Vincent E. Noel Stilleben mit Storch und Miststück

Prosa

Soll noch einer sagen, Natur wäre nicht schön: unser Haus liegt direkt am Dorfrand, unser Garten grenzt an Wildwiesen, deren Distelfarben mit unserem Kräutergarten kontrastieren, in dem wir Thymian wachsen lassen, Salbei, Majoran, im Sommer frühstücken wir aussen, amüsieren uns mit Apfelkompott und selbstgemachter Rhabarberkonfitüre, und wenn mein Mann mit seinen Freunden beim Fussball ist, kann ich ungestört Störche beobachten.

Stilleben mit Storch und Miststück.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Stilleben mit Storch und Miststück. Foto: Yayek (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

30. Mai 2013
1
0
6 min.
Drucken
Korrektur
In manchen Lebensphasen sitze ich wochenlang auf der Veranda und zähle die Störche, einen, zwei, sieben elf fünfzehn, von der Handfläche eines Juliwindes über Wellenmeere aus Raps, Roggen und Sonnenblumen balanciert, einer nach dem anderen, geräuschlos, mühelos, schwerelos, wie auf einem Aquarell. An manchen dieser Tage
(im Durchschnitt einmal pro Woche)
habe ich Glück, will sagen, gelingt es meinem Mann, mich zu fragen, bevor er einschläft
- wie war dein Tag?
und ich winke lächelnd mit der Hand
- gut danke
die den Lichtschalter sucht. Unser Haus ist das letzte einer Strasse, dessen Schlaglöcher von Jahr zu Jahr tiefer werden, in unserem Garten wachsen Rhabarber, Spargel, Rittersporn, die Nachbarn sind fast ausnahmslos in Frühpension oder arbeitslos, man kennt sich seit Ewigkeiten, grüsst sich beim Bäcker siezend mit Vornamen, jeder weiss, wer welche Zeitschrift abonniert und für welchen Bezirksrat gestimmt hat, die Briefkästen, Gardinen und Dachziegel sind farblich aufeinander abgestimmt, Stangenbohnenspaliere grenzen die Gärten voneinander ab, nachts streunen die Marder umher, die die Keller und Geräteschuppen bevölkern, ach ja, nicht zu vergessen unzählbar viele Störche, gestern waren es zweiundvierzig, ich sass am Küchentisch, habe das Gulasch bewacht, bin für eine Zigarette nach aussen gegangen, und dann 1 2 7 15 26 34 42 … in manchen Phasen zweifle ich daran, ob meine Wahrnehmung noch etwas anderes als Störche registrieren kann, meinen Mann etwa, meine Tochter, meinen Onkel, der sich mit seinen Freunden am Imbiss beim stillgelegten Bahnhof trifft, wo sie Bier trinkend Dart spielen, bis keiner mehr treffen kann.

Wäre es denkbar, dass es nichts auf der Welt gibt, nur Störche? Was ist mit meinem Puls? Oder mit unseren Familienfotos, arrangiert auf der Anrichte rings um die Kupferschale für die Schlüssel, an der Treppenwand, auf dem Fensterbrett im Flur, unsere Tochter mit ihrem Freund in Rom, wir alle im Urlaub auf Norderney, vorletztes Jahr war das, im Sommer, vor ihrem Abitur. Unser Bett hat einen Baldachin und ein Gestell aus massivem ich weiss nicht was, das in vier Globen ausläuft, an denen der Baldachin festgespannt ist.

Selbige Globen sind drehbar, und so kann ich nach Lust und Laune entscheiden, welchen Kontinent ich im Bett liegend fixieren kann, bei schlechter Laune ist es Amerika, was ich quer durch die Nacht hindurch anstarre, Längengrade zählend, bis ich einschlafen kann, irgendwann. Von unserem Bett bis New York sind es 85 Längengrade, nebenbei erwähnt. Das Abbruchunternehmen namens Zeit liess die Uferlinien blasser werden, und irgendwann werden sie wohl ganz verschwunden sein.

Bedeutet das dann, überhaupt nicht mehr schlafen zu können? Was soll ich mit all der Zeit dann anfangen? An den Wochenenden etwa, wenn mein Mann mit seinen Freunden beim Fussball ist, vertreibe ich mir die Zeit, indem ich die Welt entgegengesetzt rotieren lasse, Stunde um Stunde, kurz nach Mitternacht kommt mein Mann nach Hause, er riecht nach Bratwurst, zwängt sich in seinen Baumwollpyjama mit dem fehlenden Gürtelband, gibt mir einen Bierkuss, legt sich hin und schläft sofort ein, der Glückliche. Jeden Tag nehme ich mir vor, das Band im Wäschekorb zu suchen

