufnehmen, wie diese zu ihrem Recht kommen, am Stevia-Boom beteiligt zu werden.
  • dass keine mithilfe von synthetischer Biologie hergestellte Steviolglykoside produziert und verkauft werden, solange keine Studien zu deren sozioökonomischen Auswirkungen existieren.
  • dass die Konzerne die bewusste Verbreitung von Falschinformationen bei der Vermarktung ihrer mit Steviolglykosiden gesüssten Produkte stoppen – und diese weder als «natürlich» noch als auf dem «traditionellen Wissen der Guaraní» beruhend bewerben dürfen.

evb