Die intransparenten Verhandlungen über TTIP spitzen sich zu Liberalisierung vs. Völkerrecht

Wirtschaft

Während über das Abkommen zwischen der EU und Kanada (CETA) im September endgültig entschieden werden soll, wird TTIP noch verhandelt.

Die intransparenten Verhandlungen über TTIP spitzen sich zu.
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Die intransparenten Verhandlungen über TTIP spitzen sich zu. Foto: Mario Sixtus (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

6. Juli 2016
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Die Unterhändler der geplanten „transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft“ zwischen der EU und den USA treffen sich dazu Mitte Juli in Brüssel. Die Umweltingenieurin und Berliner Gazette-Autorin Tatiana Abarzua kommentiert:

Nach Ansicht der Europäischen Kommission (KOM) würde der Beschluss von TTIP der EU viele Vorteile bieten. So soll TTIP die US-Märkte für Unternehmen aus der EU öffnen und zu “Bürokratieabbau beim Export” führen. Ausserdem sollen neue Vorschriften Import, Export und Auslandsinvestitionen vereinfachen, “und für mehr Gerechtigkeit sorgen”.

Tiefe Liberalisierung

Ferdi De Ville, Dozent an der Gent University in Belgien, und Gabriel Siles-Brügge, Dozent an der University of Manchester in England analysieren in einer aktuellen Publikation Argumente von Befürwortern und Gegnern. Die berüchtigte Investor-Staat-Streitbeilegung (investor-to-state dispute settlement, ISDS) sei nur das offenkundigste Beispiel für die Art und Weise, wie dieses Abkommen das Primat der Politik zugunsten privaten Unternehmertums einschränken soll. Der potenziell deregulatorische Einfluss, den das Abkommen haben kann, sei sehr signifikant.

Im Rückblick auf die Anfänge der Verhandlungen erläutern sie, dass es den USA und der EU nicht gelang, über das bereits bestehende multilaterale Handelssystem der Welthandelsorganisation (WTO) eine “tiefe Liberalisierung” voranzutreiben. Deshalb führten beide Wirtschaftsmächte bilaterale Freihandelsabkommen ein. Zunächst mit amerikanischen und asiatischen Ländern wie Kanada, Kolumbien, Südkorea, Peru und Singapur. Die ausgehandelten Abkommen enthalten Verbindlichkeiten zu handelsbezogenen Bereichen, die über die WTO-Vereinbarungen hinausgehen (“WTO-plus”- Verpflichtungen).

Im Februar hat die USA biregionale Verhandlungen mit elf asiatisch-pazifichen Ländern abgeschlossen (Transpazifiche Partnerschaft, TPP). Die nationalen Parlamente müssen sie in den kommenden zwei Jahren noch ratifizieren. De Ville und Siles-Brügge zeigen, dass bei TTIP die neoliberale Agenda sichtbar wird, die den Prozess der “tiefen Liberalisierung” radikalisiert.

Sie führen aus, dass TTIP der Höhepunkt eines Trends sei, Regulierungen in erster Linie als irritierende Hemmnisse für Handel, Investitionen und Unternehmertum zu betrachten. Die Definition von “nicht-tarifären Hemmnissen” (non-tarif barriers, NTB) wurde erweitert. In den 1970er-Jahren bezeichneten NTB Hemmnisse für den Handel die keine Zölle waren, doch ähnlich explizit den Handel einschränken. Wie Ausgleichs- oder Anti-Dumping-Abgaben, freiwillige Exportbeschränkungen oder direkte Subventionen für Unternehmen.

Zunehmend umfasst der NTB-Begriff Regulierungen, die primär nicht den Handel einschränken sollen, sondern anderen potenziell legitimen politischen Zielen dienen wie dem Schutz von Gesundheit, Verbrauchern und Umwelt. Somit lässt sich in einer globalisierten Welt fast jeder Regulierung ein Einfluss auf den internationalen Handel auf die eine oder andere Weise unterstellen. Daher kann jede Regulierung als potenzielles “nichttarifäres Hemmnis” bezeichnet werden.

TTIP-Prognosemodelle versagten darin, die Finanzkrise von 2007/08 vorherzusagen

De Ville und Siles-Brügge kritisieren das Berechnungsmodell auf das die TTIP-Befürworter bei den Prognosen über zukünftige Gewinne zurückgreifen: “Die Ironie hinter all dem besteht natürlich darin, dass ein CGE-Modell (computable general equilibrium, berechenbares allgemeines Gleichgewichtsmodell) verwendet wird, um ein Handelsabkommen zu rechtfertigen, das angeblich die EU aus der Krise führt, während doch eine ganze Kombination solcher Modelle des allgemeinen Gleichgewichts (genauer: Modelle des dynamischen stochastischen allgemeinen Gleichgewichts) völlig darin versagte, die Finanzkrise von 2007/08 vorherzusagen.”

