Zivilisatorischer Umbruch oder kapitalistisches Wirtschaftswachstum? Neo-Extraktivismus – ein umstrittenes Entwicklungsmodell und seine Alternativen

Wirtschaft

"Neo-Extraktivismus" heisst der kritisierte Rohstoffabbau unter Kontrolle des Staates: In Lateinamerika trägt er kurzfristig zum Wirtschaftswachstum bei und bringt auf Dauer schwerwiegende Folgen mit sich. Über die Alternativen.

Die weltweit grösste offene Kupfermiene Chuquicamata in Chile.
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Die weltweit grösste offene Kupfermiene Chuquicamata in Chile. Foto: Magnus von Koeller (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

9. September 2015
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Seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist es zu weitreichenden Verschiebungen und Umbrüchen in der internationalen Arbeitsteilung und Aneignung der Natur gekommen. Das fulminante Wachstumstempo in Süd- und Südostasien, insbesondere aber der (Wieder-)Aufstieg Chinas zur Wirtschaftsgrossmacht und zum weltweit wichtigsten Industrieproduzenten haben sowohl die Nachfrage nach Primärgütern aus den Ländern Südamerikas als auch deren Preise rasant in die Höhe getrieben. Gleichzeitig sind auf dem lateinamerikanischen Kontinent sogenannte fortschrittliche Regierungen auf den Plan getreten. Einige von ihnen haben sich mit neuen Verfassungen einen tiefgreifenden (revolutionären?) Umbau ihrer Gesellschaften zum Ziel gesetzt (Venezuela, Bolivien und Ecuador), während andere, gemässigtere Regierungen eher der Sozialdemokratie nahestehen (Brasilien, Argentinien, Uruguay).

Das Thema "Extraktivismus" hat in den letzten zehn Jahren die Linke sowie Basisorganisationen und Volksbewegungen tief gespalten. Hier spiegeln sich unter anderem die divergierenden Vorstellungen von der angestrebten Gesellschaft sowie unterschiedliche Einschätzungen zum Sozialismus des 20. Jahrhunderts wider. Dementsprechend setzen die verschiedenen Strömungen jeweils auch unterschiedliche Schwerpunkte im Hinblick auf die zentralen Dimensionen bzw. Säulen des geforderten gesellschaftlichen Wandels. Sehr grob lassen sich die beiden Lager wie folgt charakterisieren: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die – zumindest für die erste Phase der Transformation – dem Antiimperialismus, der Wiederaneignung des Staates, der nationalen Souveränität, der kurzfristigen Überwindung von Armut bzw. Ungleichheit und dem Wirtschaftswachstum auf der Transformationsagenda Priorität einräumen. Sie problematisieren kaum die Folgen des Extraktivismus bzw. sehen sie weniger kritisch.

Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die zwar die vorgenannten Punkte nicht rundweg ablehnen, aber vorrangig nach Alternativen zum gegenwärtigen Modell des grenzenlosen Wachstums suchen. Sie legen dabei den Schwerpunkt auf Interkulturalität, Entwicklungswege und die Bewahrung des Lebens, das durch die Raubtierlogik des vorherrschenden Gesellschaftsmodells bedroht ist. Die Folgen des Extraktivismus sind dabei Gegenstand radikaler Kritik. Die hier aufgezeigte Kluft zieht sich auch durch die lateinamerikanische Wissenschaftsdebatte.

Die fortschrittlichen Regierungen und ihre Verfechter führen meist ins Feld, dass die erhöhte Nachfrage und der Preisanstieg für Rohstoffe genutzt werden müssen, um die erforderlichen Ressourcen für soziale, produktive und Infrastrukturinvestitionen zu erwirtschaften und damit in einer späteren Phase den Extraktivismus zu überwinden. Dies muss zwangsläufig mit einer stärkeren staatlichen Kontrolle über die Rohstoffausbeutung einhergehen, sei es nun durch Verstaatlichungen oder eine höhere Besteuerung, um so einen grösseren Anteil am Einkommen abzuschöpfen, das zuvor im Wesentlichen den transnationalen Konzernen zugeflossen ist.

