Yvonne Laros Schlüssel Seele

Prosa

“Sieh' dich um“, warnte die Stimme ohne Gestalt. “Bist du dir sicher, all das hinter lassen zu wollen?“ Die erste Frage des Rituals. Und jedes Mal die gleiche …

Schlüssel Seele.
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Schlüssel Seele. Foto: Anna Anichkova (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

10. Dezember 2013
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Welche Wahl blieb Lucille denn schon? Diese warmen Funken gleich unter ihrem Herzen … Wuchsen schnell heran. Durchströmten ihren Körper. Liessen sie wissen, dass sie von Ihr gebraucht wurde.

Doch erst verabschieden. Bewusst verabschieden. So wie die Zeremonie es verlangte …

Noch einmal blickte sie sich um. Nahm ihn in sich auf, den Ort, zu dem ihre Träume sie geführt hatten. Aus dem alle Farbe gewichen war

. Wusste, auch der graue Fluss würde ihr nur noch bleiche Umrisse zeigen, wenn sie ihr Spiegelbild darin betrachtete. Denn auch sie verblasste nun. Wie einsam ihr die geliebte Landschaft erschien. Selbst die Bäume trugen nicht mehr genug Leben in sich, um mit dem Wind zu tanzen. Ihr Rauschen war verstummt. Erzählte nicht länger von der Verbundenheit mit Lucille. Nur in der Luft lag noch Leben von ihnen. Atmete sie ein, dann konnte sie es spüren. Den Lebensfunken spüren, der sie alle verband, von Holzgeäst zu Lungengeäst.

Schloss sie ihre Augen, dann konnte sie es sehen … Das Tal von einst. In der Blüte vollster Farben und unendlichem Glanz. Was immer Lucille auch berührte … Ob mit den Händen, ihren Augen oder den Gedanken … Immer aber mit ihrem Herzen … Es erstrahlte zu Gold.

Lang vergangen, diese Tage … Von “Den Fremden“ wurde jetzt aufgesogen, was aus Lucilles' Wärme heraus entstanden war. Nur noch Schatten lagen vor ihr. Der kümmerliche Rest der erloschenen Pracht.

Aber so sehr die Erinnerung sie schmerzen mochte … Auch die Zukunft liess sich in den Bildern erkennen. Um den letzten Funken eines Ortes ging es. Darum, ihn in sich zu bewahren, ihn zum nächsten zu tragen und daraus Leben erwachsen zu lassen. In jeder neuen Entstehung steckte auch das wohlig Vertraute des Zurückgelassenen. Ein Abschied bedeutete nicht wirklich ein Ende. Er bedeutete nur, ein wenig loszulassen, damit alles sich frei entwickeln konnte. “Ja, ich bin mir sicher.“, antwortete sie also.
Übergab all das hier in unbekannte Hände. Und wusste, es brauchte diese, um in ihnen weiter wachsen zu können.
“Du bist dir bewusst, was der Weg von dir verlangen wird?“, hallte die Stimme von überall wider.

Lucille schloss die Lider und horchte in sich hinein. Spürte die Narben vergangener Reisen … Doch empfand sie nicht als alte Wunden oder Hässlichkeit. Sondern als Zeichen dafür, dass es Heilung wirklich gab. Und dafür, dass sie etwas ganz besonderes war.

Sie erinnerten Lucille an ihre Aufgabe. An die offenen Wunden da draussen, deren Schmerzen sich immer tiefer einbrannten. Dort wo ein lügendes Bewusstsein heranwuchs. Von Hässlichkeit flüsternd und in dem Glauben, über Werte bestimmen zu dürfen. Gemeinsam mit Ihr war es Lucille möglich, den Verwundeten eine heilende Salbe aus Worten zu schenken. Konnte sie den Flüchtenden Schutz und Geborgenheit geben. Ihnen eine helfende Hand durch die dunkelsten Schluchten sein und sie in ein neues Leben begleiten, in dem sie sich sicherer fühlen würden.

In dieser Bestimmung und dem Wunsch, sie zu erfüllen, lag die Antwort auf Lucilles' lang gestellte Fragen … Woher kam sie, und warum gab es sie? Vielleicht würde sie die Wahrheit nie erfahren … Aber so lange sie der Stimme noch antworten konnte, wusste sie, wer sie war. Das genügte ihr.

“Ja, ich bin mir bewusst.“
“Du nimmst diesen Weg also an?“, ertönte die letzte Frage.
Der Moment für die endgültige Entscheidung. Zögerte sie, galt sie als Verräterin.
“Ja, ich nehme diesen Weg an.“, sagte sie entschlossen.
“So trete zur Wurzel des Ursprungs und beginne deinen Weg!“


Ab jetzt würde die Stimme still bleiben. Hatte ihren einzigen Sinn erfüllt.

Lucilles' Herz schlug so kräftig gegen ihre Brust, bebte so schnell, dass sie sich wie betäubt davon fühlte. Als flehe es darum, fliehen zu dürfen. Dabei war ihre Angst sein einziger Jäger. Und sie wusste es. Egal wie heftig das Herzklopfen auch wurde … Wie sehr es auch in ihren Ohren dröhnte … Sie durfte ihrer Furcht vor dem Schmerz nicht nachgeben!