(übrigens ein Souvenir von unserer Hochzeitsreise)

und vergesse es wieder, er wird ohnehin, der Natur der Dinge entsprechend, ganz unten liegen, zwischen Staubmäusen, vermissten Knöpfen, aus Hosentaschen gerutschte Münzen und Einkaufszetteln. Jetzt im Moment knöpft mein Mann im Schlaf sein Pyjamahemd auf, sein Brustkorb hebt und senkt sich, langsam und weich, behaarte Wellen in der Atlantikmitte, könnte man sagen, ausserdem könnte ich schwören, unweit seines Bauchnabels das Bermudadreieck zu entdecken oder Amerika

(die Stadt, die niemals schläft)

[hier habe ich zuerst einen Kalauer mit dem Empire State Building eingebaut, dann wieder gestrichen]
und wenn ich mich über ihn beuge, um die Küstenlinien zu betrachten, stelle ich fest, einem Irrtum zu unterliegen: da gibt es nichts von wegen 24 Stunden Action am Tag, sondern nur sich bewegende Rippen, eine bärenhafte Schicht Haare von den Brustwarzen abwärts, ein siebeneckiger Leberfleck auf Höhe der Milz, das war's.

Das bedeutet nicht, es gäbe gar nichts, immerhin erreichen mich Trümmer von After Shave, die sich auflösen, sobald sie mich erreichen, und was bleibt, das sind Tage voller Störche und ein Wind, der die Felder schlägt, weswegen ich, es geht nicht anders, in der offenen Verandatür rauchend, die Störche zähle, gestern waren es wie viele (42)?, oder ihre Schatten, die nur auf den Autos unserer Nachbarn existieren. Nachdem das Strassenende direkt an unserer Garage liegt, an die ein Brennesselfeld anschliesst, ist das Wochenende so ziemlich das einzige, was hier existiert. Will sagen, das Wochenende besteht aus Männern, die nach dem Mittagessen flüchten und nach Mitternacht hupend zurückkehren.

Die Störche, die verblassen nicht, mein Schatz, so, wie deine Angewohnheit nicht verblasst, mit dem Rücken zu mir einzuschlafen, weswegen ich, es geht nicht anders, gleichfalls mit dem Rücken zu dir auf Morpheus warte und mein Theaterlächeln übe. Das Abbruchunternehmen namens Zeit hat es mir ermöglicht, auf achtundvierzig verschiedene Arten lächeln und schreien zu können, ohne zu schreien. Was geschieht, wenn ich mein Schweigen aufgebe? Meine Eltern haben mir beigebracht, wer schreit, der hat Unrecht, deswegen schreie ich nicht. Ich würge meine Schreie mit viel Kaffee hinunter und verdaue sie, und wenn mich das Bedürfnis nach einem Schrei überkommt, lasse ich Kontinente kreisen, irgendwann wird der ganzen Welt so schlecht sein wie mir, das ergibt keinen Opernschrei, unter dem Weingläser bersten, logischerweise, einen blassen Luftzug nur, kaum Vokale. Wer würde mich wahrnehmen? Mein Mann grummelt im Halbschlaf - war da was?

und ich erstarre, lege mir ein Kissen auf das Gesicht, damit die Naive auf dem Hochzeitsfotos mich nicht fixieren kann, vorwurfsvoll darauf wartend, dass ich explodiere, damit sie wie meine Mutter
- hättest du auf mich gehört.

Wahrscheinlich mache ich mir einfach zu viele Gedanken: bis zum Abendessen bin ich allein im Haus, niemand ist hier, abgesehen von den Störchen, diese Trottel, ich beneide sie, denn sie gehen einfach, wenn sie wollen. Aber ich beklage mich nicht, und falls es so wirkt, ist das nicht beabsichtigt. Meine Mutter wusste, wie der Hase läuft, ihr Lieblingsspruch

- das Leben ist kein Ponyhof

fasst ein ganzes Dasein in zweiundzwanzig Buchstaben zusammen, und am Ende schüttelt man den Kopf, irritiert darüber, wie viel Energie für Ärger verplempert wurde. Schauen Sie sich doch nur mal das Hochzeitsfoto an, dieses lächelnde Miststück. Kein Konsonant, kein Diphtong, nur eines von 48 unterschiedlichen Lächeln. Wüsste man es nicht besser, könnte man glauben, das wäre ich. Euch allen zeige ich die kalte Schulter, verharre in einem inneren Gleichgewicht, so sanft und voller Ruhe, wie ein Winterhaiku, und beobachte die Störche, die hoch oben über den Meeren aus Raps, Disteln und Sonnenblumen segeln. Versprochen, ich beobachte nur die Störche. Wortlos, mir auf die Zunge beissend, jeden Tag mit einem anderem Lächeln, betrachte ich die Wanderung und Flucht der Störche.

Vincent E. Noel