Das Modell sei mit unrealistischen und voreingenommenen Daten über die Angleichungen von Regulierungen (“Regulierungskonvergenz”) gespeist worden. Die Daten würden die Gewinne aus einer transatlantischen Liberalisierung übertreiben und deren potenzielle (nichtökonomische) Kosten herunterspielen. Deshalb sind die Versprechen von Wachstum und Beschäftigung, die TTIP-Befürworter betonen, nach Ansicht von De Ville und Siles-Brügge ein “Management fiktionaler Erwartungen”. Die Projektionen “erzeugen falsche Bilder einer Zukunft, die nur schwer angreifbar sind für Menschen ohne das nötige Fachwissen, um das detaillierte ökonometrische Modell aufzudröseln.”

Hintergrund zum TTIP-Verhandlungsmarathon

Eingeleitet wurde der Prozess zur Verhandlung eines Handelsabkommens zwischen der EU und den USA bereits vor einem Jahrzehnt. Einerseits wurde das Hochrangige Forum für regulatorische Zusammenarbeit (High Level Regulatory Cooperation Forum, HLRCF) gegründet, ein Ausschuss mit Vertretern beider Regierungen, Regulierungsbehörden, der Kommission und Unternehmen. Im Jahr 2007 wurde eine weitere Ebene hinzugefügt: Der Transatlantische Wirtschaftsrat (Transatlantic Economic Council, TEC). Die Rahmenvereinigung, die das regelt, haben drei Politiker unterschrieben: Angela Merkel, damalige Präsidentin des Europäischen Rates, José Manuel Barroso, damaliger Präsident der Europäischen Kommission, und George Bush, damals Präsident der USA.

Wie die Berliner Gazette bereits berichtete, beschloss das Europäische Parlament (EP) den TTIP-Antrag Im Mai 2013, mit einer Zustimmung von 78 Prozent der Abgeordneten (460 Stimmen). Während des G8-Gipfels im Juni 2013 verkündeten US-Präsident Obama und Kommissionspräsident Barroso den Beginn der TTIP-Verhandlungen. Die erste Runde fand im Juli 2013 statt.

In ihrem TTIP-Buch äussern De Ville und Siles-Brügge die These, der grosse zivilgesellschaftliche Protest gegen TTIP berge die Chance, die Handelspolitik aus den Hinterzimmern der Technokraten herauszuholen und zu repolitisieren. Sie skizzieren ein “drittes Szenario” für den Ausgang der Verhandlungen. Abgesehen von den Möglichkeiten, dass TTIP scheitert oder abgeschlossen wird, könnte die Lobbyarbeit der NGOs gegen TTIP Erfolg haben. Sie könnte die Bedingungen der Verhandlungen so verändern, dass Handelspolitik ein Instrument zum Erreichen anderer politischer Ziele wird.

Eine Grundvoraussetzung dafür sei, dass NGOs auf beiden Seiten des Atlantiks stärker zusammenarbeiten, und sich an konstruktiven Diskussionen beteiligen, um das weltweite Handelssystem so zu gestalten, dass es anderen politischen Zielen dient. Die Autoren räumen ein, dass sie dieses Szenario für unwahrscheinlich halten. Deshalb fügen sie hinzu, dass zunächst mehr Aufmerksamkeit für TTIP in den USA erforderlich sei, wo das Thema noch nicht so stark in der Öffentlichkeit diskutiert wird wie in der EU.

CETA als Testfall für tiefe Liberalisierung: Gemischte Abkommen?

Bei einem gemischten Abkommen stimmen die Parlamente der 28 EU-Mitglieder darüber ab. Erst danach treten die Vereinbarungen in den Mitgliedsstaaten in Kraft. Die Frage, ob CETA (comprehensive Economic and Trade Agreement) und TTIP gemischte Abkommen sind, ist umstritten. Eine Bedingung dafür ist, dass der Vertrag Teile enthält, die zur Ausführung in die ausschliessliche Kompetenz der Nationalstaaten fallen.

CETA gilt bei vielen Beobachern als Testfall für TTIP. Beide werden als Gesamtverträge definiert, die als Ganzes angenommen oder abgelehnt werden können. Eine Teilung des Vertrages, eine teilweise Zustimmung oder teilweise Ablehnung sei somit nicht möglich. In einem aktuellen Blogpost weist der Ökonom Norbert Häring darauf hin, dass die Kommission den Auftrag habe, ein gemischtes Abkommen zu verhandeln. Sie habe nicht die Kompetenz, am Ende zu sagen, das, was sie ausgehandelt hat, sei ein EU-only-Abkommen.

Häring warnt davor, sollte der Europäische Gerichtshof in 2017 oder 2018 über die Rechtsnatur von CETA entscheiden und feststellen, dass doch Einstimmigkeit erforderlich ist, dann sei es zu spät. Denn ein völkerrechtlicher Vertrag gelte weiter, auch wenn der Vertreter einer Vertragspartei im Innenverhältnis gar nicht das Recht hatte, ihn abzuschliessen.

Tatiana Abarzua
berlinergazette.de

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