Die Erfolge der Regierungen

Die Politik der Ausweitung extraktiver Industrien und einer stärkeren Teilhabe des Staates an den daraus erzielten Einkommen konnte denn auch beachtliche Erfolge vorweisen, die die betreffenden Regierungen durchaus für sich beanspruchen können: Über mehrere Jahre hinweg wuchs die Wirtschaft. Nach einer langen defizitären Phase hatte Lateinamerika insgesamt von 2002 bis 2007 positive Zahlungsbilanzsalden vorzuweisen. Zwischen 2003 und 2012 ging die Schuldenstandsquote auf weniger als die Hälfte zurück. Die ausländischen Direktinvestitionen nahmen rasant zu. Aus geopolitischer Sicht ermöglichten die günstigen wirtschaftlichen Bedingungen ein höheres Mass an Autonomie. Durch eine verstärkte geographische Diversifizierung des Aussenhandels und die Erschliessung neuer Kreditquellen verringerte sich die bis dahin ausgeprägte Abhängigkeit von den USA und der Europäischen Union. Mit den positiven Zahlungsbilanzen konnten die Auslandsschulden bezahlt werden, die Regierungen konnten sich der Bevormundung durch die Bretten-Woods-Institutionen entziehen und Währungsreserven aufbauen.

Nach dem Scheitern der Panamerikanischen Freihandelszone ALCA/FTAA gab es erste Schritte auf dem Weg zu mehr regionaler Integration wie ALBA, UNASUR und CELAC. Der Kontinent war von nun an nicht mehr der Hinterhof der USA.

Die kontinuierlich steigenden Steuereinnahmen ermöglichten umfangreiche Investitionen in Sozialprogramme wie die "Misiones" in Venezuela und "Bolsa Familia" in Brasilien. Hierdurch konnten 40 Millionen Menschen einen Ausweg aus der Armut finden. In all diesen Ländern wurde der Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Sozialversicherungsleistungen verbessert, und bis zu einem gewissen Grad konnte sogar die Ungleichheit abgebaut werden. Die Regierungen konnten sich dementsprechend auf ein hohes Mass an Legitimität und politischer Stabilität stützen. Nach turbulenten Jahren der Volksaufstände, Staatsstreiche und Regierungen, die ihre verfassungsmässig festgelegten Amtszeiten kaum bis zum Ende durchhielten, konnten sie alle mehrere Wahlsiege hintereinander erringen: In Venezuela hat die Regierung seit 1999, dem Jahr der Amtsübernahme von Präsident Chávez, vier Präsidentschaftswahlen in Folge gewonnen.

Die brasilianische Arbeiterpartei und auch die Partei "Frente para la Victoria" in Argentinien sind aus jeweils vier Präsidentschaftswahlen als Sieger hervorgegangen. In Uruguay hat das Regierungsbündnis "Frente Amplio" im Oktober 2014 zum dritten Mal hintereinander die Präsidentschaftswahlen gewonnen. In Bolivien wurde Staatspräsident Evo Morales ebenfalls im Oktober 2014 mit 63 Prozent der Stimmen wiedergewählt, und in Ecuador konnte Rafael Correa zum Jahresende 2014 einen Popularitätsgrad von 70 bis 80 Prozent verzeichnen.

Der Extraktivismus und die Reprimarisierung der Volkswirtschaften könnten also durchaus als ausserordentlich erfolgreicher Entwicklungsweg gesehen werden. Allerdings gibt es auch andere Vorstellungen von gesellschaftlicher Entwicklung. Beziehen wir diese anderen Blickwinkel mit ein, so fällt die Bilanz wesentlich differenzierter aus.

Zivilisatorischer Umbruch oder kapitalistisches Wirtschaftswachstum?

Vielerlei Gründe haben die Erwartung genährt, dass Südamerika diejenige Region unseres Planeten sein würde, in der die Kämpfe gegen den Neoliberalismus und um die Überwindung des Kapitalismus mit dem Aufbau zivilisatorischer Alternativen zum für die Moderne so typischen Modell einer auf grenzenloses Wachstum gestützten räuberischen Gesellschaft verknüpft werden könnten. Eine herausragende Rolle bei dem in ganz Lateinamerika verbreiteten Widerstand gegen den Neoliberalismus und die Amerikanische Freihandelszone (FTAA) kommt den indigenen Völkern zu. Und auch der bäuerlichen und afrikanisch-stämmigen Bevölkerung. Die Verteidigung ihrer Territorien, der Kampf gegen Monokulturen und gentechnisch veränderte Organismen sowie der Megabergbau nahmen einen zentralen Stellenwert auf der politischen Agenda ein. Die Vorstellungen der indigenen Völker der Anden- und Amazonasregion vom "Guten Leben" fanden weitgehend Eingang in die politische Grammatik dieser Auseinandersetzungen. Erst die Bündelung dieser Kräfte des Wandels ermöglichte den Wahlsieg verschiedener linker bzw. fortschrittlicher Kandidatinnen und Kandidaten.