Erbarmungslos setzte sie ihre Beine in Bewegung. Nur wenige Schritte bis zu dem Ort, an dem alles begonnen hatte … An dem immer wieder alles aufs Neue beginnen würde … Dennoch drohten ihre Knie, vor dem Ziel zu versagen.

Ihre Lungen zitterten bei jedem Atemzug. Obwohl ihr Atem doch die Quelle war, aus der sie die Kraft zur Überwindung schöpfte. Die Sprache war, mit der sich ihr Herzschlag beruhigen liess. Jener Halt war, der ihre Bewegungen stärkte.

Bis sie schliesslich die “Wurzel des Ursprungs“ erreichte. Wie schon so viele Male vor ihr niederkniete. Auf die “Mütterliche Erde“ sank. So warm an dieser Stelle … Weder vertrocknet noch durchnässt. Heilig, weil aus ihr der Stamm des ersten Baumes erwachsen war. Den Ursprungsfunken unter seinem Wurzelwerk behütend, dessen Trägerin Lucille nun wieder werden sollte.

Behutsam legte sie ihre Hände auf das Wurzelholz, so wie die Stimme des Wissens es sie einst gelehrt hatte. Schloss abermals die Augen … Würde sie ab jetzt geschlossen halten müssen. Denn was sich gleich offenbarte, war nur für das innere Auge bestimmt. Nur mit seinem Blick erträglich, während jeder äussere Blick sofort zur kalten Erstarrung des Seins führen würde. Nur Empfindung und Vertrauen zählten jetzt noch. Schmerz zu empfinden und seine Botschaft zu verstehen. “Alles in Ordnung.“, sollte er ihr sagen.

Die Rillen des Holzes und die Linien ihrer Handflächen berührten einander. Verbanden sich zu einer lesbaren Sprache. Liessen den Baum und Lucille verstehen. Nur einen Moment verweilte sie in dem Austausch … Und wusste, was zu tun war. Noch tiefer empfinden. Jede feinste Rindenrille mit Wärme verschliessen. Lucille tat es. Empfand Liebe. Liebe für alles, was sie in diesem Augenblick umgab. Sie empfand so sanft, so intensiv, dass sie es nicht mehr in sich halten konnte. Ein Summen verliess ihren Körper. Trug ihre Wärme mit sich und wanderte hinunter in die Wurzel. Der Schlüssel zum Öffnen des Ursprungs. Auch dieses Mal hatte sie ihn gefunden. Dass sie selbst dabei zu frieren begann, kümmerte sie nicht.

Bald schon erweichte die Wurzelrinde unter ihren Händen und liess sie in die warm pulsierende “Mütterliche Erde“ gleiten. Hitze kroch ihren Körper empor. Mit aller Kraft widerstand sie dem Verlangen, die Lider zu öffnen. Dies war der Ursprungsfunke!

Lange Zeit hörte es nicht auf. Glut durchströmte ihre Adern. Wie von Messerklingen durchzogen fühlte sie sich. Doch sie wusste, um “Die Frierenden“ zu wärmen, brauchte es Wärme, so heiss wie die Sonne.

Alle Macht des Feuers konzentrierte sich auf ihr Herz, brannte sich einen Weg hinein. Aber Lucille wusste, nur das tiefste Herzblut besass die Stärke, den verborgenen Mut “Der Verzweifelten“ zu wecken. Und als dieses sich nun mit der Glut zusammen in den grauen Fluss ergoss, da gab sie es gern. Schliesslich kam der Zeitpunkt des blinden Laufs. Auch wenn ihre Adern immer noch fest mit der Wurzel des Ursprungs verknotet waren … Sie musste am grauen Fluss entlang laufen … Musste es jetzt tun. Nur der Gedanke daran, wie viel Bewegung es brauchte, um “die Erstarrten“ mit sich ins Glück zu ziehen, durfte nun zählen. Also stand sie auf … Rannte los … Ertrug das Reissen der Wurzel, die mit ihren Gedanken, ihren Lungen und all dem Leben in ihr verwachsen war.

Nicht einer ihrer Schritte war langsamer, als der davor. In keinem Augenblick öffnete sie ihre Augen, obwohl sie nicht wusste, was vor ihr lag. Die Verbindungsfäden zwischen ihr und dem Ursprung durchzogen den grauen Fluss. Erwärmten ihn, damit neues Leben aus ihm erwachsen konnte. Lange dauerte es, bis der Schmerz langsam ausklang und schliesslich erlosch. Endlich durfte sie anhalten. Ihre Lider öffnen … Dunkelheit umgab sie. Nichts liess sich erkennen, wie sehr sie sich auch anstrengte.

Bis plötzlich einen Herzschlag lang alles beissend hell erstrahlte. Unerträglich. So dass sie das Bewusstsein verlor und in den grauen Fluss glitt … Erst ein stechender Schmerz weckte sie auf. Der schlimmste von allen. Etwas bohrte sich durch das Fleisch ihrer Füsse und das ihrer Hände. Stach. Riss. Brannte. Zerfetzte. Hielt an für eine Ewigkeit.

Bis sie spürte, wie ihr neugeborenes Sein zu fliegen begann. Da war es geschafft. Sie, ihr Ich auf der anderen Seite, hatte zu schreiben begonnen.

Yvonne Laros