Mit diesen Regierungen verstärkte sich jedoch auch der Extraktivismus; der exportorientierte Primärsektor gewann an Bedeutung und tat so sein Übriges, um die globale Raubtierlogik weiter zu nähren. Dies trug zur Festigung des kapitalistischen Systems bei, gegen den sich der Kampf ja eigentlich richtete. Ungeachtet ihrer politischen Couleur tragen mittlerweile alle südamerikanischen Regierungen einen neuen kontinentalen Konsens mit, den "Rohstoff-Konsens".

Hierin liegt das Paradox bzw. der grösste Widerspruch in den fortschrittlichen Regierungen Lateinamerikas, insbesondere in Bolivien und Ecuador: Gerade zu einem Zeitpunkt, als die Rechte der indigenen Völker zum ersten Mal in der Geschichte des Kontinents in den Verfassungen verankert, als in beiden Ländern plurinationale Staaten ausgerufen und die Rechte der Natur juristisch anerkannt wurden, findet die räuberisch-extraktivistische Logik der Enteignung eine rasante Verbreitung, und sie erfasst und verwüstet sogar solche Territorien, die in den vergangenen fünf Jahrhunderten von derartigen Expansionsprozessen des Kapitals noch einigermassen verschont geblieben waren.

In diesen Gebieten, an diesen neuen Grenzen des weltweiten Kapitals, werden nun die Gewässer und Böden verseucht und die Wälder zerstört; die biologische Vielfalt schwindet, die Bevölkerung wird vertrieben. Der Anbau für den Eigenverbrauch und die lokalen Märkte werden von genveränderten Monokulturen wie beispielsweise Soja abgelöst, so dass die Ernährungssouveränität bedroht ist. Trotz der Verfassungsinhalte können die betreffenden Regierungen keine Rücksicht auf die Rechte der indigenen und afrikanisch-stämmigen Völker und ihre angestammten Territorien nehmen, denn gerade diese Gebiete müssen der Logik der Rohstoffausbeutung unterworfen werden, selbst wenn dies eine Kriminalisierung des Widerstandes erfordert.

Im Hinblick auf die zerstörerischen Auswirkungen dieser Aktivitäten auf die indigenen, afrikanisch-stämmigen und bäuerlichen Bevölkerungsgruppen spielt es keine Rolle, ob die daran beteiligten Konzerne aus dem In- oder Ausland, aus Ost oder West stammen, ob es sich um staatliche oder privatwirtschaftliche Unternehmen handelt, oder ob es im Diskurs, der diese Aktivitäten begleitet, um Revolution oder Markt geht.

Zivilisationsmodell der Zerstörung des Lebens

Entgegen der Argumentation des bolivianischen Vizepräsidenten, Álvaro García Linera, ist Extraktivismus keine "technische Form" der Produktion, die mit jedem beliebigen Gesellschaftsmodell vereinbar wäre . Im Gegenteil: In seinem gegenwärtigen Mega-Ausmass ist er Ausdruck eines anthropozentrischen, patriarchalen Zivilisationsmodells der Zerstörung des Lebens. Das extraktivistische Produktionssystem bringt nicht nur Waren hervor, sondern es trägt zur Herausbildung der an diesem Prozess beteiligten gesellschaftlichen Akteure bei. Es erzeugt Subjektivitäten und lässt tendenziell politische Regime entstehen, die sich durch Klientelismus und Rentismus auszeichnen. Es macht die ärmeren Bevölkerungsschichten zunehmend abhängig von staatlichen Transferleistungen, und es schwächte ihre Fähigkeiten zur Selbstständigkeit und damit die Demokratie. Mit den Einkünften aus extraktiven Industrien können die Staatsausgaben erhöht werden, ohne dass die regressiv gestalteten Besteuerungssysteme reformiert werden müssen. Die Umverteilung über staatliche Zuschüsse und direkte Geldzuwendungen entspricht den unmittelbaren Forderungen der Bevölkerung; sie trägt jedoch kaum dazu bei, die Produktionsstrukturen der Gesellschaft und deren tiefgreifende Ungleichheiten aufzubrechen.

Ist der Extraktivismus einmal als gesellschaftliches Organisationsmodell etabliert, so ist er nur noch schwer umkehrbar. Die Spezialisierung auf die Rohstoffproduktion ermöglicht keineswegs eine Akkumulation, mit der Alternativinvestitionen zum Extraktivismus gesichert werden könnten, sondern sie versperrt tendenziell die Möglichkeit zu anderen Aktivitäten und führt so zur Deindustrialisierung des Kontinents. Dieses auf den Primärgüterexport gestützte Modell ist die Fortsetzung der historisch-kolonialen Formen der Einbindung in den Weltmarkt, die sich auf den Export von Natur und den ökologisch ungleichen Handel stützen. Damit wird nicht die Suche nach Alternativen zum Kapitalismus gefördert, sondern nur dessen unersättliche Raubmaschinerie genährt.

Die Theorie der komparativen Kostenvorteile und die Rohstoffpreise

Unter Rückgriff auf die klassische Theorie der komparativen Kostenvorteile im Welthandel stützten sich Regierungen und auch zahlreiche Wissenschaftler auf die Annahme, der kontinuierliche Anstieg der Nachfrage nach Rohstoffen und ihrer Preise deute darauf hin, dass die Verschlechterung der Terms of Trade zwischen Rohstoffen und Industriegütern der Vergangenheit angehöre. Unter den neuen Bedingungen sei es möglich, die hohen Rohstoffpreise zur Finanzierung der angestrebten Reformen zu nutzen. Im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts begannen die Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt erneut zu schwanken und entwickelten sich rückläufig. Dies galt für alle wichtigen Exportgüter des Kontinents.

Im zweiten Halbjahr 2014 brach der Ölpreis um mehr als 50 Prozent ein. Von Mitte 2011 bis Ende 2014 ging der Preis für Kupfer um 35 Proent zurück. Der Preis für Eisenerz betrug im November 2014 weniger als die Hälfte des Preises vom Februar 2011. Zwischen Juni und Oktober 2014 verringerte sich der Sojapreis um 27 Prozent. Am härtesten betroffen ist Venezuela, denn dort hat das Erdöl einen Anteil von 96 Prozent an den Gesamtexporten des Landes. Die Kontinuität der Sozialpolitik der letzten Jahre kann damit bei weitem nicht mehr sichergestellt werden.

Formen der Einbindung in den Weltmarkt und die Beziehungen zu China

Die Überwindung des Kapitalismus und der Weg zu Gesellschaften des Guten Lebens im Einklang mit der Natur erfordern notwendigerweise eine Abkoppelung von den für den Weltmarkt charakteristischen Mechanismen der Merkantilisierung sowie den Aufbau neuer Sozialgefüge und Produktionsräume als Alternativen zum grenzenlosen Wachstum, und ebenso auch andere Vorstellungswelten und kulturelle Konsummuster. Dies wäre lediglich innerhalb von immer dichteren, auf dieser anderen Logik basierenden Integrationsräumen möglich und ist nicht mit Produktionsmodellen vereinbar, die sich auf Extraktivismus und Primärgüter-Exportwirtschaften stützen, denn in diesen Ökonomien steht der Zugang zu den extrakontinentalen Märkten im Vordergrund.

Die Beziehungen zu China haben die Abhängigkeit des lateinamerikanischen Kontinents vom kapitalistischen Weltmarkt und seinen kulturellen Normen keineswegs verringert, sondern vertieft. Der enorme Rohstoffbedarf Chinas hat sowohl die Nachfrage als auch die Preise für die wichtigsten Rohstoffe, die Lateinamerika produziert, in die Höhe schnellen lassen und den Kontinent zur Reprimarisierung seiner Volkswirtschaften getrieben. Während der Rohstoffanteil an den lateinamerikanischen Gesamtexporten bei etwas über 40 Prozent liegt, beträgt er bei den Exporten nach China annähernd 70 Prozent. In seinen Handelsbeziehungen zu China tauscht Lateinamerika im Wesentlichen Rohstoffe gegen Industriegüter. Ein erheblicher Prozentsatz der Gesamtexporte der südamerikanischen Länder nach China konzentriert sich auf nur ein bis drei Basiserzeugnisse des extraktiven Primärsektors oder aber auf Agrarprodukte: Erdöl, Eisenerz, Kupfer, Soja, Sojamehl. In Brasilien, dem am stärksten industrialisierten Land des Kontinents, stieg der relative Anteil der Primärprodukte – vor allem Eisenerz und Soja – an den Gesamtexporten nach China zwischen 2005 und 2008 von 20 auf 80 Prozent.

Diese Spezialisierung auf den Primärgüterexport stützt sich sowohl auf Kredite aus China als auch auf chinesische Investitionen: Seit 2005 hat China dem lateinamerikanischen Kontinent Darlehen in Höhe von über 100 Milliarden US-Dollar gewährt. Dieser Betrag liegt weit über dem Kreditvolumen, das auf die Weltbank, die Interamerikanische Entwicklungsbank und die Export-Import-Bank der USA zusammen entfällt. Ein Grossteil der Mittel wird in direktem Zusammenhang mit der Rohstoffproduktion oder der dafür erforderlichen Infrastruktur eingesetzt. In einigen Fällen, wie in Venezuela und Ecuador, muss ein Teil der Kredite unmittelbar mit Öl bezahlt werden. Auch die chinesischen Investitionen konzentrieren sich auf die Rohstoffindustrien. All dies zwingt langfristig dazu, den Weg des Extraktivismus weiterzugehen.

Nach dem Extraktivismus

Angesichts der ungebremsten Fortsetzung dieser zerstörerischen Logik haben sich in den letzten Jahren die Kämpfe und Widerstandsbewegungen gegen den Extraktivismus und seine Infrastruktur (Staudämme, Strassen, Erdölpipelines, Häfen) verschärft und auf den gesamten Kontinent ausgeweitet. Kontinentale Netzwerke gegen Megabergbau, Wassergrosskraftwerke, Monokulturen und genveränderte Organismen sind entstanden. Die indigenen und afrikanisch-stämmigen Völker sowie die Bewohner kleiner, von den Metropolen weit entfernter Städte sind heute die zentralen Protagonisten dieser Kämpfe. Auf der lokalen Ebene sind wichtige Siege errungen worden, und in vielen Fällen mussten die Unternehmen aufgrund des Widerstandes der betroffenen Bevölkerung den Rückzug antreten.

Die Forderungen dieser Bewegungen werden indes nur schwerlich von der Mehrheit der Bevölkerung, insbesondere den Ärmeren in den Städten aufgegriffen, solange das Vertrauen in die Entwicklung vorhält, solange die Regierungen die gegenwärtige Sozialpolitik mit Geldern aus den extraktiven Industrien finanzieren können und solange die Rohstoffausbeutung ihre zerstörerische Wirkung weitab von den grossen Städten entfaltet.

In Lateinamerika schlägt heute niemand vor, von einem Tag auf den anderen das Ende des Extraktivismus auszurufen und ab sofort kein einziges Barrel Öl und keine einzige Tonne Eisenerz mehr zu fördern oder auf keinem einzigen Hektar Land mehr genveränderte Soja anzubauen. Dennoch ist es dringend erforderlich, die Debatten über den notwendigen Übergang zu einer nicht-extraktivistischen, nicht-rentistischen Ökonomie auszuweiten und zu vertiefen, und zwar jenseits der in den Regierungsdiskursen vorherrschenden inhaltsleeren Rhetorik von deren Notwendigkeit. Welche konkreten Massnahmen müssten jetzt in so zentralen Kernbereichen wie dem Energiesektor, der Nahrungsmittelerzeugung oder dem Transportwesen ergriffen werden, um ein Produktionssystem und ein gesellschaftliches Organisationsmodell auf den Weg zu bringen, das sich nicht auf Desarrollismus, Extraktivismus und Rentismus stützt?

Wenn dieser Übergang nicht bald in Angriff genommen wird, so werden die fortschrittlichen Regierungen als diejenigen in die Geschichte eingehen, die die Verantwortung tragen für die beschleunigte Zerstörung unseres Planeten und für die enttäuschten Hoffnungen, dass eine andere Welt möglich ist!

Edgardo Lander
boell.de

Übersetzung aus dem Spanischen: Beate Engelhardt

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.